Michael Burgholzer: Schreibtischtäter

Michael Burgholzer
Schreibtischtäter


Rinnsaler, dessen Firma die Ausschreibung für die Modernisierung der Kanalisation in der Berliner Kurfürstenstraße gewonnen hatte, durfte als zuständiger Bauleiter ein Zimmer im Sylter Hof vor Ort bewohnen. Aufgrund des schlechten Wetters und der schwierigen Bodenbedingungen gestalteten sich die Arbeiten äußerst mühsam. Rinnsaler fiel mehr als einmal spät abends todmüde ins Bett und schlief sofort wie der sprichwörtliche Stein. Einmal erhielt er dann einen Anruf seines Vorarbeiters, der ihm berichtete, dass direkt vor dem Hotel einer der Bagger mit seiner Schaufel auf etwas gestoßen sei, das er, Rinnsaler, sich vielleicht zuerst ansehen wolle, ehe sie es zur Seite räumten. Als der Bauleiter sich auf die Straße hinunter begab, empfing ihn der Vorarbeiter an der Bushaltestelle, die als Mahnmal für das Eichmann-Referat gestaltet war, das während der NS-Zeit an jenem Ort die staatlich organisierte Ermordung von Millionen Juden administriert hatte. Sie traten an den Schacht, den der Bagger im Laufe des vergangenen Tages ausgehoben hatte. Der Vorarbeiter leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die ruhende Baggerschaufel, neben der Rinnsaler zwei längliche, miteinander verbundene Pflöcke entdeckte, die ihn an die Beine eines Möbelstückes erinnerten. Der Bauleiter behielt recht. Seine Leute und er hätten den Fund bereits grob untersucht, sagte der Vorarbeiter, es handle sich wohl um einen Schreibtisch. Er bat seinen Vorgesetzten um Anweisungen, wie sie mit dem Tisch verfahren sollten. Rinnsaler, der schon bei früheren Grabungen merkwürdige Dinge zu Tage gefördert hatte, entschied, dass sie den Fund bergen sollten, am besten sofort, wenn noch Leute verfügbar wären. Ein wenig mürrisch forderte der Vorarbeiter über sein Mobiltelefon Verstärkung an. Wenig später erschienen zwei Kollegen, die in den Schacht sprangen und den Tisch mit Schaufeln endgültig freilegten. Zu dritt hievten sie ihn schließlich hinauf auf die Straße und stellten ihn in dem Buswartehäuschen ab, während Rinnsaler ihnen mit der Taschenlampe leuchtete. Der Bauleiter untersuchte das Möbelstück, das einen äußerst mitgenommenen Eindruck machte, was darauf schließen ließ, dass es lange Zeit im Erdreich verborgen gewesen sein musste. Es kostete Rinnsaler einige Mühe, die verschlossenen Schubladen und Fächer des Tisches mit der Klinge seines Fahrtenmessers aufzuhebeln. Während die drei Männer um ihn herumstanden, zog er vergilbte Papiere heraus, mit denen er nicht auf Anhieb etwas anzufangen wusste. Erst als er im Strahl der Taschenlampe zu lesen begann, erkannte er, dass es sich Namenslisten, Fahrpläne und Transportbefehle handelte, die alle die gleiche Unterschrift trugen. In einem der unteren Fächer des Tisches entdeckte Rinnsaler schließlich einen schmalen Ordner mit Schwarzweißfotos, die einen Mann von vorne und im Profil von links und rechts zeigten. Als Rinnsaler kurz aufblickte und die Aufnahmen mit denen an dem Mahnmal an der Bushaltestelle verglich, fiel ihm auf, dass auf allen Bildern der selbe Mann zu sehen war. In diesem Augenblick wurde dem Bauleiter bewusst, dass sie den Schreibtisch Adolf Eichmanns gefunden hatten. Für Rinnsaler war sofort klar, dass er jetzt rasch handeln musste. Er fragte die Männer, ob sie außer ihm schon jemandem von dem Fund erzählt hatten. Alle drei verneinten. Rinnsaler griff zu seinem Mobiltelefon und rief Scherbel an, einen ihm bekannten Berliner Hehler, dem er vertraute und der ihm früher schon behilflich gewesen war, nicht deklarierte Funde aus Baustellengrabungen gewinnbringend zu veräußern. Scherbel war sofort hellwach, als Rinnsaler ihm erklärte, worum es ging. Er benötige bloß zehn Minuten, sagte der Hehler, dann werde er zurückrufen. Scherbel hielt Wort. Alles müsse schnell gehen, sagte er, als er sich wieder meldete. Rinnsaler solle den Schreibtisch auf ein Fahrzeug der Baufirma laden und ihn umgehend zum ehemaligen Flughafen Tempelhof bringen, direkt zur Startbahn 27L. Rinnsaler stellte keine weiteren Fragen und sagte zu. Seine Männer wies er an, den Tisch auf der Ladefläche eines Pick-Ups zu fixieren, der im abgesperrten Baustellenbereich bereit stand. Er fuhr alleine los und erreichte wenige Minuten später das Gelände des ehemaligen Flughafens. In der Dunkelheit entdeckte er eine kleine, uralte Frachtmaschine, die gerade betankt wurde. Scherbel, der ihn bereits erwartete, sagte, dass sie sich beeilen müssten, damit sie unbemerkt wegkämen. Sie würden zu dritt fliegen, setzte er hinzu, sie beide, Rinnsaler und er, und der Pilot. Während sie den Schreibtisch vom Pick-Up hoben und ihn durch die geöffnete Frachtraumklappe am Heck ins Flugzeuginnere schleppten, fragte Rinnsaler Scherbel, wohin die Reise ginge. Sie flögen nach Israel, erwiderte Scherbel, dort hätte man größtes Interesse an Eichmanns Tisch. Als dieTanks voll waren, schlossen Rinnsaler und Kerbel von innen die Klappe am Heck. Das Kerosinfahrzeug entfernte sich. Bei ausgeschalteter Beleuchtung ließ der Pilot die Motoren an, löste die Bremsen und beschleunigte sofort ohne weitere Vorbereitungen. Sie gewannen an Fahrt, hoben ab, schwenkten auf einen südlichen Kurs und blieben in so geringer Höhe, dass sie vom Radar nicht erfasst wurden. Erst später, nachdem sie Deutschland und die Alpen unbemerkt überflogen hatten, stiegen sie über der Adria auf eine größere Reiseflughöhe. Bei ruhigem Wetter näherten sie sich im Morgengrauen ihrem Ziel Jerusalem. Auf dem Sinkflug etwa 30 Kilometer vor der Küste
traten allerdings plötzlich Probleme mit der Treibstoffzufuhr auf, die binnen Sekunden darin gipfelten, dass beide Triebwerke ausfielen. Sie schafften es nicht mehr bis zum Festland. Alle drei Männer sprangen im buchstäblich letzten Augenblick mit Fallschirmen ab und wurden noch in der Luft Zeugen, wie das herrenlose Flugzeug mit Eichmanns Schreibtisch an Bord im Sturzflug mit der Spitze voran ins Wasser eintauchte und sofort versank. Als Rinnsaler unmittelbar nach seiner Landung in den kalten Fluten des Mittelmeers in der Morgendämmerung die charakteristischen, markant geformten Rückenflossen auf sich zuschwimmen sah, schrie er um Hilfe und erwachte und stellte erleichtert fest, dass er sich im Bett in seinem Hotelzimmer im Sylter Hof befand. Während er sich das schweißnasse Nachthemd über den Kopf zog, wurde ihm bewusst, dass es nicht möglich war, die Lasten der Geschichte ruhen zu lassen, weder im Erdreich noch im Meer.


Michael Burgholzer
Geb. 1963 in Linz, selbständiger IT-Dienstleister, 4 Kinder, wohnt und arbeitet in Bürmoos, mehrere Literaturpreise und -förderpreise, zuletzt erschienen: „Meine Reise zu den Nashörnern
Österreichs“ (Kurzprosa), „108“ (Gedichte), zahlreiche Veröffentlichungen von Texten und Fotografien in Anthologien und Literaturzeitschriften („etcetera“, „Salz“, „Die Rampe“, „Krautgarten“,
„Sterz“, „Landstrich“, „silbende_kunst“, „Off-the-Coast“, „Der Dreischneuß“, „DUM“, „Seitenstechen“).