Turm / Etcetera 87 / Prosa / Gerald Jatzek: Vergnügen

Der Junge hat es nicht eilig auf dem Weg nach oben. Links und rechts überholen ihn Menschen auf der Treppe des Toboggan, dieser aus der Zeit gefallenen Attraktion auf dem Rummelplatz. Angestrengt fröhlich winken sie auf den Platz hinunter. Der Junge fixiert das dunkle Holz vor seinen Füßen.
Oben im Turm bemerkt er, dass er die Stufen nicht gezählt hat. Er könnte zurückgehen, aber der Vater würde den Vorwand durchschauen.
Von der Plattform fällt die Rutsche steil ab. Sie ist mehr Prüfung als Geschenk. Wenn er nicht feig ist, macht er den Vater stolz. Sie sind zu zweit, weil der Geburtstag ein Männertag sein soll. Der Vater hat sich freigenommen und wird die Zeit einarbeiten. Der Junge schämt sich, weil er nicht dankbar ist.
Die Eltern haben ein silbernes Prämiensparbuch, das man nicht so leicht bekommt. Ohne Überstunden geht sich das nicht aus. Man muss eben konsequent sein. So ist das Leben. Der Junge will nicht aus dem Holz des Vaters geschnitzt sein. Er hat Angst vor Höhen und träumt oft vom Fliegen. Wer soll so etwas begreifen?
Der Vater steht noch auf der Treppe. Die Aussicht ist eine Gelegenheit, das neue Objektiv auszuprobieren, damit es sich auch auszahlt. Es stammt aus einer Verlassenschaft und zeigt mehr, als man selbst sieht. Heutzutage machen sie so etwas gar nicht mehr.
Während er die Blende notiert, drängen Krähen an ihm vorbei, groß wie Menschen. Man merkt den Unterschied nicht gleich, denn viele halten den Kopf gebeugt und verstecken dabei den Schnabel vorne unter der Jacke. Lange nach dem Mai tragen sie die schwarzen Anzüge der Firmlinge, aber keine Schuhe. Jede hat eine weiße Nelke im Revers.
Flügel an Flügel treten sie auf die Plattform, beinahe gleichzeitig heben sie die Schnäbel.
„Der Sohn muss nicht der Sohn sein“, sagen sie im Chor. Der Junge hat nicht gelernt, in ihren Gesichtern zu lesen. Wenn das eine Zauberformel ist, wirkt sie nicht. Der Junge bleibt der Junge, der Turm bleibt der Turm. Das neue graue Jahr bleibt ebenfalls.
„Aber der Vater ist allweil der Vater” , fügt der Junge leise hinzu.
„So ist es“, antworten die Krähen und machen den nächsten Schritt. Ihre Krallen schaben über den Boden.
Im Zurückweichen stolpert der Junge und fällt auf den Leinensack, der vor Holzsplittern schützen soll. Auf dem Rücken liegend gleitet er durch die überhöhten Kurven, die den Schrecken vermitteln, aus der Bahn geschleudert zu werden, während die Konstruktion genau das verhindert.
Über dem Jungen kreist der Himmel, bis ihn der Auslauf wieder fixiert. In einem Holzverschlag kommt der Sack zum Stillstand.
Der Junge stemmt sich aus der Fahrrinne. Ein Helfer räumt den Sack zur Seite. Es wird keine Fotos geben, die etwas beweisen. Der Vater wird zufrieden sein, aber auch traurig, weil die Aufnahmen im Album fehlen werden.
Vor dem Ausgang weht der Wind kleine Staubwolken über schwarze Fetzen auf dem Boden. Der Junge erkennt zerrissene Jacken und Hosen. In den Bäumen lärmen die Krähen, und der Junge zieht das Hemd aus.
Der Vater kommt auf ihn zu, die Kamera vor dem Gesicht.
Es scheint, als würde er lachen.
Der Junge springt hoch und fliegt davon.

Gerald Jatzek
Geb. 1956, lebt als Autor und Musiker in Wien und auf Reisen. Er schreibt vorwiegend Kurzprosa, Lyrik und Texte für Kinder. 2001 erhielt er den Österreichischen Kinderlyrikpreis.