Bildende

Elliott Erwitt: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Der professionelle Amateur

 

Elliott Erwitt
Retrospektive

Kunst Haus Wien, Museum Hundertwasser
Pressekonferenz 13.06.12 zur Ausstellungseröffnung
Ausstellungsdauer: 14.06. bis 30.09.2012
In Zusammenarbeit mit Magnum Photos Paris
Kurator: Andreas Hirsch, Kunst Haus Wien

Mit dem US-Fotografen Elliott Erwitt führt das Kunst Haus Wien seine Ausstellungsserie von Fotografen der unabhängigen Fotografenagentur Magnum fort. Letzte Fotoausstellung (17.11.2011 – 26.02.2012) handelte von Gründungsmitglied Henri Cartier-Bresson. (Zur LitGes Kritik)

Es sind nicht nur der gleiche Wohnort und die Inspirationsquelle schlichtweg namens New York, weshalb man Elliott Erwitt als Woody Allen der Fotografie bezeichnet. Es ist vielmehr der ironisch humorvolle Blick auf die Menschen und die Stadt in der sie beide leben, erklärt Hans Patay, Direktor des Kunst-Haus-Wien, den sie gemein haben und der sie verbindet. Aber halt! Liest man ihre Biographien, haben beide einen Immigrationshintergrund und jüdisch-russische Wurzeln. Während Woody Allen 1935 bereits in NY/ Brooklyn als Allen Stewart Konigsberg mit deutschsprachiger Österreich-russischer Abstammung geboren wurde und dort aufwuchs, wurde Elliott Erwitt 1928 als Elio Romano Erwitz, Sohn russischer Einwanderer in Paris geboren und verbrachte seine Kindheit in Mailand. Nach einer kurzen Übersiedlung zurück nach Paris 1938, emigrierte die Familie 1939 schließlich in die USA. Es ist also nicht der europäische Humor, der sich in Erwitts Fotos manifestiert, wie Patay weiter bekundete, als vielmehr der so herrlich satirische und scharfe jüdische Blick, im Banalen die Komplexität wahrzunehmen und die Fähigkeit dabei eine liebenswürdige Sanftheit zu verströmen.

Muße und Kontemplation gehören zu Erwitts geheimem Erfolgsrezept. Als Fotograf und Journalist benötige man einfach das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, an und für sich keine komplizierte Sache… "First of all: you need to have access, and then: good luck!"

Es ist wohl dem US-Fotografen Robert Capa - einem der vier Magnum Gründungmitglieder - zu verdanken, dass Erwitt entdeckt wurde. Umso berührender das Foto Robert Capa's Mutter aus dem Jahr 1954 am Grab ihres Sohnes, der im selben Jahr in Thai-Binh im einstigen Französisch-Indochina, dem heutigen Vietnam, fiel. Capa selbst war Österreich-ungarischer Herkunft und immigrierte ebenfalls 1939 in die USA, wo er sich als Kriegsreporter einen Namen machte.

In dieser Ausstellung geht es nicht um Erwitts Auftragsarbeiten, als vielmehr um seine ganz persönlichen privaten Fotoserien, die er nebenbei verfolgte. Es ist eine Retrospektive seiner Schwarz-Weiß-Fotos der letzten 50 Jahre. Erwitt selbst bekundet seine Zwiespältigkeit zwischen Profession und Amateurfotografie, denn es ist nicht immer die perfekte Auftragsarbeit, die das beste Bild liefert. Am Beispiel der Familienfotos, die in Auftrag gegeben wurden, und den Fotos, die hier exponiert sind, verstehen wir, wovon Erwitt spricht. Da sind Aufnahmen zweier Familien aus den Jahren 1962 und 1963, die Familie ist noch nicht adjustiert oder schon wieder abgelenkt, sie schauen nicht mehr in die Kamera, wirken als ob der Fotograf nicht mehr vorhanden ist, sich selbst überlassen, ein Moment der natürlichen Intimität, der Moment, in dem die konstruierte und gestellte Situation kippt und den authentischen Augenblick einer Familie dokumentiert.

Erwitt gelangen viele meisterhafte Schnappschüsse: Z.B. die trauernde Jacky Kennedy bei der Beerdigung ihre Mannes in Arlington 1965, Castro inmitten von Komparsen, die weltberühmte Fotoserie bzw. Dokumentation der aufsehenerregenden Küchendebatte (Kitchen debate) 1959, als sich der einstige russische Präsident Nikita Chruschtschow und der damalige US-Präsidentschaftswahlkandidat Richard Nixon, der 1960 die Wahl gegen John F. Kennedy verlor, anlässlich einer US-Handels- und Kulturmesse im Moskauer Gorki-Park einer nationalistischen Prahlorgie hingaben.

Doch trotz Stars und Promiaufgebot konzentriert sich Erwitts Augenmerk auf die unbekannten, daher „unbedeutenden“, Menschen. Im Bewusstsein, dass sich die von ihm abgebildeten Personen eigentlich im Moment der Aufnahme in einer Opferrolle befinden, entwickelte er eine besondere Begabung für die schnelle Fotografie, den so genannten Schnappschuss. So entstand z.B. ein Foto, welches die Situation einer Straßenbeichte wiedergibt. Ein Pfarrer sitzt frontal sichtbar in seinem Beichtstuhl am Gehsteig, der Beichtende durch einen schwarzen Vorhang geschützt, um die Ecke die Menschenschlange der zur Beichte sich anstellenden Sünder. Einen Schritt daneben zwei Frauen im Tratsch vertieft. Geht es um eine Doppelbeichte oder wissen die beiden schon mehr als der Pfarrer? Erwitts Fotos leben von visuellen Widersprüchlichkeiten, von denen ein Fotograf nur träumen kann.

Doch Erwitt hat seine Aufmerksamkeit nicht nur dem Menschen, den Liebespaaren, Nudisten und Museumsbesuchern sondern auch dem Zirkus und Varieté und der Landschaft – wenige sind ohne Menschen – gewidmet. Die Ausstellung zeigt ebenfalls, wie Erwitt auf den Hund gekommen ist und welche Tricks er angewandt hat, um sie im richtigen Moment des Abdrückens,  zum springen zu bringen.

Begleitet wird die Schau mit ein paar privaten Kontaktabzügen wie Mutter und Kind (1953) aus der Serie „Family of Man“ (1955) oder Fotos von Okky Offerhaus, Fotomodell und Fotografin aus den 60er Jahren, mit der er liiert war. Die Ausstellung endet mit einem Trailer zum bald erscheinenden Dokumentarfilm über den legendären Fotografen und einem würdigen Großportrait, aufgenommen von Andreas H. Bitesnich (2006).

Eine sehenswerte Ausstellung, beschwingt und leicht bekömmlich, von der sich mancher Interessierte zugegeben mehr Hintergrundinformationen zu einzelnen Fotos erhofft hätte.
Im Shop gibt es dann allerdings erstklassige Bildbände.

Zur Homepage von Elliott Erwitt

Elliott Erwitt: Retrospektive. Rez.: Ingrid Reichel

Kirchner Heckel Nolde: Die Sammlung Werner. Rez.: Eva Riebler

Eva Riebler
Sammlerleidenschaft

 
Otto Müller:
Mädchen im Wald, um 1920
Pastell auf Papier
Albertina, Wien
Dauerleihgabe
Sammlung Werner
 

Kirchner Heckel Nolde
Die Sammlung Werner

Albertina, Wien
Pressekonferenz 31.05.12 zur Ausstellungseröffnung
Ausstellungsdauer: 01.06. bis 26.08.2012

Der private Sammler, bzw. die Sammlerin hat das Atout gegenüber der Öffentlichkeit, sich nicht rechtfertigen zu müssen, was er bzw. sie sammelt. 50 Jahre sammelte Irmtraud Werner im Stillen und vermachte die Werke kurz vor ihrem Tod ihrer Tochter. Sie war Ende des 2. Weltkrieges Sekretärin in der Galerie Wilhelm Grosshenning, die in Chemnitz bombardiert und zerstört wurde. 1951 ging sie mit Grosshenning nach Westdeutschland, da in der DDR die Fortsetzung des Kunstgroßhandels nicht möglich war. Der Kunsthändler pflegte in Düsseldorfer Kontakte zu den einst entarteten Künstlern und brachte diese wieder in die Museen und Sammlungen, vor allem Münchens, Essens, Düsseldorfs oder Bremens. Irmtraud Werner stand dem Ehepaar Grosshenning sehr nahe und bekam viele Jahre lang Bilder aus seinen Beständen als Geschenke zu Anlässen wie Taufe, Weihnachten oder Geburtstagen. Sie erweiterte ihre Sammlung nach ihrer Hochzeit, dem Ende der Tätigkeit in der Galerie, weiter mit Werken der Gruppe Die Brücke, da die Gründer ebenfalls in Chemnitz ihre Wurzeln hatten. Zur Taufe ihrer Tochter hatte sie bereits eines der schönsten Aquarelle Ernst Ludwig Kirchners bekommen.

 
Karl Schmidt-Rotluff:
Schreitender Bauer, 1922
Bleistift und Aquarell auf Bütten
Albertina, Wien
Dauerleihgabe
Sammlung Werner
 

Die Albertina sieht die 46 Dauerleihgaben der Erbin der kürzlich verstorbenen Irmtraud Werner dankbar als Ergänzung zum Albertina-Bestand aus der Zeit des Im- und vor allem Expressionismus. Gerade die Zeit 1907-1915, die Brücke-Zeit, war in der Sammlung Albertina bisher gering bestückt. Nun weist sie außer den Stillleben und Blumen-Gemälden und Zeichnungen eines Oskar Kokoschkas, Alexej von Jawlenskys, Paul Klees, Christian Rohlfs oder Karl Schmidt-Rottluffs, Tierdarstellungen Franz Marcs, Mädchen und Frauendarstellungen Ernst Ludwig Kirchners oder Otto Muellers, ausgesuchte Werke von Jean-François Millet, Paul Cézanne, Amedeo Modigliani, Akte von Henri Matisse und Pablo Picasso u.a. auf.

Dass wertvolle Gemälde aus der Künstlergemeinschaft Der blaue Reiter nun in der Kapelle der Albertina zu besichtigen sind, verdanken wir der Freundschaft Irmtraud Werners mit der Frau von Franz Marc und dem Sohn von Alexej von Jawlensky, Andreij Jawlensky. Ihre Sammlerleidenschaft dient nun dankenswerter Weise dem Kunstgenuss der Allgemeinheit. Ihre Sammlung beinhaltet hochkarätige Werke, dient keiner Problemstellung und ist keinem schlüssigen Plan verpflichtet sondern stiftet zum Gedankenaustausch mit bekannten Werken an.

Eine Ausstellung, kuratiert von Marietta Mautner Markhof, von 50 Jahre lang unveröffentlichter und unbekannter Werke und ein hervorragend gestalteter Katalog von bisher noch nie vervielfältigten Bildern erwarten die Besucher der Albertina.

Kirchner Heckel Nolde: Die Sammlung Werner. Rez.: Eva Riebler

Wunder: Ausstellung. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Von der Zwietracht zwischen Aberglaube und Wissen

 
Albert von Schrenk-Notzing:
Das polnische Medium Stanislawa P. mit breitem, fasrigen Ektoplasma, 1913.
© Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e. V. Freiburg i. B.
 
 

Wunder
Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Kunsthalle Krems
Pressegespräch: 02.03.1012, 10.30 Uhr
Ausstellung: 04.03. - 01.07.2012
Kurator: Daniel Tyradellis (Praxis für Ausstellung und Theorie)

 

 

 

 

 

 


Wunder
Kunst, Wissenschaft und Religion vom 4. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Hrsg. Daniel Tyradellis, Beate Hentschel, Dirk Luckow

Köln: Snoeck Verlag, 2011. 311 S.
ISBN 978-3-940953-90-2
Preis: 24,80.- Euro

Die Ausstellung Wunder ist eine Koproduktion der Kunsthalle Krems, der Siemens Stiftung und der Deichtorhallen Hamburg, wo vom 23.09.11 bis 05.02.12 bereits die Ausstellung zu sehen war. Da die Kunsthalle Krems kleiner ist, musste die Ausstellung im Konzept und in der Dramaturgie verändert werden. Schwerpunkt in Krems ist die Kunst, während in Hamburg das Wunder in Bezug zur Technik elementarer zur Geltung kam. Viele Objekte sind daher in Krems weggefallen. Dafür wurde ein österreichischer regionaler Bezug mit Werken u.a. von Erwin Wurm, Franz West und Gemälden aus dem der Donau gegenüber liegendem Stift Göttweig hergestellt. Die Ausstellung trägt einen interdisziplinaren Ansatz aus wissenschaftlichen, religiösen und kunsthistorischen Aspekten. Wie schon in der Schau Lebenslust und Totentanz (KH Krems 2010) liefert auch diese Ausstellung kein Gegenkonzept zur Moderne, sondern unterstreicht die Aktualität dieses Themas. So sollen sogar laut einer Umfrage über 50% der Deutschen an Wunder glauben, berichtet der Direktor der Kunsthalle Krems Hans-Peter Wipplinger beim Pressegespräch am Freitag, den 02.03.12. Unter anderem kam es durch die vielen Heilig- aber vor allem Seligsprechungen während des Pontifikats von Johannes Paul II zu einer Renaissance des Glaubens an einem göttlichen Eingriff.

 
© Katharina Sieverding:
Sonne um Mitternacht schauen,
SDO/NASA, 2010.

© Foto: Klaus Mettig, VBK, Wien 2012
 

Der Gedanke einer Ausstellung über Wunder kam ursprünglich von der Siemens Stiftung. Über zwei Jahre arbeitete die beauftragte Praxis für Ausstellung und Theorie, an der Realisierung, berichtet der verantwortliche Hauptkurator Daniel Tyradellis. Natürlich legte die Siemens Stiftung Wert auf den technischen Bezug. So war klar, dass für den Kurator das Wunder der Technik als aufgelegte Metapher erschien, Wunder als Schlüsselwort zwischen Transzendenz und abstrakter wissenschaftlicher Denkweise mit der Kunst als Vermittler oder 3. Instanz. So entsteht zwischen den Kunstwerken und den technischen Exponaten eine gegenseitige Befruchtung, die Berührungsängste zwischen Wissenschaft und Kultur zu überwinden helfen soll. Im Glauben an Wunder wird der Wunsch, die Grenzen der Realität zu überschreiten, offensichtlich, meint Tyradellis.

In seiner Einleitung im Katalog bezeichnet Tyradellis Wunder als Öffnung zur Welt, denn dies zeige ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Wunder bieten ein reichlich unübersichtliches Feld. Das Wunder habe seine vermeintliche Unschuld verloren, sinniert Tyradellis, spätestens ab dem Zeitpunkt, in denen trotz wissenschaftlich-technischer Errungenschaften Katastrophen und Unheil nicht abgewendet werden konnten.

Dabei ist es nicht unerheblich zu wissen, dass noch bis vor dem 19. Jahrhundert, Wunder nur im Zusammenhang mit Katastrophen zu sehen waren, als eine Information bzw. Mahnung von Gott an die Menschen, die einen falschen Weg eingeschlagen haben.

 
Markus Hofer:
Pink Soup, 2011

© Privatsammlung
Foto: Alexander Chitsazan
 

Um der diffizilen und komplexen Definition des Wunders gerecht zu werden, hat man die Schau in Krems in acht Bereiche gegliedert. So wurde das Wunder in Bezug auf Gemeinschaft und auf neue Errungenschaften, als mediales Ereignis, die Zerrissenheit des Menschen in Ratio und Anima, zwischen fingierter Zauberei und der Sehnsucht nach unbekannten Kräften und Energien, die Zwietracht in den verschiedenen monotheistischen Kulturen um die Bilderverehrung als Glaubensvermittlung oder der kapitalistischen Gesellschaft, die als polytheistisch gilt (Gott des Geldes, Gott des Konsums, Gott des Filmes…), gestellt. Werke von insgesamt 41 Künstler und Künstlerinnen hat man Devotionalien und Votivbilder, Objekte des Alltags (Bsp. Sammlung von Pokémon-Karten; Sammlung von Zustimmungspostakarten zu einem Uri Geller Experiment im Fernsehen der 70er Jahre; Kinder Zauberkasten des Enkels von Goethe, 1830)…), Symbole der Superlative (Helm von Hermann Maier; Szepter der Uni Wien 1558; Taktstock des Dirigenten Daniel Barenboim 2010), Zeugen der Technik (stark deformierter Originalkopf der Brennkammer einer A4/V2 Rakete 1942-45) gegenübergestellt.

Persönliche Hightlights der Ausstellung sind die Flugblätter aus dem 16.-18. Jahrhundert und eine (schändlich!) moderne Kopie auf Leinwand des Turiner Grabtuchs (2006), welches das Stift Göttweig aus Italien erworben hat. Man könnte meinen der Skurrilität sei keine Grenze gesetzt. In einer kleinen Vitrine sind Schluckbilder aus Salzburg und Mariazell (um 1820) präsentiert. Sie sind in der Größe einer Briefmarke und tatsächlich zum Verzehr gedacht gewesen, schützten vor Krankheit und Dämonen, förderten die Gesundheit und die Hoffnung…

So beginnen jene Objekt in Kombination mit den Kunstwerken, selbst zu wahren Schätzen zu werden. Auch scheint das Kunstwerk von der wunderbaren Magie anzuziehen, wie zum Beispiel die "Orgonkiste bei Nacht" (1982) von Martin Kippenberger und Albert Oehlen. Dabei beziehen sich die beiden Künstler auf die von dem Psychiater Wilhelm Reich (1897-1957) entwickelte Orgontherapie, welche durch Orgonenergie - eine primordiale kosmischen Energie - erfolgte. Kippenenweger und Oehlen legten schlechte Bilder in die Kiste, die durch Akkumulation über Nacht in große Meisterwerke verwandelt werden. Es ist direkt ein Wunder, dass die 1982 entwickelte Kiste nicht zum Topprodukt avanciert ist!

 
© Helmut & Johanna Kandl:
Gospa (Medjugorje)
aus: O Maria Hilf, 2011
 

Hervorzuheben ist der Anteil zahlreicher Videos von Künstlern, die im Großteil als Dokumentationen zu bewerten sind und nur durch ihren Zusammenschnitt und ihre Präsentation als Kunst interpretiert werden können. Sie tragen in dieser Vorführung von Wundern zum entscheidenden emotionalen Faktor bei. Als Beispiel allen voran: Helmut und Johanna Kandler mit ihrem imposanten 15 minütigen Video "O Maria Hilf", das auf vier Leinwänden synchron verschiedene Aspekte zum katholischen Wunderglauben zeigt, nämlich der Wahlfahrt, der Verzückung, der Hoffnung und des lukrativen Geschäfts mit Devotionalien.

Die Ausstellung ist völlig wertfrei und parteilos gestaltet und strebt einen dokumentarischen Charakter an, der den Zwiespalt zwischen der Rationalität und der Irrationalität aufzeigt. Auch der umfassende und ansprechende Katalog zur Ausstellung bleibt dieser Strategie treu. Durch die ausgezeichneten Essays vermittelt sie einen noch profunderen Hintergrund zum Thema Wunder. So befasst sich z.B. der polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman in seinem Artikel mit dem Gebrauch und Missbrauch der Wunder und der Wiener Philosoph Robert Pfaller entlarvt in seinen Gedanken über "Die Erschwernisse des Staunens" die Hochkonjunktur der Wunder als Krisensymptom. Einziger Kritikpunkt zum Katalog sind die fehlenden biografischen Daten der Autoren, die in einer Neuauflage unbedingt ergänzt werden sollten.

Letztendlich bleibt es dem Besucher und Leser überlassen, sich eine Meinung über Wunder zu bilden. Die Balance zwischen Ehrfurcht und Unverständnis gegenüber dem Gezeigten macht die sonderbare Mischung aus, die Geist und Witz verströmt und den Besucher beschwingt die Kunsthalle verlassen lässt.

Eine ergiebige Ausstellung für die man sich Zeit nehmen sollte, um auch die Informationen zu den jeweiligen Werken und Schaustücken zu lesen.

Desweiteren begleitet ein umfangreiches Programm die Ausstellung. So war noch vor der offiziellen Ausstellungseröffnung die Künstlerin und Friedensaktivisten Yoko Ono, der Tags zuvor am 01.03.2012 in Wien der Oskar-Kokoschka-Preis für ihr künstlerisches Gesamtwerk überreicht wurde, am Freitag Abend vor der Ausstellungseröffnung bei einer Benefizpreview in der Kunsthalle Krems mit einer Performance zu sehen. Am Freitag, den 20. April findet eine Podiumsdiskussion mit dem Philosophen Meinhard Rauchensteiner, dem ehemaligen Präsidenten der islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich Anas Schakfeh, dem Kunsthistoriker Gustav Schörghofer und dem Kurator der Ausstellung Daniel Tyradellis statt. Am Freitag, den 11. Mai findet eine Lesung über das Wunder der Literatur aus Werken u.a. von Kurt Tucholskys "Lourdes" und Max Frischs "Homo Faber" statt. Parallel zur Ausstellung zeigt das Kino Kesselhaus (www.kinoimkesselhaus.at) das Wunder aus der Perspektive des Films. Auch wurde im Programm auf die Jüngsten der Besucher nicht vergessen.

Mehr unter: www.kunsthalle.at/kunsthalle-krems/veranstaltungen/aktuell

Wunder: Ausstellung. Rez.: Ingrid Reichel

Anselm Kiefer: Werke aus der Sammlung Essl. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DER ARCHÄOLOGE DER ZUKUNFT

 
   
 

ANSELM KIEFER
Werke aus der Sammlung Essl

Essl Museum, Galerien, Klosterneuburg
Pressegespräch: 02.02.1012, 10.30 Uhr
Ausstellung: 03.02. - 29.05.2012
Kurator: Karlheinz Essl sen.
Organisation: Günther Oberhollenzer, Anna Szöke

Zur Ausstellung erschien ein zweisprachiger (deutsch-englisch) Katalog:
ANSELM KIEFER
Werke aus der Sammlung Essl
Hg. Essl Museum

Klosterneuburg: Edition Sammlung Essl, 2012. 138 S.
Ins Englische: Susanne Watzek
ISBN 978-3-902001-65-8
Preis: 25.- Euro

Seit beinahe zehn Jahren sammelt das Ehepaar Essl Werke von Anselm Kiefer, einem der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Künstler der Nachkriegszeit. Zu diesem Ereignis schlüpfte der Hausherr selbst in die Rolle des Kurators und eröffnete mit Kiefer die erste Ausstellung des Jahres 2012 im Essl Museum. Zum Werk sprach Peter Iden, der mit Anselm Kiefer schon viele Ausstellungen durchgeführt hatte und den man daher als Kenner seines Œuvres schätzt. Der Künstler selbst ließ sich entschuldigen. Die Ausstellungsvorbereitungen für die Schau ArtandPress im Martin-Gropius-Bau Mitte März in Berlin, für die er eine große Installation vorbereitet, befinden sich im Endspurt.

 

Anselm Kiefer: The Fertile Crescent, 2009.
Mischtechnik auf Leinwand. 330 x 762 x 7 cm.
© Anselm Kiefer
Fotonachweis: Ulrich Ghezzi courtesy Galerie Thaddaeus Ropac Paris • Salzburg

 

Diese Ausstellung sei etwas anders als gewohnt, verspricht Essl im Pressegespräch, verlangen Kiefers überdimensionale Werke doch viel Platz, benötigen viel Freiraum, um sich nicht gegenseitig zu konkurrieren. Essl legte Wert darauf, dass die Werke mit der Architektur des Hauses in Einklang kommen und verzichtete daher auf jegliche Chronologie in der Behängung, die alleine große Professionalität voraussetzt. Das größte Werk wurde auf einem Gerüst auf Rollen montiert und diagonal vor eine Ecke aufgestellt. Es ist ein vierteiliges Gemälde mit insgesamt 7,62 m Länge und 3,3 m Höhe und trägt den Titel The Fertile Crescent - Fruchtbarer Halbmond (2009).

Ehepaar Essl fand ziemlich spät zu den Werken des renommierten Künstlers. Erst 2003 überzeugten sich Karlheinz und Agnes Essl von Kiefers Schaffen mit einem Besuch in seinem einstigen Atelier in Barjac in der Region Languedoc-Rousillon in den Cevennen in Südfrankreich, das Kiefer 1993/1994 bezog. Der Weg zur stillgelegten Seidenfabrik La Ribaute am Gipfel eines Hügels ist umsäumt von Marterl ähnlichen Glasobjekten, Werken Kiefers, und mündet in eine 35 ha große Fabriklandschaft mit Lastwagen und Kränen mitten in der Einschicht, erzählt Essl angetan von seiner ersten Begegnung mit Kiefer. Mittlerweile lebt Kiefer auf einem Werkgelände außerhalb von Paris.

 

Anselm Kiefer:
Horlogium (Sternenfall)
, 2003.
Öl, Emulsion, Acryl auf Leinwand mit Gipspflanzen;
Bleibücher, Karton, Metall und Glas.
280 x 500 x 32 cm
© Anselm Kiefer
Fotonachweis: Stefan Fiedler – Salon Iris, Wien

 

In dieser Schau zeigt Essl mit den in den letzten zehn Jahren entstandenen Werken des Allround-Künstlers einen guten Überblick seines Schaffensprozesses der letzten Jahre.
Das Werk, das Essl als erstes von vielen kaufte, war Horlogium und dürfte damals frisch entstanden sein, denn es ist mit dem Jahr 2003 datiert. Es ist ein 5 m langes und 2,8 m hohes Gemälde aus Öl, Emulsion auf Leinwand mit Gipspflanzen. Seit seiner Übersiedlung nach Frankreich haben sich Kiefers Werke verändert, schreibt die Kunsthistorikerin Mela Maresch in ihrer Bildbeschreibung im Katalog über Horlogium. Das Werk gehört einem Bilderzyklus an, welches Kiefer dem britischen Philosophen Robert Fludd, der die Idee vertrat, jede Pflanze auf Erden sei in einem Sternenbild zu erkennen, widmete. Die Farben, die Natur der frz. Region und die Weite des Himmels inspirieren Kiefer noch heute. Die Gestaltung des Universums wurde zu seinem Thema.

Die Namensgebung Horlogium (Pendeluhr) entlieh Kiefer einem Sternbild des Südens. Kiefer sieht beim Betrachten der Sternbilder die Willkür des Erfindens wachsen. Eigenmächtig zieht Kiefer seine eigenen Sternbilder und erlebt dabei die Sinnschaffung und den Schöpfungsakt. So vermag der Künstler Kosmos, Materie, Raum und Zeit in Einklang bringen. Einem Zitat von Kiefer nach, seien wir Menschen mit der ersten Explosion (Urknall) geboren. Daher bestünden wir aus Elementen des Kosmos. Wir trügen in uns das Unendliche, das unendlich Kleine wie auch das unendlich Große. So versetzt sich Kiefer in den Mikro- und den Makrokosmos.

Dabei ging es Kiefer zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn noch um ganz andere Dinge ...
Anselm Kiefer wurde 1945 am Ende des 2. Weltkriegs im Luftschutzkeller eines Krankenhauses in Donaueschingen (Baden-Württemberg) geboren. In Freiburg in Breisgau begann er 1965 mit dem Studium der Rechtswissenschaften, Romanistik und Literatur (1965-1970) und widmete sich zugleich der bildenden Kunst in Breisgau bei Peter Dahrer und in Karlsruhe bei Horst Antes (1966-1968). Seine Abschlussarbeit löste einen Skandal aus und stieß auch unter den Professoren auf Ablehnung. Sie bestand aus einer fotografischen Dokumentation einer Performance unter dem Titel Besetzungen. Diese stellte er 1969 in Form eines Zyklus von acht Gemälden nach den Fotos in Karlsruhe aus.

Für diese Fotodokumentation besuchte Kiefer verschiedene Länder Europas (Schweiz, Holland, Frankreich, Italien) und führte dort gekleidet in Front-Uniform seines Vaters den Hitlergruß aus. Kiefer äußerte sich zu dieser Arbeit: „Ich muss ein Stück mitgehen, um den Wahnsinn zu verstehen“ und: „In diesen ersten Bildern wollte ich mich selbst fragen: Bin ich faschistisch? Es ist eine sehr schwerwiegende Frage. Man kann darauf nicht auf die Schnelle antworten. Das wär ja einfach. Autorität, Konkurrenzgeist, Überlegenheitsgefühle […], all das gehört zu meiner Persönlichkeit, wie zu jedem Menschen.“ (Quelle Wikipedia: Interview mit Anselm Kiefer von Steven Henry Madoff, In: Art News. Bd. 86, Nr. 8, Oktober 1987)

Der Skandal verhalf ihm zwar zu einem gewissen Bekanntheitsgrad, jedoch mit negativen Vorzeichen. Kiefer setzte sein Kunststudium bei keinem geringeren als Josef Beuys in Düsseldorf fort, der die kritischen Absichten Kiefers nicht in Zweifel stellte.
Auch der 1938 in Polen geborene deutsche Kunstkritiker und Essl Ehrengast Peter Iden hatte seine Probleme mit Kiefers Frühwerk und Wirken und verfasste einst eine negative Kritik. Mittlerweile hätte er einen anderen Zugang zu Kiefers Werk gefunden und verstehe sein damaliges Ansinnen, erzählt er während der Pressestunde. Dennoch blieb man im Museum bedeckt. Es wurde nicht erzählt, worum es wirklich ging. Die gesammelten Werke sind, wie schon erwähnt aus den letzten zehn Jahren und auch im Katalog fehlt in der Biografie jeglicher Hinweis auf Kiefers Ansinnen gelebte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Das Tabu der braunen Vergangenheit hing wie ein Damokles Schwert in der Luft.

Kiefer ist ein Kind der 68er Generation. Gleichaltrige sympathisierten mit der RAF oder blieben bieder angepasst ohne zu hinterfragen. Im Gegensatz zu Österreich, hat die Rezensentin das Gefühl, dass in Deutschland das aufgearbeitet wurde, was es zu aufarbeiten galt. Kiefer gehört zu der nicht aggressiven selbsttherapeutischen Liga. Er ist der Auffassung, dass die Kunst, die aus einem traumatisierten Volk entspringt, Heilung bringen könnte. Laut Iden sei Kiefers Rückblick verheerender als Beuys', da absolut kein utopischer Glanz zu verspüren sei.
Die Vergangenheit ist für Kiefer ein endloser Fundus. Er der sich mit der deutschen Geschichte, ihren Mythen und Geistesgrößen befasst(e), sagt von sich selbst: "Meine Biographie ist die Biographie Deutschlands."

 

Anselm Kiefer:
Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang
, 2011.
Öl, Emulsion, Acryl, Schellack und Blei auf Leinwand.
380 x 560 x 30 cm
© Anselm Kiefer
Fotonachweis: Ulrich Ghezzi courtesy Galerie Thaddaeus Ropac Paris • Salzburg

 

In den 80er Jahren setzt er sich mit der Kabbala auseinander. Weitere Einflüssen unterlag er durch seine ausgedehnten Reisen in Europa, USA und den Mittleren Osten. Hierbei entstanden auch Aquarelle und Holzschnitte. Kiefer behauptet sich ebenfalls als Skulpteur, vor allem hat es ihm das Material Blei angetan.

Es entstehen mit Vorliebe aus Blei gegossene Flugzeuge, Schiffe und Bücher, die er u.a. auch in seinen Gemälden montiert oder als Skulptur oder Gesamtinstallation für sich stehen lässt. Charaktereistisch in seinem Werk sind Schriftzüge von Menschen, Sagengestalten oder geschichtsträchtige Orte. Dabei spielen Werke von Paul Celan und Ingeborg Bachmann eine herausragende Rolle.

Kiefers Gemälde sind nicht nur komplex an Inhalt, sondern auch schwer im Materialgehalt. Er verarbeitet Ölfarben en gros. Bis über 5 cm dicke pastos aufgetragene Schichten dieses edlen Malmaterials, verströmen noch nach Jahren einen aufregenden und betörenden Geruch der Ölfarbe. Beinahe orgastisch wirken sie in ihrer Konstellation: ihre Größe, ihre lehmige, erdige, nur scheinbar naturbelassene Erscheinung. Und dann, kaum fühlt man sich in Geborgenheit dieser Architektur oder Landschaft, durchkreuzt, wider jeder Kompositionslehre des Goldenen Schnitts, ein völlig zentral in das Tafelbild montiertes und eingewebtes Objekt, zerstört die Zweidimensionalität, geht in den Raum, ergreift uns in ihrer Dreidimensionalität und erzählt seine Geschichte, für jeden Betrachter, für jeden Kopf eine eigene.

 

Anselm Kiefer:
Für Paul Celan
, 2005.
Öl, Emulsion, Acryl, Kohle, Bleistift und Gips auf Leinwand.
190 x 280 x 50 cm
© Anselm Kiefer
Fotonachweis: courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, Paris

 

Seine Bleiskulpturen sind von gigantischem Ausmaß. Das schwerste Objekt in Essls Sammlung wiegt 3 Tonnen, vermutlich: Skulptur mit Sternen aus dem Jahr 2003 (Bleibücher, Karton, Metall, Glas). Trotz Kiefers schwergewichtiger Kost an Geschichte oder universeller kosmischer Betrachtung ist sie eine durchwegs positive Kunst. Wie Iden bemerkt, die Frage nach der Wahrheit nimmt alle Elemente in Anspruch und werden in einem offenen System zusammengefügt. Niemals sei der Tod die Antwort. Die Wahrheit, wie wir sie uns wünschen würden, gibt es schlußendlich nicht. Für Kiefer gibt es die Vorstellung der Gegenwart nur durch die Vergangenheit. Er "ergräbt" sie sprichwörtlich mit seinen Werken: Nur rückblickend gewinne ich Zukunft. Auch wenn Kiefer Schmerzen verursacht, so vereint er sie mit der Schönheit der Natur und der Bejahung zum Leben.

Zur Ausstellung erschien ein querformatiger Katalog der 15 ausgestellten Werke. Der bekannte Kunsthistoriker Wieland Schmied schrieb einen ausführlichen Essay zu Kiefers Œuvre. Zu jedem Werk gibt es eine Bildbeschreibung. Werkverzeichnis, Bio- und Bibliographie sowie eine Ausstellungsliste sind am Ende des Katalogs zu finden. Leider fehlen jegliche biografische Angaben zu den Verfassern der Texte und die sich innenseitig befindliche Paginierung ist kontraproduktiv. Dennoch ein ausgezeichneter Katalog mit hochqualitativen Fotos der Werke zu einer sehr empfehlenswerten Ausstellung.

LitGes, Februar 2012

 

Weiterer empfehlenswerter Katalog zum Gesamtœuvre Anselm Kiefers:
ANSELM KIEFER
Daniel Arasse
 
München: Schirmer/ Mosel Verlag, 2007. 344 S.
ISBN 978-3-8296-0275-4

 

 

Anselm Kiefer: Werke aus der Sammlung Essl. Rez.: Ingrid Reichel

Der Kompass im Auge: Henri Cartier-Bresson. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DER MEISTER DES SCHNAPPSCHUSSES IN WIEN

 

DER KOMPASS IM AUGE:
Amerika – Indien - Sowjetunion
Henri Cartier-Bresson

Kunst Haus Wien, Museum Hundertwasser
Pressegespräch: 16.11.2011, 10.30 Uhr
Ausstellung: 17.11.2011 – 26.02.2012
Kurator: Andreas Hirsch
Ausstellung in Kooperation mit Magnum Photos und der Fondation Henri Cartier-Bresson

Henri Cartier-Bresson, ein Name, dessen Klang die Herzen höher schlagen lässt, Henri Cartier-Bresson ist in Wien! Natürlich nicht er selbst, denn Cartier-Bresson - das internationale Auge, wie man ihn nannte - wurde 1908 geboren und verstarb 2004.

Der französische Reise- und Fotojournalist hat jedoch an Aktualität nichts eingebüßt, seine Werke sind Zeugen seines Engagements, seiner Rastlosigkeit, seiner Präsenz und Authentizität. Cartier-Bresson revolutionierte nicht nur die Fotografie im Zusammenhang mit dem Journalismus, er setzte sich auch für die Stellung des Fotografen ein, indem er eine Agentur mit dem Namen Magnum Photos 1947 gründete, die die Fotografen von der Bittstellung gegenüber den Zeitungen und Magazinen befreite. Ein großes Stück Unabhängigkeit für ein Metier, das im Dienste des Journalismus stand und für sich noch keinen künstlerischen Anspruch stellen konnte. Die Agentur stand Pate, um die Rechte der Fotografen zu erstreiten.

Cartier-Bresson, der von einer wohlhabenden industriellen Firma abstammte - die Bresson-Werke sind in Frankreich heute noch bekannt für ihre Produktion von Garn, Zwirn und Stickfaden – hatte nicht vor die Familiengeschäfte zu führen. Was er für die Fotografie an Pionierarbeit leistete, begann mit Familienrebellion. Er interessierte sich für die Kunst, vor allem für den Surrealismus, und studierte zunächst ein Jahr Malerei beim Kunsttheoretiker und Kubisten André Lothe in seiner académie rue d’Odessa. Nachher begann er sich für die Fotografie zu interessieren und startete seine Reisen quer um die Welt. Bereits 1933 stellt er seine Fotografien in der Julien Levy Gallery in New York aus. Seine Werke gehen von da an in die Richtung der dokumentarischen und antigrafischen Fotografie. Es folgten Tätigkeiten als Regieassistent und Regisseur. Berühmt wurde Cartier-Bresson durch seine Fotografien, die die Befreiung von Paris von den Nazis 1945 dokumentierten und den Dokumentarfilm Le retour (Die Rückkehr) über die Repatriierung von Kriegsgefangenen und Inhaftierten.
Sein erstes Buch Images à la sauvette (Der entscheidende Moment) erschien 1952 und deklariert ihn als Meister des Schnappschusses.

Im Pressegespräch erzählten Andrea Holzherr, die Vertreterin der Agentur Magnum Photos in Paris und Marco Bischof, Präsident der Magnum Foundation Frankreich was für ein Mensch Cartier-Bresson war. Beide konnten ihn persönlich kennenlernen und bei der Arbeit assistieren. Bischof, dessen Vater ein Kollege von Cartier-Bresson war und mit ihm eine Seelenverwandtschaft teilte, durfte Cartier-Bresson als Fünfzehnjähriger bei Fotoaufnahmen durch die Schweiz begleiten. Bischof beschreibt ihn als tänzerischen Fotografen, der ohne klassische Fotoausrüstung nur mit seiner Leica bestückt sich auf die Pirsch nach Motiven machte. Die Liebe zur Leica wurde ihm oft als Spleen nachgesagt. Doch die Laica war eine relativ kleine Kamera, die er gut in der Hand verstecken und für seine überraschenden Schnappschüsse einsetzen konnte. Entscheiden für Cartier-Bresson war das Abdrücken im richtigen Moment, nicht die Dunkelkammer, bekundet Bischof. Seine Arbeit widmete er den Menschen, sein Interesse galt dem, was Leute denken, so studierte Carier-Bresson das Leben, meint Bischof. Cartier-Bresson hatte die wunderbare Gabe am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt zu erscheinen. So war er bei Mahatma Gandhi kurz bevor dieser ermordet wurde. Seine Portraitaufnahmen sind niemals gestellt und zeigen enorme Authentizität der Charaktere bekannter sowie unbekannter Gesichter.

Cartier-Bresson war sein Leben lang Anhänger der Schwarz-Weiß-Fotografie. Ursache darin lag die schlechte Druckqualität der Farbfotografie von einst, beantwortete Holzherr meine Frage nach den Farbfotografien von Cartier-Bresson, die Ausnahmeerscheinungen blieben wie ein Buch über Frankreich oder Auftragsarbeiten für Zeitschriften.

Als Andrea Holzherr Cartier-Bresson traf war sie 30 und er bereits 80. Er war einfach, hatte aber alles auf den Punkt gebracht. Er war ein Mensch mit sehr viel Energie, mit starken moralischen Ansprüchen und einem scharfen Auge, beschreibt Holzherr Cartier-Bresson. Er hat sich mit 60 aus den Tagesgeschehen herausgenommen, wohl kleine Aufträge angenommen, aber sich vor allem seinem Fotoarchiv gewidmet. Im Zuge der Revisualisierung überprüfte er einzelne Werke auf ihre Essenz. Aus Furcht schlechte Fotos könnten ausgestellt werden, errichtete Cartier-Bresson eine eigene Stiftung, erzählte Holzherr.

Der Direktor des KunstHauses Franz Patay erklärt, dass eine Retrospektive der Werke von Cartier-Bresson die Räumlichkeiten des Museums sprengen würde. So beschränkte man sich auf Reisen in Länder, die Cartier-Bresson wiederholt in einer spannenden Zeit besucht hatte: Amerika, Indien und die Sowjetunion. Der Spanische Bürgerkrieg, die ersten Konflikte nach dem 2. Weltkrieg in Korea, die Zeit des Kalten Krieges und die gewaltfreie Bewegung, die Indien in die Unabhängigkeit führte. Cartier-Bresson reiste bedacht mit langen Vorbereitungszeiten, erklärt Patay, dafür fotografierte er im entscheidenden Augenblick rasch.

Wenn man zu Lebzeiten das Auge des Jahrhunderts genannt wird, läuft man Gefahr auf Weniges reduziert zu werden, erläutert der Kurator der Schau Andreas Hirsch, so bliebe Vieles unbekannt. Die Ausstellung zeigt, wie Cartier-Bresson die bereisten Länder politisch beobachtete. Sie zeigen auch Cartier-Bressons Faible fürs Paradoxe. Der Hang zum Surrealismus hatte ihn nie verlassen. 214 Fotos aus fünf Jahrzehnten aus drei höchst verschiedenen Ländern füllen bis zum 26. Februar 2012 die Räumlichkeiten des KunstHaus Wien. Nicht versäumen! Ein Muss für Fotofreunde!

Im Shop sind zwei empfehlenswerte Kataloge erhältlich:

Henri Cartier-Bresson. Sein 20. Jahrhundert: Hg. Peter Galassi
München: Verlag Schirmer/ Mose &  The Museum Of Modern Art NY, 2010. 276 S.
ISBN 978-3-8296-0391-1

Henri Cartier-Bresson. Der Schnappschuss und sein Meister: Clément Chéroux
München: Verlag Schirmer/ Mosel, 2008. 160 S.
ISBN 978-3-8296-0377-5

LitGes, November 2011

Der Kompass im Auge: Henri Cartier-Bresson. Rez.: Ingrid Reichel