Philosophie

19. Philosophicum Lech. Neue Menschen. Berichte: E. Punz & E. Riebler-Übleis

19. Philosophicum Lech 16. bis 20. September 2015
Zum Thema "Neue Menschen"


Für die LitGes waren Ernst Punz und Eva Riebler-Übleis vorort.

Nach einem Vorabendprogramm mit Geschichten aus dem alten Griechentum über Prometheus und den neuen Prometheus, erzählt von Michael Köhlmeier und anschließend philosophisch reflektiert von Konrad Paul Liessmann, startete am Donnerstag, dem 17.9. das Magna-Impulsforum und die festliche Eröffnung durch BM Ludwig Muxel, LH Markus Wallner, BMin. Josef Ostermayer und Vizekanzler Reinh. Mitterlehner. Anschließend referierte Dieter Althaus, Vice-Pres. Gov. Aff. Magna Europe über die Herausforderung Mobilität, die Massenproduktion, die sich wieder den Individuen anpasst, und die Kontrolle von Datenströmen.

Vortrag „Neue Menschen! Bilden, optimieren, perfektionieren.“ Konrad Paul Liessman
Initiator und wissenschaftl. Leiter des Philosophicums, Prof. f. Methoden der Vermittlung v. Philosophie und Ethik UNI Wien 
Mit Fragen zur Optimierung des Körpers bereits vor der Geburt und Entwürfen zum perfekten Körper beginnt Liessmann seine Einführung. Statt traditionellen Schulungs- und Anpassungskonzepten dominieren nun Formeln, die den Menschen als zu optimierende Humanressource sehen. Dass die genetische und biologische Optimierung, von der nicht nur die Bildungspolitik träumt, kaum gelingt, mag tröstlich sein, denn den technischen Utopien sind Grenzen gesetzt. Vor allem gibt es stets ein Überbieten: so werden die Mensch-Maschine- Mischwesen (die Cyborgs) von der Vision transhumaner Wesen, sei es eine digitale Identität des Menschen oder eine, die aus den von Menschen entwickelten Robotern entstehen, überboten. Liessmann schließt mit der Frage, wie realistisch die Ablösung des Menschen durch von ihm geschaffene perfekte Entitäten sei und der Feststellung, dass der Mensch anscheinend schon immer ein „Nichtmensch“ (siehe Frankenstein etc.) sein wollte. E. R-Ü.
 

Vortrag „Die Rückkehr des Prometheus” Bernward Gesang
Lehrstuhl f. Philosophie/Wirtschaftsethik UNI Mannheim 
Der zentrale Begriff für die Verbesserung eines gesunden Menschen heißt Enhancement. Durch diesen ergeben sich Vorteile bei Jobs und Partner, Erfindungen und Wirtschaftsleistung. Sogar (Zitat) „Weltverbesserer könnten auf mehr Moral, weniger Aggression, weniger Gewalt etc. hoffen”. Ethische Probleme und Gefahren, die bestehen, sind die Umkehr von Verbesserungen in ihr Gegenteil. Es drohen Schäden an Geist und Körper sowie der Verlust von Identität. Das Motto „Macht euch die Erde untertan” hat Vor-und Nachteile. Mehr Wohlstand - aber unsere Ökologie ist aus dem Gleichgewicht geraten. Sozialen Fragen, die sich durch das Enhancement stellen: Nichtverbesserte könnten nicht mehr konkurrieren. Durch vererbbare Verbesserungen kann dramatische Ungerechtigkeit entstehen. Eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft droht, neue erbliche Aristokratie könnte sich etablieren, der soziale Friede wäre gefährdet. Allgemeine Verbesserungen könnten zu große Ähnlichkeit der Menschen und damit negative Folgen für den Arbeitsmarkt bringen. Die Antwort lautet: „Being different is beautiful”. Eine Chance besteht im kompensatorischen Enhancement. Man könnte damit die Ungerechtigkeit der „natürlichen Lotterie” ausgleichen. Die Chancengleichheit würde sich vergrößern. Wer solche Hilfe wünscht, sollte sie erhalten, solange man auf die sozialen Folgen schaut. E.P.

Vortrag „Bildung vs. Enhancement” Thomas Damberger
Wissenschaftlicher Mitarb. Goethe-Universität Frankfurt 
Mit einem Zitat des Medizin-Ethikers Eric T. Juengst grenzt Damberger Human Enhancement vom Begriff der Therapie ab. Therapie ist, wenn ein kranker Mensch bei der Gesundung unterstützt wird. Wird ein Gesunder mit Mitteln verbessert, handelt es sich um Human Enhancement. Über den Begriff der „Idee“ bei Plato und dem „Göttlichen Seelenfunken“ bei Meister Eckhart führt Damberger zum Renaissance-Humanisten Giovanni Pico della Mirandola. In diesem sehen führende Transhumanisten, die den Menschen mit Technologie überwinden wollen, den Urahnen ihrer Ziele. Für Pico besteht die Würde des Menschen darin, dass er von Gott zwar als unfertiges und unabgeschlossenes Wesen geschaffen, jedoch mit Schöpferpotenzial ausgestattet wurde. Durch Verbesserung bzw. Vervollkommnung soll eine Einheit mit der Idee bzw. Gott (=Vollkommenheit) erreicht werden. Im 18. Jahrhundert setzte ein Bildungsschub ein. Leibeigene Bauern wurden frei und drängten in die Städte. Die Handwerke in den Städten hatten ihre größere Unabhängigkeit von Natur und Witterung genutzt, Werkzeuge und Geräte weiterentwickelt und konnten nun mehr produzieren. Dazu benötigten sie zusätzliche Arbeitskräfte. Da die Konkurrenz groß war, mussten sich die nunmehrigen Arbeiter weiterbilden und somit den eigenen Marktwert verbessern. Die verhalf ihnen zu höherem Lohn. Nun konnten sie an der Gesellschaft teilnehmen und mitgestalten. Heute muss der Mensch künftige Entwicklungen voraussehen. Als Beispiel kann die Digitalisierung herhalten. Digitalisierung ist eine radikale Form der Bildung und bedeutet zugleich eine Extremform des Human Enhancement. Die Digitalisierung ist eine extreme Form der Zerstörung und Neugestaltung der Welt in Einsen und Nullen. Der Mensch tritt als Schöpfer auf, kann aber unglücklicherweise nicht Teil dieser Schöpfung werden, denn sein Körper hindert ihn. Der Robotiker Hans Moravec schlägt daher die Methode Gehirnemulation vor, das entspricht dem heutigen Uploading. Sollte es tatsächlich gelingen ein menschliches Gehirn digital zu erfassen, könnte man es auf ein künstliches Gehirn übertragen. Eine weitere Erfassung des Menschen in Zahlen erfolgt bereits durch Selbstmessung mit Hilfe von Fitnessarmbändern, z.B. für Herzschlag, Kalorienverbrauch und Schlafphasen. Der nächste Schritt ist dann die Selbstoptimierung. Es geht um Selbsterkenntnis durch Zahlen, die jedoch nur messbare Dinge heranzieht. Einem solchen Denken wohnt eine Gefahr inne. Es verstellt die Tatsache, dass der Mensch ein offenes, nicht begrifflich und eben auch nicht zahlenmäßig erfassbares Wesen ist. Mit einem Wort von Adorno folgert Damberger, dass, wenn wir das Phänomen Human Enhancement (Selbstdigitalisierung und Selbstverbesserung) bedenken und durchdenken, wir einen Blick für das Unfassbare und den Wert dieses Unfassbaren entwickeln. Obwohl der Mensch nach einer Definition von Humboldt fremdbestimmt ist, kann er Entscheidungen treffen und sich somit in der Welt entwerfen. Diese Welt muss aber eine menschliche sein. Über den Weg der Bildung könnte, so meint Damberger, auch Human Inhancement zur Menschlichkeit führen. E.P.

Vortrag „Akklimatisierung. Versuch einer thermalen Anthropologie“ Eva Horn
Prof. f. Neuere Deutsche Literatur u. Kulturtheorie UNI Wien
Horn wollte mit ihrem Vortrag, wie sie sagt, unterhalten und die Natur, die Kulisse der Berge Lechs, den Teilnehmern näher bringen, was jedoch eindeutig misslang. Der Mensch sei in die geologische Geschichte der Erde eingeschrieben und je mehr er sich emanzipiere, umso mehr verstricke er sich in ihr. Dass von der Antike bis ins 19. Jhdt. das Klima anthropologisch wirkte und somit für bestimmte Charaktere der Bewohner herhalten musste, mag historisch interessieren, aber für den „neuen“ Menschen – für das Thema des Philosophikums, wohl unbedeutend sein. Viel interessanter war schließlich das Verhältnis von Air-Condition und Abkapselung von der Aussenwelt, ein echter Bezug wurde jedoch außer durch das Beispiel aus dem Buch La possibilité dúne ile von Houellebeqc nicht erörtert. Die letzten Zeilen des Vortrages hätten wohl die ersten sein müssen, damit ihren Inhalten mehr Zeit gewidmet hätte werden können: Und zwar der Ästhetik des Raumes, der Qualität eines Ortes – sei sie durch den Menschen geformt oder nicht - und der damit verbundenen intensiven leiblichen Erfahrung und dem Gespür von Stimmungen und Emotionen... E.R-Ü.

Vortrag „Utopische Technologien in technologisierten Gesellschaften“ Sascha Dickel
Wissenschaftssoziologe Technische UNI München 
Zu Beginn des Vortrages ging Dickel auf die Ambivalenz der bekannten Zukunftsvision des Cyborg als Repräsentant des Transhumanismus ein. Der Transhumanist baut eine Brücke zum posthumanen Cyborg-Nachfolger, der natürlich noch mehr Fähigkeiten aufweist. Problematisch erscheint es mir, dass der Technische Direktor von Google - Ray Kurzweil – als mächtiger Mann eine so intensive Tendenz der Nanotechnisierung des Menschen durch Implantate, verbunden mit dem Internet, rund um die Uhr befürwortet. Dickel hingegen befürwortet eine wissens- und kultursoziologische Beobachtung der Beobachter anderer. Er weiß, dass die Zukunftsvisionen welche der Gegenwart sind und nicht statt finden müssen, also spekulativ sind, jedoch viel aussagen über die utopisch aufgeladene Gegenwart. Zusätzlich interessant waren Dickels Ausführungen über die Romantisierung und Traditionsgebundenheit des Begriffes Natur. Die Natürlichkeit symbolisiert Vertrautheit. Jedoch die biokonservativen Schwärmer werden als Ignoranten der Technikwelt angesehen. Hier fehlt vielleicht ein Zwischenglied, ein Sowohl-als-auch-Denken, wie ich meine. Dickel jedenfalls sieht jedoch im Vergleich zu Ray Kurzweil die Vor- wie Nachteile, die möglichen neuen Lasten und Unfreiheiten! E.R-Ü.

Vortrag „Welchen Menschen wollen wir? – Zur Ethik der Verbesserung des Menschen” Johann S. Ach
Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Geschäftsführer des Centrums f. Bioethik der Westfälischen Wilhelms-UNI Münster.
Ach nähert sich dem Thema auf semantischem Weg: Verbesserung- Handlungen sind nicht notwendiger Weise Optimierungs- oder Perfektionierungs-Handlungen. Als Optimierungs- oder Perfektionierungs-Handlungen lassen sich solche Verbesserungs-Handlungen bezeichnen, die auf einen bestimmten, vorab definierten Endzustand ausgerichtet sind. Ob es sich bei Enhancement-Maßnahmen auch um Optimierungsund Perfektionierungs-Handlungen handelt, hängt davon ab, ob man annimmt dass es ein Optimum des Menschen gibt, ein benennbares Endziel oder einen Zielzustand der Verbesserung des Menschen“. Die semantische Analyse des Ausdrucks „Verbesserung“ hilft zu verstehen, warum mit unterschiedlichen Begriffen von Enhancement operiert wird. Ob es die „Natur des Menschen” zu bewahren oder zu verändern/ zu gestalten gilt, ist hochgradig umstritten. Ach bezieht sich auf Eric Parens, der zwischen zwei Human Enhancement- Lagern unterscheidet. VertreterInnen des gratitude framework nehmen ein essentielles, wahres Selbst des Menschen an. Die VertreterInnen des creativity framework gehen von der Idee einer autonomen Selbsterschaffung des Menschen aus. Im Weiteren stellt Ach fest, dass es einen gravierenden Unterschied macht, ob das Objekt der Verbesserungs-Handlung der eigene Körper ist oder der Körper eines anderen, etwa eines Ungeborenen oder eines Kindes. Es macht einen Unterschied, ob man über pharmakologische Substanzen oder über Gehirn-Computer-Schnittstellen spricht. Es gibt keine allgemein gültige Antwort, es gilt „enhancement by enhancement“. Ein Unterschied besteht auch, ob es sich um kompetitive oder non-kompetitive Verbesserungs-Handlungen handelt. Selektive Zugangsmöglichkeiten und soziale Ungleichverteilungen können zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führen. Es muss zwischen freiwillig und unfreiwillig unterschieden werden, z.B. Verbesserungs-Handlungen von Eltern an Ungeborenen oder unmündigen Kindern. Erwachsenen Personen könnten von Arbeitgebern oder Versicherungen Verbesserungs- Handlungen aufgezwungen werden. Ein wesentlicher Unterschied besteht bei den sogenannten moderaten und radikalen Verbesserungs-Handlungen. Letztere könnten durch ein Auseinanderdriften der menschlichen Gesellschaft zu Diskriminierung und Unterdrückung führen. Nach einer Reihe weiterer Unterscheidungen schließt Ach mit vier Thesen: 1. Um zu verstehen, was Verbesserungs-Handlungen sind, muss man die verschiedenen semantischen Dimensionen des Verbesserungsbegriffes in den Blick nehmen. 2. An einer „case-by-case-Analyse” führt kein Weg vorbei. 3. Verbesserungsmaßnahmen müssen das „Recht auf eine offene Zukunft” von Ungeborenen und von Kindern achten, das Recht auf Selbstbestimmung respektieren, die Freiheitsspielräume Betroffener nicht über Gebühr einschränken, und keine gravierenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten verursachen. 4. Eine kollektiv verstandene Pflicht zur Verbesserung des Menschen lässt sich schwerlich begründen. Letztlich bliebe sie eine Pflicht unter anderen. Eine Reihe von Pflichten, die wir im Hinblick auf globale Herausforderungen von Klimawandel, Weltarmut oder Flucht und Migration haben, stehen auf sehr viel weniger tönernen Füßen. E.P.

Vortrag „Das Streben nach Exzellenz im Sport – Perfektionierung des Menschen durch Doping?” Claudia Pawlenka
Privatdozentin am Institut Philosophie der UNI Düsseldorf
Durch seinen immanenten Steigerungsimperativ „schneller, höher, weiter“ könnte der Sport ungewollt Vorreiter für den Einsatz von Gentechnologie und anderer Zukunftstechnologien werden und damit zur Bühne für den „neuen Menschen“. Andererseits ist der Sport der bislang einzige Bereich, in dem eine Begrenzung der ungehemmten Leistungssteigerung durch das Dopingverbot stattgefunden hat. Die umstrittene bioethischen Frage ist daher, ob der Sport zum Präzedenzfall für andere Enhancement-Bereiche werden kann. Der Sport eine Sonderwelt? Die Spielregeln erschaffen ein Spiel, in dem sie Spielzeit, Spielraum, Spielziel, Spielhandlungen usw. definieren. Die Spielregeln grenzen damit den Sport aus der Lebenswelt aus. Wir akzeptieren die Begrenzung der prinzipiell verfügbaren Mittel, da diese die sportliche Handlung überhaupt ermöglicht. Sport ist der freiwillige Versuch, nicht-notwendige Hindernisse zu überwinden. Perfektionierung des Menschen durch Doping? Nicht die gemessene Leistung als solche ist von anthropologischem Wert, sondern nur unter der Berücksichtigung seiner Entstehungsbedingungen, das heißt, durch wen und wie er zustande gekommen ist. Die Dopingregel ist somit Spielregel und verdeutlicht den internen Zusammenhang zwischen Spielregeln und Spielziel bzw. Spielergebnis. Die Beschränkung auf die körpereigenen Mittel ist folglich ein grundlegendes Merkmal des Sports. Die Folgenlosigkeit sportlicher Leistungen, die keinem lebensweltlichem Zweck dienen, idealisiert und überhöht nämlich zugleich die menschliche Leistung. Der sportliche Wettkampf inszeniert das anthropologische Drama der Leistungserbringung. Mut, Hingabe, Selbstüberwindung, Gewinnen und Verlieren. Den Sport kennzeichnet als einzigen Leistungsbereich eine Ästhetik des Scheiterns. Er ist eine Sonderwelt, da er durch Spielregeln erzeugte fiktive Welt ist. Der Sport ist andererseits jedoch auch ein Spiegel der Gesellschaft und insofern gerade keine Sonderwelt, da er ein Symbol für herausragende menschliche Leistungen durch Fleiß und Begabung ist. Es stellt sich die Frage, was Perfektion und Vollkommenheit in einer Alles-Könner-Welt per „Upload“ oder Hirnchip noch bedeute? Eine vollkommene sportliche Leistung setzt die Anerkennung einer intrinsischen Obergrenze durch Respektierung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen voraus. Ein rein quantitatives Verständnis der sportlichen Leistung, das diese natürliche Obergrenze durch den Einsatz von Doping oder Gendoping unterläuft, zielt gleichsam „ins Leere“, das heißt, lässt keine Vollkommenheit zu. Aufgrund der Zwecklosigkeit sportlicher Handlungen kann der Sport wie kein anderer Bereich zeigen, dass schneller, höher und stärker noch keine besseren Leistungen sein müssen. Eine technische Zurichtung des Menschen mit dem Ziel einer rein quantitativen Steigerung würde also keine Perfektionierung oder Verbesserung bedeuten. „Enhancement-Society“ oder „Doping-Gesellschaft - Der Sport ein Wegweiser? Der Sport kann zum Nachdenken über den Sinn einer ungehemmten Steigerung und insofern als Wegweiser dienen. In der gesellschaftlichen Diskussion um die Normierung und Legitimierung neuer Wege oder Formen des Menschseins kann er jedoch nicht „federführend“ sein. Transhumanistische Visionen „neuer Menschen“ und die Diskussion um „Converging Technologies“ haben eine tiefgehende anthropologische Dimension und machen Selbstverständigungsprozesse notwendig. Es kann auch keinen sportlichen Alleingang in Fragen der Perfektionierung des Menschen geben. Der Sport kann kein „museales“ Anliegen vertreten, das heißt kein Naturreservat für den Homo sapiens oder gentechnisch unveränderten Menschen in einer transhumanisierten Gesellschaft sein. Im Sport wird unsere Leiblichkeit kultiviert und in den Vordergrund gestellt. Gerade bei Fragen nach dem guten oder glücklichen Leben kann der Sport mit seinem ganzheitlichen Blick auf den Menschen ein wichtiges Korrektiv auf dem Weg zu einer technizistischen Entwicklung des Menschen sein. E.P.

Vortrag „Parahumanität. Technisches Handeln, Teilsouveränität und andere Tücken“ Karin Harrasser
Prof. für Kulturwissensch. Kunst UNI Linz,

MitHG der Zeitschrift für Kulturwissenschaft (am Foto mittig) Harrasser referiert äußerst interessant über die erste Hälfte des 20. Jhdts., das schon viele Zukunftsversionen des modernen technisierten Menschen hervorgebracht hat. Zukunftsszenarien haben oft Fluchcharakter, doch es gilt der Wahrnehmungsoptimierung eines farbenblinden Neil Harbisson wie den Paralympics Tribut zu zollen. Die Enhancement-Debatte ist aufgebrochen – man denke an die Teilnahme eines Oscar Pistorius mit künstlichen Füssen – also einem zeitgenössischen Cyborg - an den Olympischen Spielen Peking 2008. Sehr beeindruckend war der gezeigte Werbespot acht englischer Paralympics, die mit stolzer, kraftvoller Miene ihr heroisches Selbstverständnis darstellten. Ihre körperliche Fehlerhaftigkeit bzw. Andersartigkeit wird durch besonders hohe Technikaffinität ausgeglichen. Sie werden zu Menschen 2.0. Ihr Ethos ist das der Selbstverbesserung. Die Technologien sind nicht nur funktional, sie werden zu Artefakten, welche Einbildungskräfte anregen und den Körper dabei verwandeln. So wie ein Pfau mit besonders langen ihn behindernden Schwanzfedern als besonders fit gilt = Handicap-Theorie von Amotz und Zahavi. Anschließend führt Harrasser weitere sehr interessante Beispiele für Aktivitätsverbesserung durch Technik an und möchte den Begriff „Kohumanität“ statt posthuman vorschlagen. Weiters findet sie zielgerichtet vier Thesen zum Körper, seiner technischen Modifikation, deren ethischen Vertretbarkeit, Fragen über positive und negative Rechte aller Beteiligten unterscheidbar. Sie fordert, in Zukunft müssten noch mehr Protokolle installiert werden und Entscheidungshilfen vorhanden sein. Abhängigkeiten und Verbindungen zwischen technischen und organischen Akteuren müssen beobachtbar und analysierbar sein! Teilsouveränes Handeln und nicht vereinzeltes, voluntaristisches Entscheiden sei zu idealisieren! E.R-Ü

Vortrag „Transhumanistische Ethik: Annahmen, Ideale und Implikationen“ Anne Siegetsleitner
Prof. f. Praktische Philosophie UNI Innsbruck, Präsidiumsmitgl. D. Ö. Gesellsch. für Philosophie und der Society for Women in Philosophy Austria, MitHG der Reihe „Angew. Ethik“
Siegetsleiter holte zu keiner umfassenden Kritik des Transhumanismus aus, sondern vermengte die Begriffe Ethik und Transhumanismus ohne wirklich Grundlegendes klar zu stellen. Etwas naiv lässt sie stets andere – meist Bostrom - formulieren: „Why I Want to be a Posthuman When I Grow up“ Titel T. Bostrom 2008. Sie meint genauso unreflektiert, „dass es im Transhumanismus um Stimmungen und Emotionen geht, bei denen unser subjektives Glücksempfinden bisher von einer vorgegebenen genetischen Ausstattung bestimmt werde. Dies könnte durch entsprechende Psychopharmika unter Kontrolle – hoffentlich der eigenen – gebracht werden.“ Hic! Weiters meint die Referentin, dass die transhumanistische Ethik „offen für Neues“ sei! Was sonst?, fragt sich da der Zuhörer. Zitat: „Positiv geht mit der transhumantischen Ethik eine grundlegende Offenheit für Neues einher. Sie macht sich Gedanken –(seit wann denkt die Ethik?!) - über neue Entwicklungen und bringt in mancherlei Hinsicht eine optimistische, anpackende Einstellung zum Ausdruck. Mut und Wagnis werden positiv gesehen.“ Hic! Die Schlussbemerkungen waren leider auch nur in einem einzigen Satz persönlich gehalten, der da lautete, dass die Flüchtlingsströme der vergangenen Tage die Aufmerksamkeit der Dringlichkeitsdebatte des Transhumanismus entzogen hatte.

E. R-Ü.

Vortrag „Humangenetik – quo vadis?“ Markus Hengstschläger 
Prof. für medizinische Genetik an der Medizinischen UNI Wien, Mitglied zahlr. nat. und internat. Verbände, Kommissionen und Gesellschaften
2014/15 ist ein wichtiges Jahr, denn es ändern sich die Möglichkeiten der Gentechnik wesentlich, kann man doch von exogener nun auf endogene Genetik übergehen! D.h. nicht mehr das Erbgut eines einzigen Patienten genetisch verändern – sondern sich in die Genetik der kommenden Generationen unwiederbringlich und ohne Wissen auf den weiteren Verlauf einschreiben, so Hengstschläger. Das Hauptproblem ist nicht nur der spätere fragliche klimatische Aufenthalt des Menschen (das Klima stellt andere Anforderungen, man denke an Malaria) mit veränderten Genen, sondern auch der zukünftige unbekannte Partner mitsamt seinen 25 000 Genen und dessen Auswirkung auf das veränderte Erbgen. Endogene-Fremdoptimierung des Menschen geht nie wieder zurück, so warnte Hengstschläger eindringlich. Gott sei Dank sind in Österreich Eingriffe in die Keimbar (Samenzelle vom Vater und Eizelle von der Mutter) verboten, denn niemand kann ein Parameter erstellen: Was ist gesund, was ist krank. Was ist Durchschnitt und was ist bereits Enhancement? In der letzten sehr angeregten Diskussionsrunde des Philosophicums warnt Hengstschläger außerdem vor Mehrheitsübereinkunft. Denn „Ethik hat mit Mehrheiten nichts zu tun!“ E. R-Ü

Vortrag „Zwischen Perfektionierung und Meliorisierung – Menschenbilder aus theologischer Sicht“ Dietmar Mieth
Prof. em., Dr. theol., UNI Erfurt, Leiter der Forschungsstelle Meister Eckhart
Kurz zusammengefasst seine ethische Kriterien: Für die Wissenschaft gilt gegenüber der Gesellschaft das Transparenzgebot. Das schließt ein, dass auch über Stagnation, Rückschritt und Misserfolg informiert wird. Ferner muss darüber im Einzelnen informiert werden, dass jeder Fortschritt im Wissen auch ein Fortschritt in der Nichtwissenskenntnis ist. Wer mehr weiß, weiß auch in der Wissenschaft mehr darüber, was er genauerhin nicht weiß. Das Gebot einer präzisen Sprache: In der Wissenschaft sollte Forschung nicht mit Hilfe von Werbesprache vermittelt werden. So ist der Ausdruck Therapie fehl am Platz, wenn es in Wirklichkeit keine Therapien gibt. Er instrumentalisiert die Hoffnungen von Kranken, ohne sie einlösen zu können. Gefordert ist die Verträglichkeit mit Menschenwürde und Menschenrechten, im Einzelnen: Überlebensverträglichkeit, Freiheitsverträglichkeit, Gesundheitsverträglichkeit, Verträglichkeit mit der Ausbildung selbstbestimmter Identitäten, Sozialstaatsverträglichkeit, Umweltverträglichkeit. Das Prinzip der Folgenbewertung könnte so lauten: Man soll Probleme nicht so lösen, dass die Probleme, die durch die Problemlösung entstehen, größer sind als die Probleme, die gelöst werden. Dieses Kriterium mag einen mehrfach strittigen Diskurs auslösen. Man wird ihm aber zustimmen, wenn man bei der Nutzung der Atomenergie einsieht, dass von Anfang an Probleme sichtbar waren, deren Lösung man nicht sehen konnte. Die Verlangsamung des einzelnen ethisch prekären Fortschrittes zugunsten der ethischen Reflexion, aber auch zugunsten genauerer Erkundung der Umsetzbarkeit, der Verflechtungen, der Folgen ist immer wieder erforderlich. Es scheint so zu sein – z.B. in der Gentherapie und bei den Stammzellen aus Embryoderivaten – dass die angekündigten Erfolge sich entweder nicht so schnell oder eingeschränkt gegenüber den Erwartungen einstellen. Verlangsamung steht einerseits im Dienst der Präzision und der Realistik, andererseits im Dienst der gesellschaftlichen Reflexion. Die Bevorzugung rückholbarer oder zumindest partiell revidierbarer Manipulationen an der Natur und am Menschen. Mit einer solchen Liste von Points to consider werden zunächst Normen im Vorhinein festgelegt. Sie bedürfen des ethischen und gesellschaftlichen Diskurses. Sofern die Demokratie die Beteiligung aller an den sie betreffenden Entscheidungen sucht, muss diesem Diskurs immer wieder Raum geschaffen werden, ohne diesen Raum durch Präjudize der Macht des Verbundsystems Wissenschaft – Technik – Ökonomie zu beschränken. E.P.

si!kommunikation/alle Fotos©Florian Lechner

19. Philosophicum Lech. Neue Menschen. Berichte: E. Punz & E. Riebler-Übleis

18. Philosophicum Lech; Schuld und Sühne; Berichte: Gertraud Artner

18. Philosophicum Lech
Schuld und Sühne

Berichte von Gertraud Artner

Donnerstag, 18. September 2014
Karlheinz Töchterle

(Innsbruck/Wien):
Wo beginnt die Schuld, wo endet die Sühne?
Am Beispiel Ödipus

Die Geschichte des König Ödipus nimmt Töchterle zumindest in den Grundzügen als bekannt an: Wie vom Orakel in Delphi vorhergesagt, tötet Ödipus seinen Vater und heiratet seine Mutter, unwissend, dass es seine Eltern sind. Er zeugt mit seiner Mutter zwei Söhne und zwei Töchter und regiert Theben mit umsichtiger Hand, bis die Stadt von einer Seuche heimgesucht wird. Wieder gibt das Orakel Auskunft, dass zur Überwindung der Seuche erst der Mörder von Laios (Ödipus Vater), der durch seine Anwesenheit die Stadt beflecke, vertrieben werden müsse. Ödipus macht sich auf die Suche nach dem Mörder, also nach sich selbst. Als er das Ausmaß des Schreckens erkennt, begeht seine Frau/Mutter Selbstmord, er sticht sich mit einer Fibel ihres Kleides die Augen aus.

Insbesondere die griechische Mythologie, berichtet der Altphilologe, ist voll von Verwandtenmorden und Inzest. Die Dominanz der Ödipus-Geschichte begründet Töchterle durch zwei herausragende Gestaltungen bzw. Nutzungen von zwei Autoren im Abstand von fast zweieinhalb Jahrtausenden, durch Sophokles und Sigmund Freud. Das Entscheidende bei Ödipus ist, dass er seine Verbrechen an Vater und Mutter in Unkenntnis der Personen begeht. Im Gegensatz von Sein und Schein, von „Sehen versus Nichtsehen“ liegt ein Leitmotiv der Tragödie. Auf der Suche nach dem Laiosmörder, nach ihm selbst , verkündet ihm der blinde Seher Teiresias, Ödipus sei jetzt, da er sich sehend wähne, blind, später aber werde er, geblendet, sehen. Der Held scheitert demnach nicht aus Böswilligkeit, er fällt einer Fehleinschätzung zum Opfer. Worin besteht dann seine Schuld? Als Erklärungsansatz bietet sich sein „unbedingtes Wissenwollen“ an. Töchterle führt aus, dass Ödipus „ähnlich wie Prometheus als Repräsentant des westlichen, aufklärerischen Menschen gesehen werden (kann), dessen Wissbegierde auch vor der Selbstzerstörung nicht haltmacht, der also gerade im und durch das Vertrauen auf seinen Intellekt scheitert.“  So ist die Tragödie auch durchaus als Warnung vor menschlicher Überheblichkeit zu verstehen, sich selbst an die Stelle der Götter zu setzen.

Festzuhalten ist, dass Ödipus keine moralische Schuld zukommt, dennoch ist er durch seine Taten befleckt. Im zweiten Ödipusdrama stellt Sophokles die Entsühnung des Befleckten dar. In Kolonos geht der Held „begnadigt“ von dieser Welt, er wird zum verehrungswürdigen Heros. Zwar war zu Zeiten Sophokles die Allmacht der Götter unzweifelhaft, das Handeln des Menschen aber dennoch nicht dadurch determiniert und von ihm selbst zu verantworten. Entscheidend ist, dass der Held nicht den Freitod wählt, sondern einen „langdauernden Tod“ für sich findet. So wird der Befleckte zum Erlöser der verseuchten Stadt, indem er lebend in die Verbannung geht, nimmt er alle Pestübel mit sich. Mit dem Sündenbock-Ritual vollzieht Töchterle einen aktuellen Bezug zur Gegenwart.

Für Freud wird der Ödipusmythos zur wesentlichen Grundlage seiner Erkenntnisse in „Traumdeutung“ (1900) und noch eindrücklicher in „Totem und Tabu“(1912/13). Den Wunsch nach Tötung des Vaters und sexueller Vereinigung mit der Mutter konstatiert er nicht nur bei Psychoneurotikern, sondern generell auch bei sog. normalen Kindern. Abschließend meint Töchterle: „Die Schuld an Vatermord und Mutterehe, die Sophokles dem Ödipus genommen hatte, kehrt jedenfalls über verdrängte Triebe so wieder zu ihm (und zumindest zu allen Männern!) zurück.“

Die emphatische Zustimmung des Auditoriums ist nicht nur den Ausführungen des Philologen, sondern auch seiner für viele zu kurzen Tätigkeit als Wissenschaftsminister geschuldet.

Freitag, 19. September 2014
Katharina Lacina

(Wien):
„Der Hauslehrer“ von Michael Hagner
Nachdem der Vortrag „Götter, Gene und Gehirne“ des Züricher Philosophen Michael Hagner abgesagt werden musste, spricht die Philosophin Lacina über dessen Buch „Der Hauslehrer. Sexualität, Kriminalität und Medien um 1900“ (2010) und liest Abschnitte daraus vor.

Beleuchtet wird das Verbrechen/die Schuld des 23jährigen Jus-Studenten Ferdinand Dippold. Er arbeitete bei der Bankiersfamilie Koch als Hauslehrer und wurde 1903 in Bayreuth angeklagt, einen der Söhne misshandelt und totgeprügelt zu haben. Seine Rechtfertigung lautete, dass er dem Jungen „das Laster der Onanie“ auszutreiben versuchte. Das Urteil betrug acht Jahre Haftstrafe.

In ihren Kommentaren skizziert Lacina das Sittenbild der Zeit um die Jahrhundertwende: Masturbation wurde als Krankheit eingestuft, nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch medizinisch höchst gefährlich. Die körperliche Züchtigung war fester Bestandteil der Erziehung. So gesehen könnte man im Fall Dippold von einem bedauerlichen Unfall sprechen, der Hauslehrer war einfach zu streng. Diese Verharmlosung des Geschehens ließ allerdings die Presse, die den Prozess begleitete, nicht zu. Sie entwickelte eine regelrechte Medienhetze gegen Dippold, der als Bestie und Sadist beschrieben wurde. „Dippoldismus“ stand bald
als Synonym für Sadismus. Im Zuge der Pressekampagne gelang ein Umschwung der öffentlichen Meinung, das sexualmoralische Verdikt der Öffentlichkeit richtete sich nun klar gegen den Hauslehrer.

Lacina weist auf die einflussreiche Rolle der Medien schon damals, Anfang des 20. Jahrhunderts hin. Bedauerlich sei, dass Dippold nie einer Psychoanalyse unterzogen wurde – weder vor noch nach dem Prozess. Die Prozessakte blieben geschlossen. Auch bei Freud, der in diesen Jahren seine wichtigsten Theorien formulierte, findet sich kein Hinweis auf den Fall.


Michael Schefczyk
(Lüneburg):
Verantwortung, Schuld und historisches Unrecht
Zutiefst beunruhigend empfindet der deutsche Philosoph den Untertitel des diesjährigen Philosophikums „nach dem Ende der Verantwortung“ und erinnert an Martin Walsers erschreckenden Vergleich mit der „Moralkeule“. Vielmehr „müsse „das Verständnis von persönlicher Verantwortung auf den Stand hochkomplexer Gesellschaften gebracht“ werden.

Schefczyk untersucht den Umgang der Deutschen mit ihrer historischen Schuld durch die Verbrechen der Nazi-Zeit und bedient sich der zentralen moralischen Implikationen des Philosophen Karl Jaspers, der diese bereits 1946 in seinem Schlüsselwerk „Die Schuldfrage“ formulierte.

Am Beispiel des Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höß, das der Referent ausführlich darstellt, wird der generelle Mangel an Schuldbewusstsein offenkundig. Höß fühlte keinerlei persönliche Verantwortung, sein Handeln sei moralisch gesehen nicht strafwürdig gewesen, da nicht der Befehlsempfänger, sondern der Befehlende zur Verantwortung zu ziehen sei. Der oberste Befehlshaber hatte sich aber durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. „Ein Völkermord ohne Verantwortliche“, konstatiert Schefczyk. Er zitiert Jaspers, der 1945/46 in Deutschland eine Stimmung vorfand, „als ob man nach so furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet werden müsste, aber nicht noch mit Schuld beladen werden dürfte“.

Andererseits warnt Schefczyk, von einer Kollektivschuld der Deutschen zu sprechen und damit die gesamte Bevölkerung zu kriminalisieren. Auch das wäre totalitäres Denken. Um die Frage nach individueller Schuld überhaupt erst zu ermöglichen, sei eine Differenzierung der Schuldtypen erforderlich. Jaspers unterscheidet zwischen moralischer, politischer, krimineller und metaphysischer Schuld.

Die kriminelle Schuld betrifft Verbrechen, wie sie im Nürnberger Statut definiert werden. Bemerkenswert ist – wieder zitiert der Vortragende Karl Jaspers- , dass Teile der deutschen Bevölkerung sich durch den Prozess stigmatisiert fühlten. „Es sei gerade die gedankenlose Identifikation mit den Verbrechern, die bewirke, dass sich die deutsche Bevölkerung durch den Prozess mitangeklagt fühle. Wenn sie diese Identifikation aufgäbe, so würde sie bemerken, dass sie in der gerichtlichen Beurteilung und Bestrafung von dem Vorwurf einer kollektiven kriminellen Schuld entlastet wird.“

Mit politischer Schuld ist gemeint, dass das Kollektiv der StaatsbürgerInnen eine Haftungsgemeinschaft für die Handlungen der durch sie autorisierten Regierung bildet. „Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit“, so Jaspers. Schefczyk interessiert vor allem die Zusammengehörigkeit von moralischer Schuld und politischer Haftung. Auch wenn man den Begriff der Kollektivschuld ablehnt, gibt es dennoch nicht so etwas wie eine moralische Kollektivschuld in der „Lebensart“ einer Bevölkerung? Jaspers ist der Meinung, „dass jede und jeder Deutsche Grund hat, sich zu fragen, welchen Beitrag sie oder er zur Ermöglichung des Unrechts geleistet hat“.

An der Schnittstelle von moralischer und politischer Verantwortung ortet Schefczyk das eigentliche Anliegen „der Schuldfrage“ und ruft in Erinnerung, dass Jaspers als einziger deutscher Philosoph unmittelbar nach dem Krieg etwas Substantielles zur Frage der Verantwortung beizutragen hatte.

In der Diskussion erkundigt sich Schefczyk, wie und wann die Aufarbeitung der Schuld in Österreich erfolgt sei. Da antwortet ihm der Moderator Rainer Nowak (Die Presse) lapidar: „40 Jahre später.“ Vermutlich bezieht er sich mit dieser Äußerung auf den „Mythos“ der Opferrolle Österreichs, sodass erst 1991 der damalige Kanzler Vranitzky in einer Rede vor dem Nationalrat erstmals offiziell die Opferthese relativierte und die Mitschuld der Österreicher am 2. Weltkrieg und dessen Folgen bekannte.


Samstag, 20. September 2014
Barbara Bleisch

(Zürich):
Mitgegangen – mitgehangen?
Verantwortung für globales Unrecht

Die Schweizer Philosophin weist eingangs auf das Phänomen der Jugendkrawalle im sonst so idyllischen Zürich hin, zu denen Daniel Leupi, damaliger Polizeivorsteher ZH, die Meinung vertrat: „Es ist bedenklich, dass sich eine große Menge von Mitläufern nicht deutlich von der Gewaltanwendung distanziert hat. Hier gilt klar der Grundsatz: Mitgegangen, mitgehangen.“

Während das Thema des 18. Philosophicums „Schuld und Sühne“ den Fokus auf Täter und Opfer wirft, stellt Bleisch die Verantwortung der Mitläufer in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Mitläufer sind wir alle. Wie steht es hier mit kollektiver, wie mit individueller Verantwortung? Schon in ihrer Dissertation befasste sich die Philosophin mit „Weltarmut und individuelle Verantwortung“. In ihrem Vortrag wendet sie sich nun direkt an die Handy-Besitzer im Auditorium - das sind praktisch alle - und konfrontiert sie mit den Verbrechen bei der Coltan-Erzgewinnung im Kongo. „An unseren Handys klebt Blut!“, hieß es in den Medien. Mord, Vergewaltigung, Kinderarbeit...Damit wir mobil telefonieren können, werden in Afrika viele Menschen Opfer brutaler Gewalt. Es ist nicht zu leugnen, dass wir als Konsumenten kausal verantwortlich sind für globales Unrecht und Armut. Aber sind wir auch moralisch verantwortlich?

Zu dieser Frage bezieht sich Bleisch auf die „Schädigungsthese“ und zitiert Thomas Pogge, der 2002 sagte: „Wir sind durch Aufrufe von Hilfswerken vertraut mit der Behauptung, dass wir es in der Hand haben, viele Menschen vor dem Verhungern zu retten oder, indem wir nichts tun, diese Menschen sterben zu lassen. Wir sind weniger vertraut mit der Behauptung, die mit einer stärkeren moralischen Verantwortung einhergeht: Dass die meisten von uns die Armutsbetroffenen nicht nur sterben lassen, sondern dass sie sich an deren Tötung beteiligen.“ Letzteres entspräche der „ Verbrechensthese“. Unter diese fallen etwa die Gulags unter Stalin und Maos „langem Marsch“, wo Millionen Menschen dem Hungertod preisgegeben wurden. Als Beispiel für die Gegenwart verweist sie auf Jean Ziegler, der in seinem vielbeachteten Buch „Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ eindeutig die Verbrechensthese vertritt.

Bleisch hingegen ist der Meinung, dass Konsumenten als Mitläufer nicht moralisch verantwortlich gemacht werden können. Sie haben jedoch die moralische Pflicht, auf die Politik ihres Landes einzuwirken, sich nicht an globalem Unrecht zu beteiligen und diesem entgegenzuwirken. Ihr Wort in Gottes Ohr, dachten sich da wohl einige ZuhörerInnen. Ebenso bei der folgenden Forderung der Schweizer Philosophin: Gewinne aus ungerechtfertigter Bereicherung müssen zurückgegeben werden. Bleisch unterscheidet zwischen prospektiver und retrospektiver Verantwortung, Haftungsmodelle sind zu entwickeln, Wiedergutmachung ist angesagt. „Verantwortlich ist nicht nur, wer vorsätzlich, sondern auch wer fahrlässig handelt.“, so Bleisch. Sie möchte ein wesentlich höheres Augenmerk auf die „Sorgfaltspflichten“ (etwa bei der Rohstoffgewinnung) legen, diese als Prinzip international institutionalisiert verankern.

Samstag, 20. September 2014
Harald Welzer

(Berlin):
Wie sieht Totalitarismus im 21. Jahrhundert aus?
Die Entwicklungen des digitalen Zeitalters führen, so lautet Welzers Hauptthese, zu einem Totalitarismus der dominierenden IT-Konzerne und der Mitmachgesellschaft, totalitärer als alles, was wir bisher gekannt haben. Der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe verzichtet auf sein vorbereitetes Skript zum Referat und erzählt - quasi zur Einstimmung - ein paar „Geschichten“. Buchstäblich Geschichte ist die vor mehr als 40 Jahren erstellte Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“. Die 1972 am 3. St. Gallen Symposium vorgestellte Prognose zur Zukunft der Weltwirtschaft sorgte über Fachkreise hinaus für helle Aufregung. So kann es nicht weitergehen, war man sich einig. In der Wirtschaftsentwicklung hingegen hat sich seither wenig bis gar nichts verändert. Hier gilt Wachstum nach wie vor als oberste Maxime. Verändert hat sich das Bewusstsein der Menschen, das Unbehagen über Klimawandel, Wegwerfgesellschaft etc. zieht
immer breitere Kreise, vielerorts manifestiert sich das Bedürfnis nach alternativen Lebensformen. Nicht nur in den vielen Umweltinitiativen ist ein neues gesellschaftliches Segment entstanden, das eine „Bearbeitung der Besorgnis“, eine „Abarbeitung der Unruhe“ ermöglicht. Dies erfolgt durchaus im Interesse der Stabilität des politischen Systems, ändert aber nichts daran, dass immer mehr Menschen vor dem Dilemma stehen: richtig zu denken und Falsches zu machen.

Dann erzählt Welzer die Geschichte von Cioma Schönhaus. Anfang der 40er Jahre standen er und seine Eltern wie viele andere jüdischen Familien in Berlin vor der existenziellen Entscheidung: Deportation oder Untertauchen. Die Eltern konnten sich einfach nicht vorstellen, dass eine Kulturnation wie Deutschland zu den Nazi-Verbrechen fähig wäre - und wurden deportiert. Ihre „Lebenserfahrung“ wurde ihnen zum Verhängnis. Der Sohn tauchte unter. Sogar in dieser Zeit gab es in Berlin Nischen, soziale Netzwerke, kurz „Residuen der Privatheit“, die Verfolgten ein Überleben, sogar Widerstand ermöglichten. Doch das Untertauchen von Cioma Schönhaus bestand darin, dass er sich völlig frei in der Öffentlichkeit bewegte, wie ein Nichtjude ein „normales“ Leben führte. Er hatte sich sogar einen „echten“ Pass organisiert. Erst als er diesen verlor, wurde er steckbrieflich gesucht. Da flüchtete er in die Schweiz.

Die dritte Geschichte handelt von „shifting baselines“. Das Shifting-Baseline-Syndrom bezeichnet ein Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung von Wandel. Etwa die Veränderung von Umweltbedingungen bewirkt eine Verschiebung der menschlichen Referenzpunkte, die beim Bemessen des Wandels dienen. Welzer berichtet von einer generationenvergleichenden Studie über den Rückgang von Fischbeständen im Golf von Kalifornien. Die befragten Fischer klagten natürlich alle über immer weitere Fahrten für einen ergiebigen Fang. Bemerkenswert – wenn auch wenig überraschend – war aber, dass der Referenzpunkt für die geschätzte Länge der heutigen Wegstrecke zu Fanggründen bei den älteren Fischern deutlich näher am Ufer lag als bei den jüngeren.

„Shifting baselines“ beschreibt einen menschlichen Anpassungsprozess – auch gesellschaftspolitisch. Nur so ist erklärbar, dass die Nazi-Herrschaft in den Anfangsjahren die Zustimmung in der Bevölkerung noch steigern konnte. Sofern man nicht verfolgt wurde, gewöhnte man sich Schritt für Schritt an die Veränderungen. Hätte z. B. die Deportation der Juden sofort nach der Machtübernahme 1933 begonnen, wäre zumindest bei einem Teil der Bevölkerung die moralische Empörung nicht ausgeblieben.

Gegenwärtige totalitäre Entwicklungen sind, so Welzer, in den allumfassenden Informations- und Kommunikationstechnologien begründet, „der gläserne Mensch“ ist Programm. Mit der Aufhebung der Privatheit fallen auch die Nischen weg, die es in früheren totalitären Regimen immer noch gab. Die heutigen Kommandierenden tragen keine Uniform mehr, aber sie definieren ebenso, was die Menschen wollen sollen. Solange die Rechtsstaatlichkeit gewahrt wird, haben wir kein Problem damit. Wo ist unser Referenzpunkt, wohin wurde er mittlerweile verschoben?

Sehr eindringlich beschreibt Welzer einen stattfindenden Systemwechsel innerhalb der Demokratie: „Die Dinge laufen aus dem Ruder.“ Fragt sich nur, merken wir es überhaupt und können wir dagegen sein, wo wir doch den ganzen Weg mitgegangen sind?

Welzer ist Mitbegründer und Direktor von FUTURZWEI, eine gemeinnützige Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alternative Lebens- und Wirtschaftsformen aufzuzeigen und zu fördern.

„Nicht mitmachen“, meint Welzer, „muss ermutigt und gestärkt werden.“


Sonntag, 21. September 2014
Henning Saß

(Aachen):
Wille, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit
Bekanntlich hat die französische Revolution in vielerlei Hinsicht folgenreiche Maßstäbe für die neuzeitliche Geschichte gesetzt. Auch in der Psychopathologie. Schon beim Sturm auf die Bastille 1789 wurden mit den Häftlingen auch Geisteskranke, die ohne Unterschied mit den Verbrechern eingekerkert waren, aus dem verhassten Staatsgefängnis freigelassen. Zur Legende wurde Philippe Pinel, der 1793 in der Bicetre die „Irren“ von ihren Ketten befreite, wie uns Saß in Erinnerung ruft. Erst später, so der deutsche Facharzt für Psychiatrie und forensisch-psychiatrischer Gutachter, wurde die Frage, ob das Verbrechen Symptom einer psychischen Erkrankung ist, gestellt.

Heute ist es die Überschneidung von medizinischem und juristischem Bereich, aus der die forensische Psychopathologie die Schuldfähigkeit des Einzelnen ermittelt.

Als wegweisend nennt Saß den Psychiater und Internisten Wilhelm Griesinger, der bereits Mitte des 19. Jahrhunderts definierte: Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten. Griesinger vertritt damit einen methodischen, jedoch nicht metaphysischen Materialismus, der sich letztlich auf den Seelenzustand des Patienten bezöge. In der Psychopathologie geht es aber in erster Linie um das Erfassen des subjektiven Erlebens, „wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht“. „Erklären“ und „Verstehen“ bilden eine Polarität, wo bei ersterem die Naturwissenschaften, bei letzterem die Philosophie gefordert ist.

Die Freiheit des Willens gilt als Voraussetzung für strafrechtliche Verantwortlichkeit. Zu prüfen ist, ob jemand -“sobald er die sittliche Reife erlangt hat und nicht krankhafte Störungen ihn behindern“- überhaupt befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden. Auch Saß beruft sich auf „Die Schuldfrage“ des Philosophen Karl Jaspers, der auch Psychiater war und zitiert dessen grundsätzliche Aussage: „Wenn ich soll, muss ich auch können. Also gibt es Freiheit.“ Natürlich ist Freiheit nie absolut, sondern immer relativ. Beispielhaft erläutert Saß das Krankheitsbild der Depression, wo wesentliche Freiheitsgrade für die Betroffenen verloren gehen.

An Hand von zwei Fallbeispielen aus seiner Praxis verdeutlicht Saß die Herausforderungen, vor denen die forensische Psychiatrie heute steht. Im ersten Fall handelt es sich um einen bisher unbescholtenen Mann, der innerhalb kurzer Zeit von „inneren Stimmen“ zu dem Mord an seiner Mutter (Matrizit) veranlasst wird. Bei ihm konnte eindeutig Schuldunfähigkeit festgestellt werden. Der zweite Fall betrifft den als „Autobahnschützen“ durch die Medien bekannten Angeklagten. Der LKW-Fahrer feuerte auf seinen Fahrten rund 750 mal auf andere Fahrzeuge, eine Frau wurde tötlich getroffen. Hier wurde die mangelnde Schuldfähigkeit verneint. Trotz krankhafter Verhaltensmuster blieben dem Angeklagten immer noch genügend „Freiheitsspielräume“, um sein Unrecht zu erkennen. Psychische Einschränkungen wurden zwar festgestellt, die Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten des Angeklagten aber als ausreichend angenommen.

Abschließend verweist Saß auf das grundlegende Dilemma forensischer Gutachten: den Patienten an den rechtsstaatlichen Maßstäben zu messen und ihn diesen letztlich unterwerfen zu müssen.


Gertraud Artner
Geb.1948 in St. Pölten, Dr. phil., Akademie der Bildenden Künste (Meisterkl. Hausner) u. Soziologie Uni. Wien. Ausbildung zur Maltherapeutin, lebt in Wien u. STP. Kunstvermittlerin. Im LitGes-Vorstand seit 2014.

18. Philosophicum Lech; Schuld und Sühne; Berichte: Gertraud Artner

16. Philosophicum Lech - 2. Tag: Markus Wild. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Spieglein, Spieglein an der Wand…

 

16. Philosophicum Lech
Der Mensch und andere Tiere -
Überlegungen zu einer umstrittenen Redeweise
Markus Wild

Freitag, 21.09.2012, 9.30 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

Prof. Dr. Markus Wild (geboren 1971) ist seit 2012 SNF-Förderprofessor an der Universität Freiburg/ Schweiz. Von 2003-12 war er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Markus Wilds Recherchen betreffen unter anderem die Tierphilosophie und den Naturalismus. Für ihn steht fest, dass der Mensch ein Tier ist! Mit diesem Vortrag verhalf er den Zuhörern - mit schock-therapeutischen Maßnahmen -, diese Erkenntnis nachzuvollziehen.

Wild beruft sich auf die Aussage des Paleoanthropologen Steve Mithen: "Der Mensch ist ein Tier." (Buch Mithen: "The prehistory of the mind. A search for the origins of art, religion and science." 1998). Auch nichtmenschliche Tiere hätten geistige Fähigkeiten und diese seien durch die Evolution zu verstehen. Wild erläuterte, was diese Redewendung nun impliziere, warum wir diese These brauchen und worin ihr Widerspruch liege.

Zur Differenzierung zwischen Mensch und Tier wird erforscht, ob Tiere Kultur haben. Laut Definition des niederländischen Zoologen und Verhaltensforschers Frans de Waal ist Kultur eine Übertragung von Gewohnheiten und Wissen durch soziales Lernen (Interview 2002. Buch de Waal: "Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere." 2001).

Zunächst unterscheidet Wild zwischen tierischem und menschlichem Geist und die vielfachen Nuancierungen der Intelligenz - der technischen (Werkzeugherstellung), sprachlichen und sozialen (Absichten mitteilen und anderen zuschreiben), naturkundlichen (Wissen über andere Arten) und instrumentellen (Mittel zum Zweck) Intelligenz.
Anhand des Ausschließungsverfahrens wird klar, dass nur eine der zwei Aussagen: A Der Mensch ist ein Tier und B Der Mensch ist kein Tier, richtig sein kann.
Der Begriff "Mensch" wird einerseits als taxonomischer Begriff (Klassifikationsschema), andererseits als Kontrastbegriff verwendet. Es gilt zu klären, welcher Kontrast gemeint ist, ob beide Begriffe nicht ko-extensional (miteinander ausdehnbar) sind und ob sich der Kontrast nicht im taxonomischen Begriff erläutern ließe, fuhr Wild in seinen Erklärungen fort.

Nach der Philosophischen Anthropologie von Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928) gibt es keine einheitliche Idee des Menschen, daher wäre die Sonderstellung des Menschen generell in Frage gestellt. Besteht der Mensch-Tier-Kontrast überhaupt zu recht? Und ist überhaupt der Mensch-Tier-Vergleich adäquat?, fragt Wild. Zwischen der Philosophie und der Biologie habe sich ein Zuständigkeitsproblem entwickelt, analysierte Wild, und obwohl der Mensch ein anderes Tier sei, gebe es nicht nur die eine unüberwindliche Differenz zwischen den beiden Spezies.

Überdenkt man Wilds Vortrag, muss man gestehen, dass der Mensch, der die Kirche im Dorf gelassen hat, der sich also als Teil des Tierreichs erkannt hat, sich dennoch als Tier plus X sieht.
Wenn Sie sich in den Spiegel schauen, und dies ist wohl der entscheidende Test, den Wild in diesem Philosophicum an das Lecher Publikum richtete, was sehen Sie dann? Sehen Sie einen Menschen, ein Tier, ein Tier plus X?
"Der Mensch ist ein Tier in dem Sinne, das jeder Mensch ein Lebewesen ist und Menschen eine biologische Art bilden.". Daher ist Wilds Konklusion: "Jeder Mensch ist mit je einem Tier numerisch identisch."

Haben Sie die These des Animalismus verstanden?
Es ist im Prinzip ganz einfach: Wenn Sie in den Spiegel schauen, sehen Sie ein Tier! Kein Tier plus X! Sie sehen das menschliche Tier, das denkt und spricht. Sie sind dieses denkende und redende Tier … finden Sie sich damit ab, es wird Ihnen kein Stein aus der Krone der Schöpfung fallen!

LitGes, Oktober 2012

16. Philosophicum Lech - 2. Tag: Markus Wild. Rez.: Ingrid Reichel

16. Philosophicum Lech - 1. Tag: Eugen Drewermann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Der Prediger der Neuzeit

 

16. Philosophicum Lech
Der tödliche Fortschritt oder
Wir brauchen eine neue Ethik
Eugen Drewermann

Donnerstag, 20.09.2012, 18 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

PD Dr. Eugen Drewermann (geboren 1940) ist katholischer Theologe, suspendierter Priester, Psychotherapeut und freiberuflicher Schriftsteller. Er ist ein wichtiger Vertreter der tiefenpsychologischen Exegese (Padeborn).

Der für sein ökologisches Engagement bekannte Eugen Drewermann war wohl Shooting-Star dieses heurigen Philosophicums. Sein Einsatz für Umweltschutz und Tierschutz hat u.a. auch zu seiner Suspendierung als Priester beigetragen, als er der Katholischen Kirche festgeschriebene biblische Naturfremdheit vorwarf und darin die Begründung auch sieht, dass das Christentum unfähig zum Frieden und zur Aussöhnung mit der Natur ist.

In den nächsten 40 Jahren würde die Menschheit von sieben auf neun Milliarden Menschen wachsen, unsere Ressourcen schwinden, die permanente Urbanisierung drückt auf die Natur. Damit würden wir uns den Weg, wie wir Mensch geworden sind, abgraben, bekundet Drewermann: "Wir wollen nur mehr uns selbst erleben!" Dabei hätten bei unserem selbst auferlegten Wachstumsdrang die Tiere keine Chance mehr. "Wollen Sie etwas schützen, müssen Sie es kaufen!", so lautet die gegenwärtige Analyse. Daher bräuchten wir keine NEUE Ethik, meint Drewermann, sondern wir bräuchten endlich EINE Ethik. Eine, die dem Kapitalismus nicht förderlich ist und die die Natur nicht als Gratisangebot sieht. Für das Wirtschaftssystem, in dem wir leben, ist sie eine günstige Ware, woraus sich viel Kapital schlagen lässt: Luft und Wasser werden teure Güter. Dramatisch spricht Drewermann unseren Fortschrittsglauben und unser Wachstumscredo an.

Drewermann geht auf unser anthropozentrisches Weltbild ein, wonach der Mensch, das Maß aller Dinge ist. Es ist eine falsche Ethik, wie Drewermann meint, beruht sie doch nur auf Normen, die ausschließlich für den Menschen sinnvoll sind. Mit dem Behaviorismus des 20. Jahrhunderts wurde der Mensch als alleiniges Vernunftwesen zum einzigen Rechtsträger. So haben in dieser Definition Tiere fälschlicherweise keine Pflichten - Drewermann widerlegte dies am Bsp. des Nestbaus - und auch keine Seele. Dabei habe es bereits in der Antike die Furcht vor der Tierseele gegeben, die Angst, dass Tiere nach dem Tod auftreten und Anklage erheben würden.

Schließlich sieht Drewermann das Wissen der Menschheit als Waffe gegen die Menschheit eingesetzt. An Tierexperimenten, deren Ergebnisse schlussendlich am Menschen zum Einsatz kommen, zeige sich der Wahnsinn, wie er zur Normalität wird.

Und natürlich beruft sich Drewermann auf den deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860): Tiere leben auf der Welt in der Hölle. Wichtig ist die Empathie, doch solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben, meint Drewermann. Unser Mitleid und Mitgefühl hält sich also in Grenzen. Schon die Tochter von Sigmund Freud, Anna (1895-1982) äußerte, dass die Menschen keine Moral kennen sondern nur die Angst vor Bestrafung, erinnert Drewermann. So ist die Ethik eine unendlich gedehnte Verantwortung, zitiert Drewermann den Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer (1875-1965).

Wir brauchen also Individuen, die Denken und Fühlen vereinigen. Logozentrismus alleine helfe uns nicht weiter. Der Intellekt erkennt keine Werte. Die größten Verbrechen haben stattfinden können, weil man uns unsere Gefühle gestohlen habe, sagt Drewermann. Das Tier ist schließlich eine Projektion auf uns selbst.

In der Bibel steht geschrieben: "Macht Euch die Erde untertan!" (Dominum terrae: Genesis 1,28 LUT, AT), diesen alttestamentarischen Auftrag Gottes an den Menschen, hätten wir befolgt, so Drewermann, doch scheinbar ist nichts Gutes dabei herausgekommen. Es ist also an der Zeit etwas zu ändern. Die Frage nach dem Vegetarismus stelle sich gar nicht, wenn man erst die doppelte Ernährung begriffen hätte (trotz Welthungers, Ernährung der nur zum Verzehr geeigneten Zuchttiere).

Drewermann beendet seinen Vortrag mit folgenden eindringlichen Worten:

"Einst war Kannibalismus selbstverständlich. Und eines Tages wird uns die Erkenntnis kommen, dass Tier-Essen nur ein erweiterter Kannibalismus ist. Wir dürfen nicht quälen, was Leid empfinden kann. Diese Abschlachtungen müssen aufhören."

LitGes, September 2012

16. Philosophicum Lech - 1. Tag: Eugen Drewermann. Rez.: Ingrid Reichel

16. Philosophicum Lech - 1. Tag - Einführung: Konrad Paul Liessmann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
Tierische philosophische Kontroversen

 

16. Philosophicum Lech
Einführung
Tiere. Der Mensch und seine Natur
Konrad Paul Liessmann

Donnerstag, 20.09.2012, 17.30 Uhr
Neue Kirche Lech am Arlberg

Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann (geboren 1953) ist Professor für Philosophie an der Universität Wien und philosophischer Leiter des Philosophicum Lech.

Der Leiter des Philosophicums Konrad Paul Liessmann gab eine aufschlussreiche geschichtliche Übersicht über die Ambivalenz in der Philosophie bezüglich des Verhältnisses Mensch und Tier.

"Seit sich der Mensch selbst dem Tierreich entronnen wähnt, gestaltet er sein Verhältnis zum Tier in höchst unterschiedlicher Art und Weise.", Liessmanns Satz zu Beginn seines Vortrages lässt keinen Zweifel offen, dass der Mensch ein Tier ist. Das Tier als bedrohlicher Feind, das gezähmt, gejagt oder gar ausgerottet werden muss, ist aber auch ständiger Begleiter - als Nutztier, im Einsatz für Therapien, in Sport und Kultur, als Haustier und Familienmitglied - und Projektionsfläche für Sehnsüchte wie dem Traum vom Fliegen und Sentimentalitäten, man denke nur an die vielen tierischen Kosenamen. Oft dient das Tier zur Erkennung menschlichen Verhaltens, und dies nicht nur in der Forschung.

Die Ambivalenz zeigt sich vor allem im Zwiespalt von Glauben und Wissen. Ist der Mensch "nur" Produkt der Evolution und "nur" ein Tier unter Tieren oder das von Gott auserkorene Genie, die Krone der Schöpfung? Nur noch Kreationisten und Speziesisten (Vertreter von Rassismus der Arten), meint Liessmann, würden letztere Position vertreten. Die einstig klare Grenze zwischen Mensch und Tier ist immer brüchiger und durchlässiger geworden, fährt Liessmann fort: "Ergebnisse der Wissenschaften, die sich mit dieser Grenze beschäftigen, sorgen für immer neue Überraschungen. Fähigkeiten wie komplexe kognitive Leistungen, Werkzeuggebrauch, Kommunikationsformen u.v.m., die einst nur dem Menschen zugeschrieben wurden, sind auch bei Tieren erkannt worden.

Liessmann hinterfragt jedoch unser heutiges Triumphgefühl, nachdem wir die Kränkung, verursacht durch Darwins Evolutionstheorie überwunden haben, nämlich nicht die Krone der Schöpfung zu sein. Ist es der Wille zur Wahrheit oder die Sehnsucht, die Bürde von Verantwortung und Moral loszuwerden?

Der Unterschied des Menschen zum Tier ist nicht mehr prinzipiell, höchstens graduell, aber das wusste der Mensch bereits seit der Antike mit seiner Definition des Menschen als animale rationale oder zoon politikon.

In der Neuzeit gab es erneut zwei kontroverse Ansichten. René Descartes (1596-1650) setzte das Tier einer Maschine gleich. Er sah im Tier einen Körper (res extensa), dem er weder geistige Funktionen, noch Leidensfähigkeit zuerkannte. Michel de Montaigne (1533-1592) dagegen äußerte in seinen literarischen Überlieferungen die prinzipielle Gleichartigkeit von Mensch und Tier. Die Debatte wiederholte sich in der modernen Philosophie bei Immanuel Kant (1724-1804) und Arthur Schopenhauer (1788-1860). Kant beharrte auf die Vernunftorientierung des Menschen gegenüber dem vernunftlosen Tier. "Wohl sprach sich Kant auch gegen Tierquälerei aus, allerdings weniger aus Sorge um das Wohlergehen der Tiere, als vielmehr aus Sorge um die Sittlichkeit des Menschen [...]" (Liessmann). Schopenhauer konnte hingegen in seiner Mitleidsethik das leidensfähige Tier miteinbeziehen. Für ihn unterschied sich der Mensch durch seinen Intellekt nur unwesentlich vom Tier, da es ein empfindsames und leidensfähiges Wesen ist.

Auch Friedrich Nietzsche (1844-1900) sah die Nähe vom Menschen zum Tier, wenn auch mit anderen Aktzenten, erläutert Liessmann. Die Exterritorialität, die Offenheit und Freiheit also, mit der der Mensch sich vom Instinkt gebundenen Tier unterscheide, sah Nietzsche eher als Defekt, denn als Vorzug: "Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat, [...]." (Zitat: Nietzsche).

Natürlich erweist sich Nietzsches Kommentar ebenfalls als Anthropomorphismus, erklärt Liessmann und erinnert, dass lange vor den Tierethik- und Tierrechtsdiskussionen der Gegenwart Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) bereits festgestellt haben, dass das alltägliche gewalttätige Verhalten gegenüber Tieren an jene "Ahnungslosigkeit" erinnert, mit der Menschen in totalitären Systemen ihre Augen vor Schandtaten verschließen. Hier liege das Paradoxon unserer Gegenwart, behauptet Liessmann, dass trotz vieler neuer Erkenntnisse, sich praktisch in unserem kollektiven Verhalten nichts ändere und die Ausrottungspolitik sowie die industrielle Tiernutzung im Gegenteil sich weiter intensiviere. Liessmann folgert, dass das Tier eine einzige Provokation für jenes Tier bleibe, welches sich manchmal kokett als Tier bezeichne. Dem Tier angemessen und gerecht zu begegnen, schaffe jedoch nur ein Tier, welches zumindest tendenziell aufgehört hat, ein Tier zu sein, schließt Liessmann seine Einführung zum 16. Philosophicum.

LitGes, September 2012

16. Philosophicum Lech - 1. Tag - Einführung: Konrad Paul Liessmann. Rez.: Ingrid Reichel