Ingrid Reichel
DER STAAT, EINE LEGITIMATION DER NATURGEWALTEN
IRONIEN DES POLITISCHEN.
EINIGE GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN ZUR KRITIK STAATLICHER SOUVERÄNITÄT.
Dr. des. Daniel Loick
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialphilosophie, Goethe-Universität Frankfurt
26.09.2010, 10.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg
Die amerikanische Fernsehserie „Deadwood“ (2004-2006) dient Daniel Loick als Einführung seines Vortrags.
Wer die Serie nicht kennt: Deadwood ist ein kleines Goldgräbernest in South Dakota. Historische Charaktere und Fakten aus dem Jahr 1876 nach der Schlacht am Little Bighorn vermischen sich mit Fiktion. In den USA ist die Serie wegen seiner frauenfeindlichen sowie sexuellen Darbietungen und seiner derben Sprache umstritten. Seth Bullock ist der Sheriff des Ortes und eine historische Figur.
Loick zeigt den Ausschnitt, als der Streit um die Bestrafung eines Pferdediebes ausbricht. Die Meute schreit nach Lynchjustiz und will den Täter hängen, während das Gesetz in Anbetracht des Delikts Hängen vorschreibt. Um sich den Schwierigkeiten zu entziehen, vollstreckt der Sheriff das Urteil gleich vor dem Pöbel und befriedet damit die gefährliche Masse.
Loick zeigt mit diesem Filmausschnitt die Ambiguität der staatlichen Gewalt. In ihrem Ergebnis unterscheide sich die legitime Macht weder quantitativ noch qualitativ von der illegitimen, da das Urteil und seine Vollstreckung identisch sind. Der Unterschied liegt im Symbolischem: Der Täter hat das Recht vom Sheriff gehängt zu werden, den Mann mit dem Stern auf der Brust. Hier erläutert Loick die Ironie zwischen den status civilis und den status naturalis, denn die Interaktionsweisen sind doch die gleichen geblieben.
Schon Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben die Aufklärung als eine Hinauszögerung der Naturgewalten verstanden und dies als ironischen Verrat an der Vernunft empfunden. Der zivilisatorische Fortschritt war schon immer mit „einer Ratifizierung und legitimatorischen Veredelung natur- und kriegszustandstypischer Verhaltensweisen bezahlt worden“, so Loick.
In drei Schritten zeigt Loick die ironischen Umschlagpunkte, „an denen ein zivilisatorischer Fortschritt jeweils durch einen Rückschritt in den Mythos erkauft wurde.“
Als Grundlage der traditionellen Theorien der Souveränität dienen Loick der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529-1596), der eigentliche Erfinder des Begriffs der Souveränität; der Aufklärer und französische Philosoph und geistige Wegbereiter der Französischen Revolution Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) - Autonomie als Heteronomie, wobei er den deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) „Zur Kritik der Gewalt“ als Inspirationsquelle zur Unterscheidung zitiert.
Die kritischen Theorien der Souveränität erläutert Loick anhand einiger Bemerkungen der deutsch-amerikanischen Gelehrten Hannah Arendt (1906-1975).
In seinem letzten Punkt beschreibt Loick wie sich eine demokratische Gesellschaft ohne Souveränität (d.h. ohne Zwangsbefugnis und Gesetzeskraft) denken ließe und „diese ironische Spannung aufgelöst“ werden könne.
Leider war der interessanteste Punkt, nämlich der dritte, der kürzeste, komplexeste und daher schwer verständlich.
Das Verhältnis von Souveränität und Recht ließe sich auf drei Weisen vorstellen, so Loick.
- Die dominanteste: Der Befehl des Souveräns ist gleich Recht. (Bodin, Hobbes, Rousseau)
- Zuerst kommt das Recht, der Staat ist nur funktionales Erfordernis zur praktischen Umsetzung. (Kant: Liberaler Rechtspositivismus)
- Der Souverän ist von rechtlichen Schranken ganz befreit, hat unmittelbaren Zugriff auf sozialen Stoff und ist von Bindungen juridischer Verlaufsformen gelöst. (Carl Schmitt)
Nach Loick gebe es nun eine vierte logische Möglichkeit der Verhältnisbestimmung: eine anti-etatistische, anarchistische Position (Recht ohne Souveränität), die jedoch bislang unreflektiert wäre und wenige Anhänger hätte.
Eine Gesellschaft, die bestraft, diszipliniert, segregiert, exkludiert, dirigiert und exploitiert wäre, so Loick, in ihrer Möglichkeit der menschlichen Emanzipation ruiniert. Eine befreite Gesellschaft wäre demnach eine demokratische Gesellschaft mit dem Verzicht auf Volkssouveränität. Das Recht würde zum „profanen Medium der sozialen Kooperation, das seine Berechtigung allein aus einem materialen Regelungsbedarf“ erhielte. Die Interpretation und Anwendung des Rechts wäre dann eine unmittelbare zwischen den Akteuren. Souveränität zu überwinden, setze die Menschen auf gefährliche Weise einander aus – aber nicht auf gefährlichere Weise als dies jetzt schon der Fall wäre, denn mit der Kritik der Staatsgewalt wäre noch nicht jede Gewalt kritisiert.
LitGes, September 2010