Philosophie

14. Philosophicum Lech - 4. Tag: Daniel Loick. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DER STAAT, EINE LEGITIMATION DER NATURGEWALTEN

 
IRONIEN DES POLITISCHEN.
EINIGE GRUNDSÄTZLICHE ÜBERLEGUNGEN ZUR KRITIK STAATLICHER SOUVERÄNITÄT.
Dr. des. Daniel Loick
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialphilosophie, Goethe-Universität Frankfurt
26.09.2010, 10.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Die amerikanische Fernsehserie „Deadwood“ (2004-2006) dient Daniel Loick als Einführung seines Vortrags.

Wer die Serie nicht kennt: Deadwood ist ein kleines Goldgräbernest in South Dakota. Historische Charaktere und Fakten aus dem Jahr 1876 nach der Schlacht am Little Bighorn vermischen sich mit Fiktion. In den USA ist die Serie wegen seiner frauenfeindlichen sowie sexuellen Darbietungen und seiner derben Sprache umstritten. Seth Bullock ist der Sheriff des Ortes und eine historische Figur.

Loick zeigt den Ausschnitt, als der Streit um die Bestrafung eines Pferdediebes ausbricht. Die Meute schreit nach Lynchjustiz und will den Täter hängen, während das Gesetz in Anbetracht des Delikts Hängen vorschreibt. Um sich den Schwierigkeiten zu entziehen, vollstreckt der Sheriff das Urteil gleich vor dem Pöbel und befriedet damit die gefährliche Masse.

Loick zeigt mit diesem Filmausschnitt die Ambiguität der staatlichen Gewalt. In ihrem Ergebnis unterscheide sich die legitime Macht weder quantitativ noch qualitativ von der illegitimen, da das Urteil und seine Vollstreckung identisch sind. Der Unterschied liegt im Symbolischem: Der Täter hat das Recht vom Sheriff gehängt zu werden, den Mann mit dem Stern auf der Brust. Hier erläutert Loick die Ironie zwischen den status civilis und den status naturalis, denn die Interaktionsweisen sind doch die gleichen geblieben.

Schon Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben die Aufklärung als eine Hinauszögerung der Naturgewalten verstanden und dies als ironischen Verrat an der Vernunft empfunden. Der zivilisatorische Fortschritt war schon immer mit „einer Ratifizierung und legitimatorischen Veredelung natur- und kriegszustandstypischer Verhaltensweisen bezahlt worden“, so Loick.

In drei Schritten zeigt Loick die ironischen Umschlagpunkte, „an denen ein zivilisatorischer Fortschritt jeweils durch einen Rückschritt in den Mythos erkauft wurde.“

Als Grundlage der traditionellen Theorien der Souveränität dienen Loick der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1529-1596), der eigentliche Erfinder des Begriffs der Souveränität; der Aufklärer und französische Philosoph und geistige Wegbereiter der Französischen Revolution Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) - Autonomie als Heteronomie, wobei er den deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892-1940) „Zur Kritik der Gewalt“ als Inspirationsquelle zur Unterscheidung zitiert.

Die kritischen Theorien der Souveränität erläutert Loick anhand einiger Bemerkungen der deutsch-amerikanischen Gelehrten Hannah Arendt (1906-1975).

In seinem letzten Punkt beschreibt Loick wie sich eine demokratische Gesellschaft ohne Souveränität (d.h. ohne Zwangsbefugnis und Gesetzeskraft) denken ließe und „diese ironische Spannung aufgelöst“ werden könne.

Leider war der interessanteste Punkt, nämlich der dritte, der kürzeste, komplexeste und daher schwer verständlich.

Das Verhältnis von Souveränität und Recht ließe sich auf drei Weisen vorstellen, so Loick.

  1. Die dominanteste: Der Befehl des Souveräns ist gleich Recht. (Bodin, Hobbes, Rousseau)
  2. Zuerst kommt das Recht, der Staat ist nur funktionales Erfordernis zur praktischen Umsetzung. (Kant: Liberaler Rechtspositivismus)
  3. Der Souverän ist von rechtlichen Schranken ganz befreit, hat unmittelbaren Zugriff auf sozialen Stoff und ist von Bindungen juridischer Verlaufsformen gelöst. (Carl Schmitt)

Nach Loick gebe es nun eine vierte logische Möglichkeit der Verhältnisbestimmung: eine anti-etatistische, anarchistische Position (Recht ohne Souveränität), die jedoch bislang unreflektiert wäre und wenige Anhänger hätte.

Eine Gesellschaft, die bestraft, diszipliniert, segregiert, exkludiert, dirigiert und exploitiert wäre, so Loick, in ihrer Möglichkeit der menschlichen Emanzipation ruiniert. Eine befreite Gesellschaft wäre demnach eine demokratische Gesellschaft mit dem Verzicht auf Volkssouveränität. Das Recht würde zum „profanen Medium der sozialen Kooperation, das seine Berechtigung allein aus einem materialen Regelungsbedarf“ erhielte. Die Interpretation und Anwendung des Rechts wäre dann eine unmittelbare zwischen den Akteuren. Souveränität zu überwinden, setze die Menschen auf gefährliche Weise einander aus – aber nicht auf gefährlichere Weise als dies jetzt schon der Fall wäre, denn mit der Kritik der Staatsgewalt wäre noch nicht jede Gewalt kritisiert.

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 4. Tag: Daniel Loick. Rez.: Ingrid Reichel

14. Philosophicum Lech - 3. Tag: Heinz Bude. Rez.: Eva Riebler

Eva Riebler
VOM FREUNDLICHEN STAAT

 
 

 
DIE METAMORPHOSE DES STAATSGLAUBENS NACH 1945.
Univ. Prof. Dr. Heinz Bude
25.09.2010, 15.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

 
 

Nach 25 Jahren des Neoliberalismus ist das Vertrauen in den Staat, auch auf Grund der Finanzkrise, abhanden gekommen und man ist auf der Suche nach einem neuen Regulativ.

 

Es bieten sich 5 Gebilde an:

 

1. Der notwendige Staat: Dieser ist laut Ludwig Erhard als historisches Regulationsgefüge und nicht als überhistorischer Ordnungsstifter notwendig. Leistung wird positiv, vor allem für den Wiederaufbau nach 45 gesehen.

 

2. Der erweiterte Staat: Die Gesellschaft ist treibende Kraft und wird bewegt durch Anrechte von der Wiege bis zur Bahre.

 

3. Der gefräßige Staat: Die Staatsaufgaben scheinen nicht mehr finanzierbar zu sein und die Entfremdung für den Einzelnen im Sinne einer Beraubung seiner Handlungsfähigkeit etabliert sich, obwohl ihm Handlungsfähigkeit versprochen wird. Zu viel Vorsorge im Sozialstaat führt zu „erlernter Hilflosigkeit“.

 

4. Der launige Staat: Als Reaktion auf den Gefräßigen Staat von Ronald Reagan und Margret Thatcher entwickelt. Das Wohlfahrtsangebot wird reduziert und die Kontrolle im Sinne einer Gouvernante erhöht, d. h. es wird vom „sorgenden“ auf den „gewährleistenden“ Wohlfahrtsstaat umgestellt. Wer als Betroffener in den Genuss von Privilegien kommen soll, variiert und ist nicht zu standardisieren oder professionell zu definieren.

 

5. Der freundliche Staat: Der Jetztzeit entsprechen und dieser angepasst wird der Staat zum Ratgeber und Anstoßgeber, da er die weiter reichende und übergeordnete Perspektive zum Wohle des Einzelnen verfolgt. Der Staat zielt auf zwanglosen Zwang zum Besten der Allgemeinheit und nicht zum Vorteil des Einzelnen hin.

 
 

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 3. Tag: Heinz Bude. Rez.: Eva Riebler

14. Philosophicum Lech - 3. Tag: Rudolf Burger. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
VOM LETZTEN MENSCHEN

 
DER TRIUMPH DES LIBERALISMUS. EIN NACHRUF.
Univ. Prof. Dr. Rudolf Burger
Professor für Philosophie (Universität für angewandte Kunst Wien, emeritiert 2007)
25.09.2010, 11.00 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Der einzige österreichische Philosoph beim 14. Philosophicum war Rudolf Burger. Er gilt als einer der unbequemsten zeitgenössischen Intellektuellen, der mehrmals in seinen in Zeitschriften veröffentlichten Essays Stellung zur politischen Situation in Österreich nahm.

Nach Burger hätte man den Liberalismus seit langem zu Grab getragen. Er entschloss sich daher für einen Nachruf.

Trotz begründeter Zweifel an der Erfüllbarkeit des Liberalismus gemäß dem US-Philosophen Richard Rorty (1931-2007), demnach der Liberalismus nicht nur eine aufgeklärte und säkulare Kultur sei, sondern seine soziale Hoffnung darin festhält keine unüberwindlichen Hindernisse zu sehen, hätten wir drei Punkte dieses Ideals einer liberalen Gesellschaft festzuhalten:

  1. Alle Menschen gesetzteren Alters und der Mittelschicht, gleichgültig welcher Partei, sind im Rortyschem Sinne Liberale, weil sie aufgrund ihrer guten Erziehung, ihrer sozialen Distanz zur Macht, zur materiellen Not und zur Härte körperlicher Arbeit ihren Platz im Leben bereits gefunden hätten. Daraus folgt, dass
  2. in modernen industriellen Massendemokratien, ein liberales Gemeinwesen im Rortyschem Sinn nicht existiert und nicht existieren kann, auch dann nicht wenn diese genannten Liberalen eine tatsächliche Verantwortung in ihren Berufsständen trügen. Gerade die liberale Gesellschaft wäre auf ein Gewaltmonopol des Staates angewiesen, das damit das Privateigentum verteidige. Die civil society habe den – „wie immer gebändigten“ – Leviathan zu ihrer Voraussetzung. Daraus erschließt sich, dass
  3. der Liberalismus im Rortyschem Sinn gar kein Begriff im strikten Sinn sei, sondern Kantisch gesprochen, eine „regulative Idee“.

Burger weicht bewusst von seiner Schrift ab, um zu Beginn noch einmal in diesem Philosophicum auf Hobbes’ Leviathan hinzuweisen. 1588 war nicht nur Hobbes Geburtsjahr, es war vor allem das Jahr der Armada, jener spanischen Kriegsflotte, die von König Philipp II. für den Krieg gegen England zum Sturz Elisabeth I. gerüstet wurde. Hobbes Leben war von Furcht geprägt. Das 17. Jahrhundert war das Jahrhundert der konfessionellen Bürgerkriege, alle wurden sie im Namen der Wahrheit ausgerufen, erörtert Burger. Im Frontispiz des Leviathan sehe man ein friedliches Bild eines Menschen, der aus vielen Menschen besteht, zur Rechten ein Schwert, zur Linken einen Bischofsstab tragend, über dem Bild steht „Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei“ – „Keine Macht ist auf Erden, die ihm zu vergleichen ist“ (Hiob 41.24). Dieses Bildnis von Leviathan wurde auch als das Ungeheuer von Malmesbury - jener altertümlichen Stadt in Wiltshire, wo Hobbes lebte – genannt. Burger weist auf die Widersprüche zwischen Leviathan und den Menschen hin. Es fehlen Hinweise auf reale Transzendenz, auf das Göttliche, Katonische … Der Staat sei reines Menschenwerk. Seit seiner Erscheinung hat dieses Buches Befremden ausgelöst. Der Mensch ist ein idealistisches Tier. Es geht ihm um Anerkennung und triumphieren über den Anderen. Über den Kampf um die knappen Güter hinaus, ist der Mensch des Menschen Feind, fasst Burger zusammen. Der Traum des Absterbens des Staates in einer Überflussgesellschaft sei eine romantische Illusion, denn die Herrschaft ist ein Existential. Burger erörtert dies an sportlichen Aktivitäten. Hobbes schrieb aus Erfahrung, die nach drei Jahrhunderten auch wieder unsere geworden ist..

Burger setzt seinen Vortrag fort mit dem Hinweis, dass wir in einer Gesellschaft ohne Werte leben. Es sei eine amoralische Gesellschaft voller Individualisten und Konsumisten. Die Kulturgesellschaft habe sich das adäquate Gehäuse für den nach Friedrich Nietzsche genannten letzten Menschen (Also sprach Zarathustra) gebaut, denn der lebe ja bekanntlich am längsten. Der Mensch ist ein zerrissener Geist. Nach Hegel kann eine Diskussion nur mehr durch die Wirklichkeit entschieden werden, zwischen Arbeit und Kampf. Der russisch-französische Hegelinterprete Alexander Kojève hat die beiden Lager – das bürgerlich-liberale auf der einen Seite, das proletarisch-kommunistische auf der anderen Seite – als politisch-praktische Derivation der Hegelschen Philosophie verstanden. „Es gab von Anfang an eine Hegelsche Linke und eine Hegelsche Rechte, das war aber auch alles, was es seit Hegel gegeben hat.“, zitiert Burger Kojève weiter. „Die Geschichte (wird) den Hegelianismus nie widerlegen, sondern sich damit begnügen, zwischen ihren beiden entgegensetzten Interpretationen zu wählen.“

Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 haben wir uns für die rechte, kapitalistische Strömung entschieden. Der Rest sei Umformulierung, wenn nötig mit (fundamentalistischer oder faschistischer) Gewalt, meint Burger. Der Liberalismus als „politökonomischer Großkampfbegriff“ habe ausgedient. Man könne ihn bestenfalls noch „adjektivistisch zur Charakterisierung personaler Eigenschaften gebrauchen“. Burger erläutert die Legende der angeblich wesensgemäßen Staatsfeindlichkeit des Liberalismus, die erst in Reaktion auf den sozialpolitischen Ausbau des Staates entstanden sei. Ebenfalls sei die Realisierung der Freiheit von Sitten im Liberalismus eine Legende. Burger erinnert, dass ganz im Gegenteil das Bürgertum durch Moralisierung den Adel zu Fall brachte und so an die Macht gelangte. Auch hänge der Liberalismus stark mit dem Kolonialismus zusammen. „Die Kolonien sind völkerrechtlich Inland, staatsrechtlich Ausland“ – mit diesem Sophismus habe man, so Burger, die geographische Aufteilung der Moral juristisch sanktioniert. Die Fremdenintegration wäre im Übrigen eine Folge des Kolonialismus, erinnert Burger.

Nietzsches Vision vom letzten Menschen werde wahr. Dieser wäre jedoch sehr gefährlich, beendet Burger seinen Vortrag, denn er lebe „sozialverträglich, ganz wie Rorty es wollte, distanzlos und freundlich, mit anglischem Lächeln stets um den Nächsten bekümmert, ohne vertikale (d.h. religiös-metaphysische) und ohne horizontale (d.h. politisch-historische) Transzendenz seinen asketischen Hedonismus nach einem genau kalkulierten Ernährungsplan.“

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 3. Tag: Rudolf Burger. Rez.: Ingrid Reichel

14. Philosophicum Lech - 3. Tag: Wolfgang Fach. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
MENSCH UND STAAT: EINE PERMANENTE WECHSELSEITIGKEIT

 
WIE VIEL MENSCH BRAUCHT DER STAAT?
Univ. Prof. Dr. Wolfgang Fach
Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte (Universität Leipzig)
25.09.2010, 09.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Von der ursprünglichen Frage des Philosophicums „Wie viel Staat braucht der Mensch“ wagt Wolfgang Fach die Umkehrfrage - „Wie viel Mensch braucht der Staat“ – um daran zu erinnern, dass auch diese Medaille zwei Seiten hat. Zwei konkurrierende Antworten stellt Fach zur Diskussion auf die Frage „Warum beide – Staat und Mensch – doch meistens auf ihre Kosten kommen?“

  1. Der Staat müsse über hinreichende Macht verfügen, um den Eigensinn und (un)Willen des Menschen zu brechen.
  2. Oder alternativ, müsse es dem Staat gelingen, den Menschen (seinen Kontrahenten!) gewaltfrei so zu normieren, dass dieser willentlich tut, was er tun sollte.
  3. Fach schlägt noch eine weitere Antwort vor: Staat und Mensch stellen sich - bewusst oder unbewusst – in Form eines Tauschs unter genannten Bedingungen wechselseitig aufeinander ein.

Diese Theorie erläutert Fach humorvoll-makaber anhand Schillers „Kabale und Liebe“ als während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges auf der Seite der Engländer „Leasing-Truppen“ (vor allem hessische) kämpften.

Der Tausch funktioniere demnach so: „Mensch und Staat verlangen voneinander nicht viel und geben einander wenig.“ Doch woher kommen die Gleichgewichtspunkte und wo liegen sie? Es liege wohl an einem gemeinsamen Erwartungshorizont oder Bezugsrahmen (frame of reference) analysiert Fach, welches das Wissen voneinander zu einem berechenbarem Miteinander führe. Ansonsten käme es zu einem Kommunikationsabbruch und einer gegenseitigen Blockade. Das Problem der „doppelten Kontingenz“ müsse also gelöst werden. Opportunitäts- und Organisationsstrukturen wären hierfür Voraussetzung.

Fach erläutert dies an weiteren „alltagstauglichen Beispielen“ in der Literatur: „The organiziation man, the political man oder the common man, den seine Verteidiger auch als the forgotten man nennen, sind feste Begriffe, die für konsolidierte Verhaltensmuster stehen und gleichgewichtige Lösungen anzeigen.“

Während der Organisationsmensch dem Berufsbeamten ähnle und laut Ansicht des deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1927-1998) einer „bezahlten Indifferenz“ gleichkäme, spüre man beim politischen Menschen eine Politik-Verdrossenheit. Fach zitiert hierbei mehrfach den deutschen Philosophen G.W.F Hegel (1770-1831), denn von einem allgemeinen Wahl-Drang, dem engagierten Zugriff auf das erkämpfte oder eingeräumte Recht auf politische Mitbestimmung, war Hegels Beobachtung nach nichts zu spüren. Fach verweist auf die niederen Wahlbeteiligungen von „60, 50 oder auch mal, wie in Amerika, magere 20 Prozent“. Hierbei ließ Fach den US-Soziologen Seymour M. Lipset (1922-2006) nicht unerwähnt, der sich von der Wahlabstinenz seiner Landsleute nicht beunruhigt zeigte: „ Was Besseres, fragt er, als ein Haufen apathischer (Nicht-)Wähler kann der Demokratie eigentlich passieren?“ Eine Denkrichtung argumentiert, dass ein Zeichen der allgemeinen Zufriedenheit eine geringe Wahlbeteiligung sei. „Hohe Wahlbeteiligung wäre demnach das Symptom für einen decline of consensus.“ Feststehe, so Fach, dass vom political man in funktionierenden Demokratien keine Wunderdinge erwartet werden. Die Vermutung, dass wenn mehr als 90 Prozent zur Wahl gingen, dort der unmittelbare gesellschaftliche Zerfall drohe, sei allerdings umstritten. Dies führe zum dritten Typus, dem common man, auch forgotten man genannt. Nach dem US-Soziologen William Graham Sumner (1840-1919), wären dies jene Bürger, die brav ihre Schulden und Steuern bezahlten und von dem man außerhalb seiner kleinen Welt nichts höre. Die kurzum in einer Politik, die Schweigen nicht honoriert, vergessen werden. Da laut Michael Mann (*1942), einem englischen Soziologen, sich der Sinn des Lebens im Alltag entfalte, sieht Fach auch keine Gefahr, dass die „ominösen Lichter“ ohne politischen Konsens ausgingen. Die Sicherheit bestehe vielmehr in der Schulden- und Steuerzahlung, erst wenn dieser Zahlungsprozess nicht mehr organisiert werden könne, dann wäre der Zusammenhalt gefährdet, das sehe man anhand der Krisenzeiten. Normalität sei eben nicht kostenlos!

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 3. Tag: Wolfgang Fach. Rez.: Ingrid Reichel

14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Ulrike Ackermann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
MEHR MÜNDIGKEIT FÜR DEN BÜRGER

 
PATERNALISMUS ODER BÜRGERLICHER EIGENSINN: WIE HALTEN WIR ES MIT DEM STAAT?
Prof. Dr. Ulrike Ackermann
Professorin für politische Wissenschaften (SRH Hochschule Heidelberg)
24.09.2010, 17 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Die 1957 geborene Frankfurter Politikwissenschafterin und Publizistin Ulrike Ackermann hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem Vater Staat gemacht. Als die Berliner Mauer noch aufrecht stand, Ost und West getrennt waren, geriet sie mit den Gesetzen der damaligen kommunistischen Regierungen in Konflikt. Sie zog ihre Konsequenzen daraus und wurde zur Friedenssprecherin. Nach einem Gefängnisaufenthalt weiß sie, was Freiheit bedeutet. Die Freiheit ist unser größtes Gut. Ackermann plädiert nicht nur für die Freiheit, sondern auch für Mündigkeit und Eigenverantwortung des Bürgers.

Ackermann schwebt nicht in Illusionen. Freiheit schätzt man erst, wenn man sie nicht mehr hat. Die Sehnsucht nach einer behaglichen, sicheren Welt (Sigmund Freud) würde dem Bürger nicht auf Schutz verzichten lassen. Nach der Kirche diene nun der Staat als Vaterersatz. Dies wäre zumindest das deutsche Verständnis vom deutschen Sozialstaat. Und ein Wunschbild. Schon Ludwig von Mises konstatierte den Hass auf den Liberalismus, zitiert Ackermann. Die Gleichheit der Bürger im Sinne der Französischen Revolution und der amerikanischen Verfassung wäre weitgehend auf eine soziale Gleichheit „zusammengeschmolzen“. Der Bürger beziehe seine Identität aus dem Sozialstaat. Immerhin würden bereits 40 % der dt. Bürger ihren Lebensunterhalt aus Transferleistungen des Staates in Form von Alters- und Invalidenrenten, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe oder öffentliche Stipendien bestreiten. Der Konkurs der nachfolgenden Generationen sei vorprogrammiert. Ökonomen hätten bereits in den 70er Jahren davor gewarnt. Doch Otto Bismarcks staatliche Sozialpolitik, eine Melange aus Etatismus und Korporatismus, habe sich tief in die deutsche Mentalität eingegraben, so Ackermann. „Anstatt im marktwirtschaftlichen Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren und zugleich ein Entmachtungsinstrument zu sehen, wächst bei Bürgern und in der politischen Klasse erst recht angesichts der gerade zurückliegenden Banken- und Wirtschaftskrise wieder das antikapitalistische Ressentiment.“, erklärt Ackermann, „Freiheit ist in den Köpfen zur kalten Freiheit des Kapitalismus geworden, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziere. Und flugs wird sie mit dem zum Lieblingsschimpfwort gewordenen Neoliberalismus gleichgesetzt.“ Den Neo- und Ordoliberalen ging es jedoch seinerzeit nicht um die Schwächung des Staates gegenüber der Wirtschaft, sondern um die Suche nach einer Wettbewerbsordnung, die Chancen für alle ermöglichte, aber niemandem Privilegien gewährte.

„Wenn angeschlagene Banken und Unternehmen, so bald es schwierig wird, den Staat anrufen und großzügig ignorieren, dass die wirtschaftliche Freiheit mit Haftung, d.h. Verantwortung verbunden ist, warum sollen es dann die Bürger nicht auch so halten?“, fragt Ackermann. Die Konsequenz daraus wäre, dass mit der Erweiterungen der sozialen Rechte und Garantien, der Staat für alle Lebensrisiken haftbar gemacht und der Bürger entmündigt wird. Ackermann spricht von einer Infantilisierung der Gesellschaft. Denn trotz Sehnsucht und Geborgenheit nach dem allmächtigen Vater Staat gibt es einen Individualisierungsprozess. Wir verdanken ihn der Moderne seit der Aufklärung. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die jedem die Möglichkeit der Entfaltung seiner Person garantiert, produziert daher zwangsläufig Ungleichheit, da wir unser Leben frei nach unseren Wünschen gestalten. Gerade die individuellen Lebensexperimente wären das Salz in der Erde und ließen die Menschheit fortschreiten. Erst durch Eigenverantwortung, nehme der Einzelne am „gattungsgeschichtlichen Fortschritt- und Erkenntnisprozess“ teil. Ackermann, die 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung gründete und es auch leitet, beruft sich hierbei an den britischen Philosophen und Ökonomen als einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts. Mill bekannte sich zur moralischen Neutralität. Seine Mahnung vor einem staatlichen Paternalismus sei daher aktueller denn je.

Ein schlanker aber dennoch starker Staat könne den Rahmen für eine liberale Demokratie bieten, in der selbstbewusste Bürger ihre wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit zu einem Lebensexperiment nutzen; ein Staat, der sich vor allem seiner Neutralität bewusst ist und weder Recht noch Politik moralisiert; ein Staat, der sich nicht als Unternehmer aufspielt, seine Interventionslust zurückhält und die Eigeninitiativen der Bürger nicht in paternalistische Fürsorge erstickt. Denn, es gibt keine bestimmte Konzeption des guten Lebens, die für alle gültig wäre, sehr wohl „[…] aber das Recht eines jeden, frei und gleich geboren, sein jeweiliges Glück zu verfolgen.“, schließt Ackermann ihren Beitrag.

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 2. Tag: Ulrike Ackermann. Rez.: Ingrid Reichel