Philosophie

14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Ulrike Ackermann. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
MEHR MÜNDIGKEIT FÜR DEN BÜRGER

 
PATERNALISMUS ODER BÜRGERLICHER EIGENSINN: WIE HALTEN WIR ES MIT DEM STAAT?
Prof. Dr. Ulrike Ackermann
Professorin für politische Wissenschaften (SRH Hochschule Heidelberg)
24.09.2010, 17 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Die 1957 geborene Frankfurter Politikwissenschafterin und Publizistin Ulrike Ackermann hat ihre eigenen Erfahrungen mit dem Vater Staat gemacht. Als die Berliner Mauer noch aufrecht stand, Ost und West getrennt waren, geriet sie mit den Gesetzen der damaligen kommunistischen Regierungen in Konflikt. Sie zog ihre Konsequenzen daraus und wurde zur Friedenssprecherin. Nach einem Gefängnisaufenthalt weiß sie, was Freiheit bedeutet. Die Freiheit ist unser größtes Gut. Ackermann plädiert nicht nur für die Freiheit, sondern auch für Mündigkeit und Eigenverantwortung des Bürgers.

Ackermann schwebt nicht in Illusionen. Freiheit schätzt man erst, wenn man sie nicht mehr hat. Die Sehnsucht nach einer behaglichen, sicheren Welt (Sigmund Freud) würde dem Bürger nicht auf Schutz verzichten lassen. Nach der Kirche diene nun der Staat als Vaterersatz. Dies wäre zumindest das deutsche Verständnis vom deutschen Sozialstaat. Und ein Wunschbild. Schon Ludwig von Mises konstatierte den Hass auf den Liberalismus, zitiert Ackermann. Die Gleichheit der Bürger im Sinne der Französischen Revolution und der amerikanischen Verfassung wäre weitgehend auf eine soziale Gleichheit „zusammengeschmolzen“. Der Bürger beziehe seine Identität aus dem Sozialstaat. Immerhin würden bereits 40 % der dt. Bürger ihren Lebensunterhalt aus Transferleistungen des Staates in Form von Alters- und Invalidenrenten, Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe oder öffentliche Stipendien bestreiten. Der Konkurs der nachfolgenden Generationen sei vorprogrammiert. Ökonomen hätten bereits in den 70er Jahren davor gewarnt. Doch Otto Bismarcks staatliche Sozialpolitik, eine Melange aus Etatismus und Korporatismus, habe sich tief in die deutsche Mentalität eingegraben, so Ackermann. „Anstatt im marktwirtschaftlichen Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren und zugleich ein Entmachtungsinstrument zu sehen, wächst bei Bürgern und in der politischen Klasse erst recht angesichts der gerade zurückliegenden Banken- und Wirtschaftskrise wieder das antikapitalistische Ressentiment.“, erklärt Ackermann, „Freiheit ist in den Köpfen zur kalten Freiheit des Kapitalismus geworden, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziere. Und flugs wird sie mit dem zum Lieblingsschimpfwort gewordenen Neoliberalismus gleichgesetzt.“ Den Neo- und Ordoliberalen ging es jedoch seinerzeit nicht um die Schwächung des Staates gegenüber der Wirtschaft, sondern um die Suche nach einer Wettbewerbsordnung, die Chancen für alle ermöglichte, aber niemandem Privilegien gewährte.

„Wenn angeschlagene Banken und Unternehmen, so bald es schwierig wird, den Staat anrufen und großzügig ignorieren, dass die wirtschaftliche Freiheit mit Haftung, d.h. Verantwortung verbunden ist, warum sollen es dann die Bürger nicht auch so halten?“, fragt Ackermann. Die Konsequenz daraus wäre, dass mit der Erweiterungen der sozialen Rechte und Garantien, der Staat für alle Lebensrisiken haftbar gemacht und der Bürger entmündigt wird. Ackermann spricht von einer Infantilisierung der Gesellschaft. Denn trotz Sehnsucht und Geborgenheit nach dem allmächtigen Vater Staat gibt es einen Individualisierungsprozess. Wir verdanken ihn der Moderne seit der Aufklärung. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die jedem die Möglichkeit der Entfaltung seiner Person garantiert, produziert daher zwangsläufig Ungleichheit, da wir unser Leben frei nach unseren Wünschen gestalten. Gerade die individuellen Lebensexperimente wären das Salz in der Erde und ließen die Menschheit fortschreiten. Erst durch Eigenverantwortung, nehme der Einzelne am „gattungsgeschichtlichen Fortschritt- und Erkenntnisprozess“ teil. Ackermann, die 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung gründete und es auch leitet, beruft sich hierbei an den britischen Philosophen und Ökonomen als einer der einflussreichsten Denker des 19. Jahrhunderts. Mill bekannte sich zur moralischen Neutralität. Seine Mahnung vor einem staatlichen Paternalismus sei daher aktueller denn je.

Ein schlanker aber dennoch starker Staat könne den Rahmen für eine liberale Demokratie bieten, in der selbstbewusste Bürger ihre wirtschaftliche, politische und individuelle Freiheit zu einem Lebensexperiment nutzen; ein Staat, der sich vor allem seiner Neutralität bewusst ist und weder Recht noch Politik moralisiert; ein Staat, der sich nicht als Unternehmer aufspielt, seine Interventionslust zurückhält und die Eigeninitiativen der Bürger nicht in paternalistische Fürsorge erstickt. Denn, es gibt keine bestimmte Konzeption des guten Lebens, die für alle gültig wäre, sehr wohl „[…] aber das Recht eines jeden, frei und gleich geboren, sein jeweiliges Glück zu verfolgen.“, schließt Ackermann ihren Beitrag.

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 2. Tag: Ulrike Ackermann. Rez.: Ingrid Reichel

14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Hans-Hermann Hoppe. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DER STAAT: EIN KONFLIKTERZEUGER, STATT VERMEIDER

 
STAAT ODER PRIVATRECHTSGESELLSCHAFT?
em o. Univ.-Prof. Dr. Hans-Hermann Hoppe (Uni Nevada, Las Vegas, emeritiert 2008)
24.09.2010, 15.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Für Aufregung sorgte in Lech Hans-Hermann Hoppe, der in Istanbul lebende deutsche, emeritierte Professor für Wirtschaft, Gründer und Präsident der Property and Freedom Society. Moderatorin Elisabeth Nöstlinger stellt ihn als Anarchisten vor, während Konrad Paul Liessmann das Publikum gleich vorweg auf eine Provokation vorbereitete und ihn in einem Radiointerview (Ö1, 29.09.2010, 21 Uhr) als Vertreter eines „militaren Kapitalismus“ bezeichnete. Hoppe nannte den österreichisch-amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftheoretiker Ludwig von Mises als seinen „persönlichen, intellektuellen Lehrmeister“. Dieser schrieb in seinem Werk „Liberalismus“ (Jena, 1927, online S. 41ff): „Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben. Doch die Politik, die im Augenblick Rettung gebracht hat, ist nicht von der Art, daß das dauernde Festhalten an ihr Erfolg versprechen könnte. Der Faszismus war ein Notbehelf des Augenblicks; ihn als mehr anzusehen, wäre ein verhängnisvoller Irrtum.“ (Quelle Wikipedia.)

Hoppe spaltete tatsächlich in kürzerster Zeit die Zuhörer in zwei Lager. Am Abend wurde in der Philosophen Bar im Hotel Krone noch heftig weiter debattiert. Ich persönlich wurde während eines Abendessens im Restaurant Hus Nr. 8 sogar Zeuge eines in Euphorie entstandenen Gedankens einer spontanen Fanclubgründung für Hoppe, während Hoppes Gegner sich nicht unbedeckt hielten, sondern sich schon während der Podiumsdiskussion voll Unmut zu Wort meldeten.

Hoppe beginnt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass Robinson Crusoe wunderbar alleine leben konnte. Erst die Anwesenheit von Freitag brachte Probleme mit sich. Sobald Ressourcenknappheit herrsche, käme es zum Konflikt. In diesem und unserem Schlaraffenland müssten daher Regeln existieren, die ein Zusammenleben ermöglichen. Er, Hans-Hermann Hoppe hätte die Lösung!  … Oder zumindest eine Idee: die Idee des Privateigentums. In seinem Schlaraffenland wäre man frei, könne man tun und lassen, was man wolle, wirbt er weiter mit seiner Idee. Doch auch diese Freiheiten hätten Grenzen, denn sie enden dort, wo üblicherweise, die der anderen beginnen.

Vier Regeln listet Hoppe auf:

  1. Jede Person ist der exklusive Eigentümer ihres physischen Körpers.
  2. Jede Person ist Privateigentümer der naturgegebenen Güter, die sie zuerst als knapp wahrgenommen hat und selbst zu nutzen und zu bearbeiten begonnen hat.
  3. Jede Person ist Eigentümer, der von ihr selbst angeeigneten oder selbst hergestellten Güter.
  4. Güter, die durch gemischte Arbeitsteilung entstanden sind, können nur noch auf dem Weg eines freiwilligen, wechselseitigen, vorteilhaften und konfliktfreien Eigentumstitels übertragen werden.

Der wesentliche Unterschied zwischen Staat und PRG, erklärt Hoppe, liege im Wort: Vertrag.

„Der Staat operiert als ultimativer Rechtsmonopolist in einem vertraglosen rechtlichen Vakuum. Es gibt keinen Vertrag zwischen Staat und Bürger. […]“, meint Hoppe.

Auf ethische und ökonomische Rechtfertigungen dieser Regeln verzichtet Hoppe in diesem Vortrag. Nur solches sei kategorisch festzuhalten: Der Zweck von Normen diene dazu, die ansonsten unvermeidbare Konflikte zu vermeiden. Ein Staat also, der Gesetze aufstellt, die wiederum Konflikte erzeugen, statt sie zu vermeiden, sei eine Perversität.

Die Einsicht (!) in die Alternativlosigkeit der Einrichtung des Privateigentums als Mittel zur Konfliktlösung reiche jedoch nicht aus, soziale Ordnung zu schaffen, so Hoppe. „So lange die Menschen sind, wie sie sind, wird es auch Mörder, Räuber, Diebe und Betrüger geben, die sich nicht an die erläuterten Regeln halten.“, fährt Hoppe fort. Die (einzige) Aufgabe des Staates, Recht und Ordnung durchzusetzen, wäre laut Hoppe nicht nur die vornehmste, sondern gehöre zu den Grundirrtümern des Etatismus, denn er stehe im Widerspruch zu elementaren ethischen und ökonomischen Grundsätzen und Gesetzen. Die Monopolstellung des Staates wäre aus Sicht des Konsumenten „schlecht“ und würde sich mit der Aufgabe der Rechtssicherheit nicht vereinbaren lassen. Diesen Umstand, kritisiert Hoppe, bereite Ökonomen und Philosophen wenig Sorgen. Und wenn, dann würde man das Monopol in Zweifel ziehen, nicht aber die Rechtssicherheit, die doch laut amerikanischer Unabhängigkeitserklärung als Schutz von Leben, Eigentum und dem persönlichen Glücksstreben, vor innerer und äußerer Aggression, d.h. Kriminalität und Krieg zu deuten sei. Da der Staat aber selbst die Konflikte erzeuge und er aber die Letztentscheidungsinstanz habe, wird er zu seinem eigenen Gunsten entscheiden, daran könne weder eine Verfassung noch ein Gericht etwas ändern. Darüber hinaus verfüge der Staat über „territoriale Steuerhoheit“, erläutert Hoppe weiter. Der Staat als „enteigneter Eigentumsschützer“ wäre natürlich interessiert, „die Ausgaben für Sicherheit zu maximieren und gleichzeitig die tatsächliche Produktion von Sicherheit zu minimieren“.

Klar, mit fremdem Geld arbeitet es sich immer sorgloser, als mit dem eigenen Kapital …

Hoppe verweist auf weitere etatistische Grundirrtümer. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz wofür man die Monarchie durch die Demokratie ersetze, sei unvereinbar mit der Idee eines „universellen Rechtes“. Denn der einstige Dualismus in der Monarchie (höheres Recht für König und Adel, niederes Recht für die Untertanen) entwickelte sich zu einem Dualismus zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Statt personeller Privilegien und privilegierter Personen, gäbe es nun funktionelle Privilegien und privilegierte Funktionen.

Hoppe sieht daher die Lösung, wie schon oben angedeutet, in der Privatrechtsgesellschaft (PRG). Die „Produktion von Sicherheit (Recht und Ordnung)“ in einer PRG sieht Hoppe von freifinanzierten, im freien Wettbewerb stehenden Dienstleistungsunternehmen wie „private Polizei-, Versicherungs- und Schlichtungsagenturen“ erledigt, sowie auch die übrigen Güter und Dienstleistungen. Es sei vermessen genaue Prognosen über die Struktur der in einer PRG entstehenden „Sicherheitsindustrie“ (!) erstellen zu wollen, warnt er. Selbstverteidigung wäre in einer PRG unbestritten, spiele im Rahmen einer komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft jedoch eine nebengeordnete Rolle.

Für Hoppe scheint der freie Wettbewerb die Lösung allen Übels zu sein. Er geht in seinen Schilderungen bis hin zur Verfolgung „opferloser Verbrechen“, die da wären: Herstellung oder Konsum illegaler Drogen, Prostitution und Glückspiel. Diese würden in einer PRG auch keine Rolle mehr spielen, da „diese Verbrechen, im Unterschied zu einem echten Verbrechen gegen Person und Eigentum, keinerlei Opfer erzeugen, würde sich niemand finden, der für einen derartigen Schutz mehr Geld auszugeben gewillt ist.“

Bevor sich Hoppe in noch mehr Widersprüche verstricken konnte, frohlockte, der sich bereits in einem System von Frieden, Recht und Rechtssicherheit wiegende Vortragende noch mit der Tendenz einer systematischen „Volksbewaffnung“.

 September 2010

14. Philosophicum  Lech - 2. Tag: Hans-Hermann Hoppe. Rez.: Ingrid Reichel

14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Sonja Puntscher Riekmann. Rez.: Eva Riebler

Eva Riebler
KONSENS UND DISSENZ

 
 

 
DER STAAT ZWISCHEN PASTORAL UND PHOBIE. EINE KRITIK NEUER STAATSDISKURSE.
Univ. Prof. Dr. Sonja Puntscher Riekmann
24.09.2010, 11 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

 
 

Univ. Prov. S. Puntscher-Riekmann beschäftigt sich vorerst mit dem Verhältnis Staat und Wirtschaft der letzten 30 Jahre, das das Verhältnis von sozialer und ökonomischer Verantwortung spiegelt.
Sie geht der Frage nach: Wer ist der Hirte des Staates? Verschwindet durch die Union die staatliche Macht?
Sie zeigt, dass bei einem marktorientierten Staat kein Schutz für Individuen und Gruppen gegeben sei. Das Gemeinwohl trägt der Entgrenzung Rechnung, internationale Regime wollen ohne Staaten Recht sprechen, was ein Problem der Legitimität nach sich zieht.
Gibt es Wirtschaftskrisen wie 2007-09 so soll der Staat Rettungsschirm für Banken sein und um Schadensbegrenzung sich bemühen.
Auch Terrorakte wie 9/11 können einem Staat und seinen militärischen Zielen Aufrieb und öffentliches Verständnis bringen.
Im Weiteren greift Puntscher-Riekmann auf das Mittelalter und die Staufer-Zeit zurück und zeigt die Aufgabenbeschränkung des Kaisers sowie die mögliche Kriegsvermeidung mittels Rechtsfindung. Souveränitätsansprüche nach außen werden abgedeckt und nach innen entstehen handlungsfähige Administrationen. Vor allem im Ausnahmezustand wird die Macht des institutionellen Betriebes sichtbar. Revolutionäre Regime jedoch müssen Ethos und Nomenklatur schaffen.
Was wiederum zur Union überleitet:
Eine Mixtur aus supranationalen und nationalen Überwachungsmechanismen ist notwendig und verlangt einen erheblichen Aufwand an Kommunikation zwischen den Ebenen.
Der Vertrag von Lissabon hat ihrer Meinung nach einen qualitativen Sprung in der Demokratiefrage gebracht, besonders das Avancement des EP (Europäischen Parlaments) zum wirklichen Co-Gesetzgeber ist eine Errungenschaft, die sich nun in den Verhandlungen punkto Finanzaufsicht zeigt. Ansonsten gilt: Der Vertrag von Lissabon konnte die Ambiguitäten nicht ausräumen und die Einheit ist nicht so weit gediehen, dass die Pendelschläge zwischen Konsens und Dissens langsamer werden. Die Verfassungsgeschichte der Union bleibt offen.

 
 

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 2. Tag: Sonja Puntscher Riekmann. Rez.: Eva Riebler

14. Philosophicum Lech - 2. Tag: Herfried Münkler. Rez.: Eva Riebler

Eva Riebler
VON TERRITORIALITÄT, LOYALITÄT UND INTERESSENSKALKÜL

 

DIE TERRITORIALISIERUNG DES POLITISCHEN.
DER NEUZEITLICHE FLÄCHENSTAAT
ALS POLITISCHE ORDNUNGSFORM:
KONSEQUENZEN UND ALTERNATIVEN.
Univ. Prof. Dr. Herfried Münkler

24.09.2010, 09.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

 

 
 

Unterschieden wird zwischen einem transhistorisch-universalen (= alle Formen politischer Organisationen) und einem historisch-konkreten (=institutioneller Flächenstaat) Staatsbegriff.
In Europa ist der normale Staat an die Begrenzung der Fläche gebunden, jedoch leben Bürger verschiedener Ethnien in ihm. Kommt nicht die Nationalität sondern die Souveränität und Territorialität zur Deckung, ist dieser Staat handlungsfähig. Jedoch ist heute Patrimonalismus und Klientelismus im Vormarsch.
Das klassische Ideal beruhte auf einem System institutionalisierter Kompetenzen, die von der Gesellschaft apart und für ihren Einfluss unzugänglich waren. Die Realität entsprach dem nicht immer, denn die Beamten des Erfüllungsstaates entwickelten ihr eigenes Ethos, konnten korrupt oder korruptionsresistent sein und aufopfernd dem Gemeinwohl dienen oder auch nicht. Die Treue der Beamten musste durch Interessenskalkül abgesichert werden, z.B. lebenslange Pensionen. In modernen Staatsgebilden, die im 20. Jhdt. erst entstanden sind, ist die Zuverlässigkeit der Administration, auf die sich die Loyalität der Bürger begründet, nicht vorhanden. Ein Staat zerfällt umso schneller, je weniger er die Mittel hat, die sozial destruktiven Effekte der Globalisierung ausgleichen zu können.
Dem Flächenstaat entgegen entwickelten sich nicht territorial gebundene Kaufmannschaften, Ritterorden u.a. Die Ritterorden z.B. mussten zerschlagen werden oder einen eigenen Flächenstaat für sich erobern.
Erst die Gleichartigkeit der politischen Akteure sichert die Symmetrie der strategischen Kreativität, politischen Rationalität und völkerrechtlichen Legitimität als unverzichtbare Vorraussetzung für die Stabilität des Staatssystems.
Die Kosten der Bewaffnung und Verteidigung des Territoriums brachte zur Zeit der industriellen Revolution Bündnissysteme hervor. Notwendigerweise bringen überregionale Waffenbündnisse den Zerfall der einzelnen Territorien mit sich.
Der Staat wird Mühe haben, sich in seiner gegenwärtigen Position zu verteidigen.
Eine weltpolitische Ordnung gleichberechtigter - weil gleichartiger - Staaten ist hinfällig geworden.

 
 

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 2. Tag: Herfried Münkler. Rez.: Eva Riebler

14. Philosophicum Lech - 1. Tag: Polis und res publica - Christian Meier. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
UNSERE ENTWICKLUNG ZUM STAAT?

 
POLIS UND RES PUBLICA
Univ. Prof. Dr. Dr. hc. Christian Meier
Professor für alte Geschichte (Uni München, emeritiert 1997)
23.09.2010, 18 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg

Christian Meier ist Spezialist für Alte Geschichte. In seinem Vortrag erörtert er die Entwicklung der Staatsherrschaften von der griechischen polis zur römischen res publica.

Meier beschreibt das Leben in der polis, das einem Stadtstaat gleichkam. Es bildeten sich kleine Gemeinden mit Amtsträgern, die nicht zu viel Macht hatten. Abgesehen von den üblichen Problemen des Zusammenlebens funktionierten die poleis insofern sie sich nicht vergrößert haben, noch vertreiben ließen, sondern Kolonien gegründet haben. Sie definierten sich aber nicht über ihr Territorien, sondern über ihre Mitglieder. Zwischen den poleis entstanden Handel und Reisen. Politisch eingebunden war man jedoch nur in der häuslichen Gemeinde, wobei jeder für die polis verantwortlich war, so Meier. Der Drang zur Homogenität (Gleichheit) war stark, alles was sich absonderte wurde gering geschätzt. Keine Abstraktionsfähigkeit war möglich. Die Frauen hatten beispielsweise in der Öffentlichkeit nichts zu suchen, auch grenzte sich die Oberschicht nicht am Standesdünkel ab.

Kontakte zu orientalischen Kulturen brachten mit neuen Erfahrungen auch neue Bedürfnisse, die zwangsläufig wiederum zu Konflikten führten. Doch die polis setzte sich immer wieder durch, sei es durch Zurückstecken der Oberschicht oder das Gegengewicht der Oberschicht. Vertreter von Ratsherrn durften nur zweimal hintereinander gewählt werden und später nicht mehr als zweimal im Leben Ratsherr sein. Hier wurden nicht nur politische Institutionen und Regeln festgelegt, sondern eine ganze Kultur war im Entstehen.

Meiers These nach liege die Freiheit in der neuen Konsolidierung in das, was sich damals als griechische Kultur herausgebildet hat. Nach dem Konflikt mit den Persern entstand schließlich die Demokratie, obwohl die breite Bürgerschaft zunächst nur eine Gegenmacht zur Obrigkeit gebildet hat. Die Demokratie wurde zur Volksherrschaft ausgebaut. Schon Sokrates wunderte sich mit wie wenig Bildung man Politik machen konnte, erzählt Meier verschmitz weiter. Den Freiheitsbegriff in der polis definiert Meier als Eigenschaft derer, die sich Zusammengeschlossen haben, Verantwortung zu tragen. Es bestand Religionsfreiheit, frei von Geschlecht und Familienbildung. Die polis bildete den besten Ausgangspunkt einem Volk Sicherheit zu vermitteln, schwärmt Meier weiter.

In der Spätantike erlebte die polis einen langsamen Niedergang, da sich das römische Reich auf die bereits nur mehr halbautonomen poleis stützten. Die islamische Expansion führte zum endgültigen Untergang.

Im Gegensatz zur polis war das alte Rom mit Herrschaftssymbolen ausgestattet. Typisch für die römische Politik waren die Patrizier, die den späteren Adelsstand und einen geschlossenen Kreis von Geschlechtern bildeten. Gebunden in ihrem Stand waren sie Mitglieder der einzelnen Häuser und nicht der Gemeinschaft. Sie waren verantwortlich für Ämter und Götter. Dies erzeugte einen Konflikt. Die Plebejer (Bauern und Handwerker) bildeten das concilium plebis.

Meier ging noch eine Weile auf das römische Herrschaftssystem der gemeinsamen Führung der Plebs und Patrizier ein und beendete seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass sich unsere Entwicklung seit der Antike stark verändert hat. Viele Einflüsse waren notwendig um das Europa von heute entstehen zu lassen.

LitGes, September 2010

14. Philosophicum  Lech - 1. Tag: Polis und res publica - Christian Meier. Rez.: Ingrid Reichel