14. Philosophicum - 1. Tag: Einführung - Konrad Paul Liessmann. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel DARF’S A BISSERL MEHR ODER WENIGER SEIN? DER STAAT EIN PARADOXON?
DER STAAT. WIE VIEL HERRSCHAFT BRAUCHT DER MENSCH?
Einführung
Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessman Professor für Philosophie (Uni Wien) und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicums Lech
23.09.2010, 17.30 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg
Wie der Titel bereits impliziert, erläutert Liessman die Unentschlossenheit in der sich der Bürger befindet, wenn es um die Quantität der Macht geht, die er zu ertragen hat oder nach der er sich sehnt. Der väterliche Staat, der sich fürsorglich um all unsere Defizite kümmert, der unser Altersvorsorge sichert, sich um unsere Gesundheit sorgt, uns eine Hygiene, eine gute Ausbildung und Bildung ermöglicht, uns Jobs garantiert, für die Gleichberechtigung kämpft, uns vor Feinden beschützt etc…, besitzt auch die elterliche Autorität gegenüber Unmündigen. Inwiefern uns der Staat also in unserer Entwicklung zu einem verantwortungsvollen Bürger hindert oder unserer Unfähigkeit wohlwollend korrigiert, bildet die Kernfrage dieses Philosophicums.
Viele dieser Aufgaben, die der Staat übernommen hat, wurden in den letzten Jahren theoretisch und praktisch in Frage gestellt, so Liessmann. Man spricht vom „schlanken Staat“, der auf wenige Kernkompetenzen reduziert, dennoch die gesellschaftlichen und ökonomischen Defizite auszugleichen vermag. Ein Staat also, der zu einem unpolitischen Körper, einem Dienstleistungsunternehmen mit wenig Ausdruck von Macht mutiert.
Liessmann verweist auf den Beginn des neuzeitlichen politischen Denkens, als den Staat in seiner Funktionsbeschreibung mit dem Ziel, die Sicherheit und den Frieden seiner Bürger zu garantieren hatte. Liessmann untermauert seinen Gedanke mit Thomas Hobbes’ Staatsphilosophie, die er in seinem berühmten wie auch berüchtigten Werk „Leviathan“ formuliert hatte. (Siehe Artikel: Vorabend – Das Heulen der Wölfe). Hobbes schrieb: „[…] es stimmt sowohl, dass der Mensch dem Menschen gottgleich ist, als auch dass der Mensch dem Menschen unverhüllt ein Wolf ist“. In diesem „Doppelsatz“ sieht Liessmann die Position Hobbes’ charakterisiert. In seinem Naturzustand sei der Mensch als Einzelgänger tatsächlich für seine Mitmenschen gefährlich (Wolf), erst das Bündnis (Staat) zu seinen Mitmenschen ermögliche ein geregeltes vernünftiges Zusammenleben, und mache ihn „für seinesgleichen zu einem Gott“. Der Einzelne habe im Naturzustand keine gravierenden Unterschiede, daher führe diese „ursprüngliche Gleichheit“ in Zeiten der Not zum Kampf ums Überleben. Das Streben von Selbsterhaltung, Macht und Anerkennung führe jedoch nicht zu einem permanenten Krieg, sondern bedeute eine fortwährende Kriegsbereitschaft, ein Leben in Misstrauen und Furcht. Diese Dauerbereitschaft beginne laut Hobbes dort, „wo der Bürger nachts seine Tür versperrt“ und daraus ist ersichtlich, dass wir den Naturzustand noch nicht überwunden haben.
Der Mensch jedoch strebe auch nach Sicherheit und aus der Furcht heraus nach einem Arrangement. Vernunftgründe und Selbsterhaltung, nicht Solidarität, Gewissen oder Nächstenliebe wären hier Motor zu Gesellschaftsverträgen. In Hobbes Theorie funktioniert dies nur unter einem höchsten Gewalt und Machtprinzip: Der Bürger delegiert somit seine eigenen Machtansprüche an eine höhere Instanz. Auf Hobbes Theorie geht jedes Kernstück moderner Staatsidee zurück. Die eingeschränkte Freiheit ist die Kehrseite der Medaille, führt Liessmann fort, der „Überwachungsstaat“ eine mögliche Gefahr. Die prinzipielle Kritik am Staat sei daher fast so alt wie die Theorie des modernen Staates. Anarchistische Konzepte und Philosophien, die von der romantischen Idee beseelt waren, die uneingeschränkte Freiheit zu realisieren, bildeten sich im 19. Jahrhundert, ob durch Abschaffung oder, so wie Marx und Engels es proklamierten, durch Aufheben und Absterben des Staates. Die marxistische Vorstellung erinnere Liessmann paradoxerweise an Adam Smith’ radikal-liberale Konzeptionen, die allerdings nur einen Ordnungsfaktor zuließen: den Markt. Smith war Begründer der klassischen Volkwirtschaftslehre und sah den gesellschaftlichen Wohlstand in einem System der natürlichen Freiheit. Der Markt sollte wie eine „unsichtbare Hand“ die Interessen der Allgemeinheit wahrnehmen und lösen.
Mit Hegel, der den Staat für „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ hielt, schließt Liessmann seine Erläuterung über die paradoxe Einstellung, die wir gegenüber dem Staat haben.
LitGes, September 2010
14. Philosophicum - 1. Tag: Impulsreferat von Siegfried Wolf. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel DAS HEULEN DER WÖLFE
WIE DIE MACHT SCHMECKT Magna-Impulsforum: Dr. Siegfried Wolf
Podiumsdiskussion: Dr. Franz Fischler, Dr. Alfred Gusenbauer,
EU-Kommissar Dr. Günther Oettinger, Dr. Gerhard Schröder.
Moderation: Ingrid Thurnher
23.09.2010, 15.00 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg
Der Magna-Konzern ist Hauptsponsor des Philosophicums in Lech und obwohl Topmanager Siegfried Wolf im November den Stronach-Konzern verlässt und zu Basic-Elements nach Russland wechselt, ließ er es sich nicht nehmen mit seinem Impulsreferat „Wie die Macht schmeckt“ wie in den vorangegangenen Jahren auch das 14. Philosophicum zu eröffnen. Nicht nur Konrad Paul Liessmann bedauerte, dass dies sein letztes Impulsreferat in Lech sein wird.
Macht verursacht Neid, so Wolf, daher könne sie nicht süß schmecken. Auch wenn die Macht in einem breitem Spektrum unterschiedlich wahrgenommen wird, bedeutet sie in erster Linie: Verantwortung und Verpflichtung. MitdemAufhänger„Power without responsibility is not power, but irresponsibility!“ (Macht ohne Verantwortung ist keine Macht, sondern Unverantwortlichkeit) erläutert Wolf weiter, dass hinter der Macht auch die Verpflichtung im demokratischen Sinne stehe, sie auszuüben. In Zukunft stünde der Umgang mit Macht für die Philosophie im Vordergrund. Natürlich existierten globale Machtphänomene ohne Legitimität, die unser Leben stark beeinflussten und Territorien mit religiös motivierten Fanatismen, wo die Demokratie nur auf dem Papier stünde. Versteckte Bereiche lägen in der Erziehung und im Bildungswesen. Immerhin bestehe laut dem deutschen Soziologen Max Weber, die Chance innerhalb der Legitimität den eigenen Willen gegen andere durchzusetzen und die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen, sofern man den Willen dazu hat. Macht könne man nie endgültig besitzen, fährt Wolf fort, sie biete sich nur auf Zeit an und das um etwas Sinnvolles zu tun. Das Streben nach einem Amt und in der Konsequenz nach einer Wiederwahl führe allerdings zur Ambivalenz. Man müsse zwischen selbst herbeigeführter und unverschuldeter Macht wie Naturkatastrophen, die nicht nur in Entwicklungsländern zu einer Machtlosigkeit bzw. Ohnmachtsgefahr führen können, unterscheiden. Besonders in Zeiten von Krisen gebe es eine Verpflichtung zur Machtausübung, egal ob diese Krisen aus unzulänglichen Regelungen, Fehlentscheidungen seitens der Politik, mangelndem Willen verschiedener Lobbys, die stärker als staatliche Institutionen geworden sind, verursacht wurden. Warum nicht im Sinne Mahatma Gandhis handeln, habe die Welt doch genug für alle, nur nicht für die Gier und dem Kampf nach oben zu gelangen. Doch das System habe entschieden, das System wären aber wir alle. Um bei der Frage nach dem Geschmack der Macht zu bleiben, schließt Wolf mit der Erkenntnis, dass die Konsequenzen von Entscheidungen oft bitter sind. Die Struktur im System gehöre gestaltet, Eigeninteressen unter die der Allgemeinheit gestellt. Wolf glaubt an die Kraft der Überzeugung, des Willens und des Wissens.
Obwohl Siegfried Wolf genügend Inputs gegeben hat, versickerte die darauf folgende Diskussion mit den hochkarätigen Gästen in erschütternde Banalität. Mit der einleitenden Frage der Moderatorin Ingrid Thurnher, ob man gut schliefe mit so viel Macht, stellte sich letztendlich heraus, dass in gehobenen demokratisch gewählten politischen Ämtern sehr wohl gut geschlafen wird, da man relativ zum Status des Amtes kaum Macht besitze
Die „einzigen“ risikoreichen Entscheidungen – im Sinne einer gefährdeten Wiederwahl (!) - erinnert sich der deutsche Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder an seine Amtszeit, waren: Deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken, nicht in den Irak-Krieg einzusteigen und die Agenda 2010. Auf die Frage ob man nicht ausreichend Macht hat, den Kurs zu bestimmen, antwortete er: „Wir haben keine autonomen Entscheidungen zu treffen, wir tun oft so, sind aber von Investitionsentscheidungen abhängig.“ Die Macht wäre relativiert, weil andere Spieler zur gleichen Zeit im Spiel wären.
Der österreichische Ex-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer meinte: „Es kommt darauf an, was man vor hat.“ Man hätte es mit Widerständen zu tun und zu kontroversielle Projekte lieferten nicht nur Anhänger sondern auch Gegner. Wenn Not und Krise am Stärksten sind, dann hätte die Politik die größte Macht, da gebe es eine Regierung außerhalb von Kritik. Später weist er auf die fortschreitende Anonymisierung der Macht hin. Der Einzelne könne unter demokratischen Verhältnissen ein Gefühl der Mitentscheidung nur dann erlangen, wenn man die Macht personalisiere.
Viel klarer äußerte sich Ex-EU-Agrarkommissar Franz Fischler: „Die Macht, die man hat, gehört auch eingesetzt.“ Er plädiere für Machtübertragung. Der Umgang miteinander jedoch schrecke ihn. Hierbei fielen die Wörter Neid und Feind. Die Kunst des Mächtigen sehe er im Teamplay.
Der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg und seit Februar 2010 amtierender EU-Kommissar für Energie Günther Oettinger setzt das Adjektiv „schwierig“ zur Beschreibung der Machtausübung ein und erläuterte dies anhand verschiedener Beispiele: Als der britische Premier den BSE-Skandal bekannt gab, verkündeten Wissenschaftler am nächsten Tag die zu erwartende enorme Zahl der Todesfälle (100.000). Auch entziehen sich immer mächtiger werdende Machtinstrumente, wie das World Wide Web der demokratischen Kontrolle. Daher könne Macht nur durch strategisches Zusammenwirken von Machtelementen ausgeübt werden. Abgesehen von Schönwetterpolitik würden oft Entscheidungen, die zu keiner Problemlösung führen würden, getroffen werden, um die Probleme aufzuschieben.
Thurnher schloss die Podiumsdiskussion mit der Feststellung, dass Politiker erst nach ihrer Amtszeit sagen, was Sache ist.
LitGes, September 2010
14. Philosophicum - Vorabend: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel DAS HEULEN DER WÖLFE
DER MENSCH IST DES MENSCHEN WOLF Philosophisch-literarischer Vorabend mit Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann
22.09.2010, 18.00 Uhr
Neue Kirche, Lech am Arlberg
Es existiert ein jahrelang anhaltendes Spiel zwischen dem Autor und Mitinitiator des Lecher Philosophicums Michael Köhlmeier und dem philosophischen Leiter des Philosophicums Konrad Paul Liessman, erklärt charmant Köhlmeier am Vorabend der Eröffnung des 14. Philosophicums in Lech. Das Spiel bestehe darin, dass Köhlmeier wohl vorbereitet Geschichten - großteils aus der Antike – zum Thema erzählt und Liessmann „unvorbereitet“ ad hoc dazu Stellung beziehen muss.
Das heurige Thema ist: „Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht der Mensch?“
Unter dem Titel „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ geht Köhlmeier eloquent auf die Gründung verschiedener Städte ein, wie Theben, Troya und Rom. In der Reflektion wird klar, dass eine Stadtgründung nur in der Gemeinschaft möglich ist. Und nach der Antike am Bsp. Kadmos oft nur ein Zufall den Gründungsort bestimmt. Dass durch die Gemeinschaft auch Konflikte entstehen, versteht sich von selbst und dass es letztlich nur an jedem Einzelnen liege, wie man diese Probleme bewältigt und zu einer friedlichen Basis führen kann. Unterstützend hierbei kann eine sinnvolle Rechtsordnung sein, die bereits eine Herrschaft implementiert, eine Herrschaft um den Friedens Willen.
Eine vorsichtige Aufwärmrunde für das brisante Thema, wenn man sich den Titel der Abendveranstaltung „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ in Erinnerung ruft. An diesem Vorabend war noch kein Heulen der Wölfe zu hören … Das Zitat „Homo hominis lupus“ – „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ wurde durch Thomas Hobbes Widmung in seinem Werk „De Cive“ (Vom Bürger“) berühmt: „[…] both sayings are very true; that Man to Man is a kind of God; and that Man to Man is an arrant Wolfe.“ - „[…] es stimmt sowohl, dass der Mensch dem Menschen gottgleich ist, als auch dass der Mensch dem Menschen unverhüllt ein Wolf ist“. Ursprünglich stammt es aus der Eselskomödie - „Asinaria“ des römischen Komödiendichters Plautus: „Ein Wolf, kein Mensch, ist der Mensch dem Menschen, solange er nicht weiß, welcher Art er ist.“ („lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“ (Quelle: Wikipedia). Der während des 14. Philosophicums viel zitierte britische Staatstheoretiker des 17. Jahrhunderts Thomas Hobbes entwickelte nach dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs (1642-1649) in seinem Hauptwerk „Leviathan“ (1651) eine Theorie des Absolutismus. Dabei ging Hobbes von einem Naturzustand aus, in dem Menschen ohne Gesetz und Staat leben und aufgrund des Naturrechts jeder gegen jeden ist. Das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan wird in Hobbes Schrift zu einem menschlichen Ungeheuer.
Der Abend erfuhr durch die anschließende Präsentation der gerade in den Kinos angelaufenen Literaturverfilmung „Der Atem des Himmels“ von Reinhold Bilgeri noch eine Steigerung.
13. Philosophicum Lech: 4. Tag - Ulrich Renz - Part 13. E. Riebler
Eva Riebler RASCHES INPUT
13. Philosophicum Lech 2009 Vom Zauber des Schönen.
Reiz, Begehren und Zerstörung.
Neue Kirche, Lech am Arlberg, Vorarlberg
16. – 20.09.09
4. Tag – Part 13
20.09.09, 11.30 Uhr
Vortrag von Ulrich Renz (Lübeck)
Die soziale Macht des Schönen
Ulrich Renz, Arzt und freier Schriftsteller, Autor von Sachbüchern und Kinderbüchern.
Zuletzt: „Schönheit, eine Wissenschaft für sich“ 20006, „Auf der Jagd nach Giant blue“ 2008.
Ist Schönheit Geschmacksache? Ulrich Renz geht der Frage nach dem schönen Gesicht nach und kommt zu dem Ergebnis: Was 12 Personen übereinstimmend sagen, ist der repräsentative Querschnitt der Gesamtbevölkerung, d. h. Schönheit lässt sich quantifizieren, ohne dass man festlegen muss, was sie nun ausmacht.
Ein kleines Experiment zeigt, wie Schönheit wahrgenommen wird: Und zwar innerhalb einer 50 Millisekunde wird bereits ein Gesicht wahrgenommen und innerhalb von 17 Millisekunden bewerten wir, ob jemand attraktiv ist oder nicht. Bei nur 14-17 Pixel pro Linie entscheiden wir uns für oder gegen Schönheit und Attraktivität.
Schönheit und Liebreiz führen zu anderen Bewertungen bei Schülern, Straftätern oder bei der Partnerwahl und dem Status. Schönheit bedeutet Vertrauenskapital und Macht. Wir müssen in den Gesichtern lesen, denn sie enthalten lebensnotwendige Informationen. Wir entscheiden uns demnach: Hier kommt ein Freund oder hier kommt ein Feind. Diese Information kommt anscheinend sehr rasch über den Mandelkern der Hirnhälfte daher und wir entscheiden uns für sympathisch oder unsympathisch. Die hohe, freie Klassiker-Stirn sowie größere Augen machen ein Gesicht sympathisch. Ein hängender Mundwinkel macht grimmig. Dieser Mensch wird abgelehnt werden. Daher wird in der anschließenden Diskussion angeregt, man solle mehr und länger lächeln.
Vielleicht sollte man auch ehemaligen Verbrechern eine Gesichtskorrektur zahlen als viel Geld für die soziale Betreuung auszugeben.
Nach der Schlussdiskussion wurde auf die Enthüllung des gut gehüteten Geheimnisses, das der Themenstellung für das 14. Philosophicum des Jahres 2010, gewartet.
Da ich noch so voll der Eindrücke der letzten Tage bin, rekapituliere ich Themen und Thesen und denke noch nicht an das neue Thema, außerdem weiß ich es nicht, da der Zug nach Hause zur Abfahrt pfeift!
13. Philosophicum Lech: 3. Tag - Bernadette Wegenstein - Part 10. I. Reichel
Ingrid Reichel STATT MAKE-UP, MAKE-OVER!
13. Philosophicum Lech
Vom Zauber des Schönen.
Reiz, Begehren und Zerstörung. Neue Kirche, Lech am Arlberg, Vorarlberg
16. – 20.09.09
3. Tag – Part 10
19.09.09, 15.30 Uhr
Vortrag von Bernadette Wegenstein (Baltimore):
Der kosmetische Blick: Zur Geschichte und Theorie der Körpermodifikation
Bernadette Wegenstein wurde 1969 geboren und studierte in Wien. Die Medienwissenschafterin und Professorin für Film und Medientheorie an der Johns Hopkins Universtity/ USA und lebt seit 10 Jahren in Amerika.
Nach Wegensteins Vortrag könnte man meinen, das herkömmliche Make-up habe ausgedient. Körpermodifikation sei nun angesagt, eine Art der Wiedergeburt mit einem verbesserten Inneren und Äußeren. Das verheißungvollere amerikanische Wort zu noch größerem Glück: Make-over!
Ein Vortrag, der sich mit dem immer stärker werdenden Trend der Körpertransformation befasst und dies am Beispiel der kürzlich verstorbenen Musikikone Michael Jackson veranschaulicht.
Die Schönheitschirurgie wäre nur eine der vielen Möglichkeiten zur Modifikation. Für das Phänomen des versuchten Wechsels von einer sozial unerwünschten oder verfolgten zu einer gewünschten Gruppenidentität hat der am. Germanist und Historiker Sander L. Gilman den engl. Terminus „passing“ („durchgehen“) geprägt. In drei Punkten erläutert Wegenstein die Modifikation Michael Jacksons und seine Verweigerung einer klaren Kategorie anzugehören. 1. Die kosmetisch-chirurgischen Eingriffe am Gesicht und die durch Hormontherapien künstlich erzeugte Pigmenterkrankung der Haut, die zu einer „Verweißlichung“ führte. 2. Die Androgyne Ausstrahlung. 3. Das Peter-Pan-Syndrom – das „Ewig-Kind-Sein“ – welches ihn durch das Unfertigsein ermöglichte offen für Veränderungen zu bleiben.
Das Innere mit dem Äußeren auf ideale und individuelle Weise zu kombinieren, sei jedoch keine Erdfindung der Technologien des 20. und 21 Jahrhunderts, sondern die Geschichte von Ideologie – Bild – Blick und deren technologische Umsetzung, wenn wir, so Wegenstein, im Sinne des frz. Philosophen Gilles Deleuze und des frz. Psychiaters Félix Guattari diese „Assemblage“ weder als Basis noch als Superstruktur, sondern als Ebene seiner Konsistenz verstehen, in der Charakter und Erscheinung in der Person eins werden. Wegenstein weist auf den Begriff der Kalogagathia bei Platon in der „Politeia“ hin, die die körperliche, moralische und geistige Vollkommenheit ist und den doppelten Aspekt des Ästhetischen und Ethischen beinhaltet, des weiteren das Bildungsideal der gr. Antike in Form der Trias des Wahren, Guten und Schönen ausdrückt.
Im Kontext des Make-over sei, so Wegenstein, die Physiognomik - jene Disziplin im Zeitalter der Aufklärung, die auf Grund von Körpermerkmalen ernsthaft auf seelische Eigenschaften versuchte zu schließen - von Interesse. Die aus heutigem Wissenstand zu den Pseudowissenschaften zählende Physiognomik hatte ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem sie seit der Antike als Geheimwissen zirkulierte. Großen Erfolg hatte der Schweizer Pastor Johann Caspar Lavater (1741-1801) mit seiner vierbändigen Publikation „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ (1775-1778). Zu seiner Zeit galt er als „Beziehungsguru“, der über die Gesichtszüge den idealen Partner zu finden vermeinte. Obwohl Lavater schon seiner Zeit wegen mangelnder empirischer Fakten stark kritisiert wurde, entwickelte sich im 19. Jahrhundert aus der Physiognomik die Phrenologie – die Schädelkunde – des dt. Arztes Franz Josef Gall (1758-1828) und darauf folgend die Biometrie - Vermessung quantitativer Merkmale - des ndl. Arztes Petrus Camper.
Mit dem britischen Anthropologen Francis Galton, ein Halbcousin Darwins, fand der Begriff der Eugenik – Erbgesundheitslehre – Anwendung auf die Bevölkerung- und Gesundheitspolitik. Im deutschsprachigen Raum führte der dt. Mediziner Alfred Ploetz bereits 1895 für Eugenik den Begriff der Rassenhygiene ein, diespäter die Bevölkerungspolitik des NS dominierte. Mit der Eugenik sei „der Glaube an die Perfektion des Menschen und an die dahinter stehende Gnade eines göttlichen Schöpfers“ gefallen und zog konkrete und massive sozio-politische Konsequenzen, wie die der „ethnischen Säuberung“, mit sich. Zum besseren Verständnis der Kombination der physiognomischen intuitiven Kompetenz und des präskriptiven physiognomischen Blicks Galtons geht Wegenstein noch auf das physiognomische Auge des dt. Satirikers und Nervenarztes Oskar Panizza (1853-1921) ein. Er schrieb 1893 die antisemitische Satire „Der operierte Jud’“ (Sammelband „Visionen, Skizzen und Erzählungen) welches die Geschichte eines gescheiterten Make-over Versuchs war. Nach dem II. WK wurde der Begriff der Physiognomik zum Tabu.
Unter dem Begriff der Attraktivitätsforschung der 1970er wurde das wissenschaftliche Interesse der Korrelation zwischen äußeren und inneren Qualitäten wieder aufgenommen. Das Argument der Attraktivität als Gewährleistung des Erfolges und somit als Überlebensfaktor sei weit verbreitet. Der am. Kieferchirurg Stephen Marquardt sei einer der bekanntesten und radikalsten Attraktivitätsforscher. Er entwickelte ein Software-Programm, das durch Computergrafik das „goldene Ratio“ eines Gesichtes errechnet (Proportion 1: 1,618). Je näher ein Gesicht der errechneten „Facial Mask“ herankomme, umso schönere, bessere und gesündere Signale sende es im Sinne der Fortpflanzung aus. Hier brachte Wegenstein den Vergleich Marquardt mit Lavater als Beziehungsguru ein. 2005 gewann die Reality-Makeover-Show „The Swan“ den 2. Preis des Total-Makeovers. Ein schönheitschirurgischer Eingriff im Sinne dieser Makeover-Kultur verspreche durch äußerliche Veränderung eine innere Befreiung des sozialen Drucks.
Bezüglich Michael Jackson bedauerte Wegenstein, dass bei all der Lektüre um ihn, seine Körperdysmorphobie, an der er offensichtlich litt, kaum Beachtung fand.
Wegensteins Vortrag führt zur Erkenntnis, dass Make-Over letztendlich eine Fortführung der Eugenik ist, die einerseits auf Flexibilität der Transformation und Authentizität pocht, aber andererseits die Kalokagathia zu einer Massenproduktion der Durchschnittlichkeit leitet. Ob dies zu einer Demokratisierung der Schönheit führen könnte, wurde allerdings nicht diskutiert.
Buchtipp:
Bernadette Wegenstein: Getting Under the Skin.
Body and Media Theory.
Foreword by Mark B.N. Hansen
MIT Press, 2006.
978-0-262-23247-0
Filmtipp:
Bernadette Wegenstein: Made Over In America
Dokumentarfilm/ DVD-R
Icarusfilms, 2007. 65 Min.
Bronze Award, 2008 Health and Science Communications Association Media Festival
In Bälde:
Bernadette Wegenstein: The Cosmetic Gaze.
(Der kosmetische Blick)
Body Modification and the Construction of Beauty. MIT Press, 2010.