Ingrid Reichel
Der Apfel der Versuchung
Stella entscheidet sich (endlich)
Eine Fortschreibung nach Johann Wolfgang von Goethe
Stephan Lack
Landestheater NÖ, Theaterwerkstatt
Uraufführung, Premiere
09.03.2013, 19.30 Uhr
Regie: Barbara Nowotny
Dramaturgie: Bettina Hering / Barbara Nowotny
Aus dem Ensemble des Landestheaters NÖ:
Swintha Gersthofer, Marion Reiser, Tobias Voigt, Othmar Schratt
und Olivia Goga
Dauer: 1 Std 30 Min, keine Pause
1775 schrieb Johann Wolfgang von Goethe „Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten“. Offizier Fernando ist einerseits mit Cäcilie verheiratet und hat mit ihr eine gemeinsame Tochter Lucie, andererseits hat er ein neues Leben mit der jungen Baronesse Stella begonnen. Als er vom Kriegsschauplatz heimkehrt, „Er half die sterbende Freiheit der edeln Korsen unterdrücken“, trifft er beinahe gleichzeitig auf die zwei Frauen in seinem Leben und ist in seiner Gefühlswelt hin- und hergerissen.
Das Stück wurde 1776 in Hamburg uraufgeführt und verboten. Zu anrüchig war Goethes Ausführung einer polygamen Lebensweise, einer Ménage-à-trois. Die sittenstrengen Bürger lehnten Goethes Vision ab. Schließlich kam es zu einer zweiten Version, die 1806 in Weimar uraufgeführt wurde. Aus einem Schauspiel für Liebende wurde schließlich ein fatales Trauerspiel, angepasst an den Geschmack der damaligen Zeit und deren Moralvorstellungen, die meist einen tödlichem Ausgang forderten. Die Frage drängte sich also förmlich auf, wie würde heute so eine Konstellation gelebt werden und ankommen?
Das Landestheater NÖ gab nun ein Fortschreiben des Stückes in Auftrag, das der 1981 in Wien geborene und mehrfach ausgezeichnete Autor Stephan Lack ohne große Ehrfurcht vor dem großen Meister des Sturm und Drangs ausführte. Dem St. Pöltner Publikum ist Stephan Lack bereits bekannt, da er den ersten DramatikerInnenpreis des Landes NÖ 2006 mit seinem Erstlingswerk „verschüttet“ gewann und das Stück im Landestheater NÖ seine Uraufführung hatte.
Die junge Wiener Theater-, Film- und Medienwissenschafterin Barbara Nowotny führte Regie. Sie war von 2002 bis 2009 Regieassistentin am Wiener Burgtheater, assistierte Größen wie Luc Bondy, Christoph Schlingensief u.v.a.m. und ist seit der Spielzeit 2010/11 am Landestheater NÖ beschäftigt, zuletzt inszenierte sie „Die Affäre Rue Lourcine“ von Eugène Labiche.
Stephan Lack und Barbara Nowotny wandelten Goethes Figuren in zeitgerechte Rollen um. So wurde aus dem Offizier Fernando, der Auslandskorrespondent Ferdinand, der durch Ungeschicklichkeit sich selbst eine Kugel in die Schulter schoss und nach zwei Jahren absoluter Sendepause zu seiner Familie und seiner Geliebten aus einem Krisengebiet heimkommt. Überzeugend konnte Tobias Voigt den egoistischen Liebeszerrissenen und ungeduldigen Vater auf die Bühne bringen. Männlich und in seiner Gefühlswelt verloren versucht er sich gegenüber Stella und Cäcilie zu behaupten, die nach 238 Jahren mittlerweile finanziell unabhängige Frauen geworden sind. Aus der jungen verführten Baronesse Stella wurde eine finanziell unabhängige Geliebte, die als erste Geigerin in einem Konzert spielt und als Geigenlehrerin ihren Lebensunterhalt verdient. Ihr Haus ist groß genug, um das Experiment der Patchworkfamilie unter ihrem Dach zu starten. Die zierliche Swintha Gersthofer mimte gekonnt Ferdinands Engel des Zusammenhaltes, letztlich wird es an ihrem Wohlwollen liegen, ob die Konstellation lebbar wird oder zerbricht. Wie schon bei Goethe ist es Cäcilie, die die Geliebte unter fadenscheinigen Vorwand aufsucht. Noch bevor Ferdinand nach seiner langen Abwesenheit in Erscheinung tritt, lässt sie ihre Tochter Lucie von Stella Geigenunterricht erteilen. Marion Reiser vermochte die wütende, verlassene und betrogene Ehefrau glaubwürdig darzustellen. Die Rolle der Postmeisterin wurde durch Carl, einen Kollegen und Freund, von Ferdinand ersetzt. Othmar Schratt bekam hier eine undankbare Nebenrolle, die sich jedoch am Ende des Stückes in dieser Ménage-à-trois als sensationelle Schlüsselfigur entpuppt. Highlight ist jedoch, nicht zuletzt wegen ihres jungen Alters, die kleine Olivia Goga, die Lucie spielt, das Kind, das zwischen den Fronten der erwachsenen Gefühlsverwirrungen steht.
Für heutige Zeiten wäre die geschilderte prekäre Situation des Mannes zwischen zwei Frauen, oder auch einer Frau zwischen zwei Männern, keine Seltenheit mehr. Dass sie jedoch selten mit einem glücklichen Ausgang gesegnet ist, zeigt die Geschichte berühmter Paare. Geschickt und sehr authentisch baut Stephan Lack die verschiedenen Beziehungen zwischen den Protagonisten auf. Wie schon bei Yasmin Reza in „Der Gott des Gemetzels“ spielt auch Lack alle möglichen Varianten durch: das des Ehepaars, das der Geliebten, die Beziehung zwischen den Frauen und das des Kindes zur Mutter, zur Geliebten und zum Vater. Auch wenn Nowotny das Stück stark kürzen musste, werden in dieser Inszenierung alle Personen in ihrer Beziehung zueinander im Positiven wie auch im Negativen durchgespielt. Dass Stella sich schließlich ein Kind von Ferdinand wünscht, sorgt naturgemäß für zusätzliche Komplikationen. Lack findet jedoch eine hervorragende Lösung, das zum Scheitern prognostizierte Experiment menschlich und moralisch mit einer guten Portion Humor zu beenden.
„Wir können nichts dafür, dass wir so sind“ war wohl für Lack einer der inspirierenden Sätze aus Goethes Stella. Das Irrationale, die Unvernunft, die oft unser aller Leben bestimmt, bringt uns in Situationen oder Lösungen, die von Außenstehenden schlichtweg als absurd empfunden würden. Als Beispiel soll Ferdinands Berufswechsel zum Kolumnisten für Beziehungsberatung angeführt werden.
So ist Lacks Version von Stella weder Farce noch Drama. Sie vermag ohne moralische und gesellschaftliche Verurteilungen auszukommen und setzt die Figuren niemals der Lächerlichkeit aus. Es liegt wohl am Publikum wie es die Lage sieht und einschätzt, ob es lacht, oder nicht. Nicht unerheblich ist das im Titel in Klammern gesetzte „endlich“, zeigt es doch eine alte Geschichte aus einem modernen Blickwinkel. Denn Stella trifft tatsächlich eine Entscheidung, und diese ist diesmal nicht tödlich!
Die Regisseurin hat auf jeden Fall vorgesorgt, dass das Publikum jeden Aspekt einschätzen kann, schließlich müssen die Darsteller an zwei Fronten spielen, sind praktisch aus jeder Perspektive beobachtbar und somit einer besonderen schauspielerischen Herausforderung ausgesetzt. Das minimalistische Bühnenbild fordert die Phantasie der Zuschauer heraus. Tückisch der Apfel als Bühnenrequisite auf dem Küchen- bzw. Esstisch. Als Symbol der Versuchung und der Weiblichkeit trägt er nicht unwesentlich zur tiefenpsychologischen Spannung bei.
Ein ausgezeichnetes Stück mit einer souveränen Inszenierung und grandiosen Schauspielern. Großer Applaus!
Für Schüler sehr empfehlenswert, nicht zuletzt, weil Lack gekonnt, beinahe unbemerkt, einige Goethe-Zitate in sein Stück einzuflechten vermochte!