Buch

Linda Wolfsgruber: Die kleine Waldfibel

Cornelia Stahl

Linda Wolfsgruber:
Die kleine Waldfibel

Mannheim:
Kunstanstifter-Verlag
2020, 144 Seiten
ISBN: 978-3-942795-92-0

Heute will ich auf dem Baum wohnen… Mit diesem poetischen Eingangsgedicht von Heinz Janisch fühlen wir uns in die Kindheit zurückversetzt, möchten auf Bäume klettern, den Ausblick von dort oben genießen und geheimnisvollen Geschichten lauschen.
Mit Wolfsgrubers Fibel in der Hand erkunden wir alles Lebendige im Wald, beginnend im Frühling. Und ja, bei jedem Wetter, folgen wir den Details, die mitunter nebensächlich oder unbedeutend erscheinen, achten auf Veränderungen der Pflanzen, bewundern im Mai den Robinienbaum, vernehmen das Summen der Waldinsekten in unseren Ohren und erfahren parallel Wissenswertes über Bestäuben der Blüten durch Insekten.
Beim Zählen der Baumringe werden wir uns der eigenen Endlichkeit bewusst, erschrecken vielleicht für einen Moment. Darüber tröstet das Baumkuchenrezept, mit dem wir uns gedanklich in die Küche zurückziehen. Schicht für Schicht und zeitaufwendig gebacken, steht es metaphorisch für menschliches Wachstum und die Mühsal des Wartens (Samuel Beckett: Warten auf Godot).
Die kontrastierenden Illustrationen zu Licht- und Schattenbäumen, auf zartblauem Pergament gezeichnet, die auf der linken Seite in voller Blüte stehen und gegenüberliegend ihre Ursprungsgestalt offenbaren, verzaubern Lesende sofort.
Die vorliegende Waldfibel lässt uns zu Naturliebhaber/ innen werden. Lyrische Impressionen von Hilde Domin, Johann W. Goethe, Christian Morgenstern, Heinz Janisch u.a. lassen Texte und Bilder zu einem Gesamtkunstwerk generieren. Ein wohltemperierter Begleiter in der Natur!

Linda Wolfsgruber, geboren 1961 in Südtirol, illustriert seit 1986 (Kinder)-Bücher, arbeitet als Dozentin und Autorin. Die Illustratorin Christiane Dunkel-Koberg, geboren 1969 in Linz, lebt als freie Grafikerin in Hamburg.

Sabine Scholl: Erfundene Heimaten

Cornelia Stahl

Sabine Scholl:
Erfundene Heimaten

Essay.
Wien: Sonderzahl
2019, 507 Seiten
ISBN: 9783854495277

Heimaten im Plural. Sympathisch und einladend gestaltet ist bereits der Buchtitel, der nicht von der einen (wahren) Heimat spricht. Von der Vielgestalt ist hier die Rede, welche Mehrfachdeutungen zulässt und erweiterte Sichtweisen einschließt.
In der Sprache, an einem Ort/ an mehreren Orten beheimatet sein: „Ich trage meine Heimat in mir“ meint die bulgarische Lyrikerin Antina Zlatkova und bringt eine weitere Dimension des Heimatbegriffs ins Spiel, eine Voraussetzung zugleich: Mit sich selbst, in sich Heimat finden als Bedingung dafür, an anderen Orten, (Wahl) Heimaten, andocken zu können. Mit dem Schiff, die eigene Biografie im Gepäck, und Leinen los. Auf geht`s.
Die Autorin Sabine Scholl hat diese oder ähnliche (Abschieds)-Situationen mehrfach erprobt. Im Anhang listet sie chronologisch ihre diversen Aufenthaltsorte, an denen sie weilte: Orte wie Lissabon, Chicago, New York, Berlin, Japan, Rumänien, Portugal, Türkei und Venedig. Europäische und außereuropäische Destinationen, die geradezu einladen den tradierten Heimatbegriff wiederholt infrage und auf den Kopf zu stellen.
In einzelnen Kapiteln reflektiert Scholl zu Themen wie Sprache, Bewegung, Kunst, ich. Vom Ich geht es weiter zu den anderen, verdichtet sich zu einem „Wir“. Eine sukzessive Erweiterung also. Ausgespart bleibt auch der Heimatort Grieskirchen nicht. Tabuwörter wie BLUT, MUTTER, JUDE, TSCHUSCH – bilden biografische Rückkoppelungen. Eindringlich liest sich der Briefwechsel mit Elfriede Czurda. Neugierig auf Zukünftiges macht das Gespräch mit Jan Kuhlbrodt.
Am Ende der Lektüre bleibt die Sehnsucht, die (politisch) aufgeladenen Texte der Autorin als Fortsetzung weiterverfolgen und an ihnen teilhaben zu können!

Sabine Scholl, geboren in Oberösterreich, erhielt 2018 den Anton-Wildgangs-Preis. Sie lebt als freie Autorin in Wien.

Martin Burger: Gehen auf alten Wegen

Cornelia Stahl

Martin Burger:
Gehen auf alten Wegen
Auf den Spuren der Römer, Pilger und Händler durch NÖ

Wien: Styria
2020, 192 Seiten
ISBN: 9783222136658

Beim Gehen Körper und Geist beflügeln. Leben ist Bewegung – das verspüren wir insbesondere während Coronazeiten, in den Menschen in ihrem Radius eingeschränkt werden. Tagsüber aber haben Viele die Zeit für Wanderungen genutzt, um ihr Wohlbefinden zu stärken.
Gut, wenn man einen Tourguide wie den vorliegenden zur Hand hat: Er lädt zu dreißig Wanderungen auf historischen Wegen durch Niederösterreich ein.
Wir folgen nördlich der Donau der Bernsteinstraße bis nach Bernhardsthal, erfahren Wissenswertes über Bernstein (Baumharz) und Biographisches über Otakar II. Premysl, Sohn des Böhmischen Königs Vaclav I. Weiter geht es auf der Nikolsburger Straße nach Mikulov (Tschechien), schließen Bekanntschaft mitdem Dichter Ulrich von Liechtenstein, der uns nach Felsberg (Mähren) führt, damals eine an Fischteichen und sumpfigen Flussniederungen reiche Landschaft. Auf dem Rittersteig, einst Handelsroute, wurden Salz und Eisen über die Traismauer Straße nach Retz und Znaim gebracht.
Zurück in Melk wandeln wir entlang der Ochsenstraße (ehemals Teil des Europäischen Ochsenweges) bis nach St.Pölten, auf der einst Graurinder von Ungarn nach Süddeutschland getrieben wurden.
Im Anhang aufgelistet finden sich Straßen Niederösterreichs, mit Brücken und Mauten von der Antike bis zur frühen Neuzeit.
Reichlich bebildert und versehen mit Katasterangaben alter Landkarten forciert Martin Burger, Botaniker und Publizist, das achtsame Gehen und Innehalten, welches ein Spurenlesen und Entdecken in den Wäldern erst ermöglicht.
Um Neugier und Wohlbefinden und letztlich den Geist zu beflügeln, dazu lädt der vorliegende Bildband ein. Entschleunigt und motiviert!

Daniel Wisser: Unter dem Fußboden

Hahnrei Wolf Käfer

Daniel Wisser:
Unter dem Fußboden

Klever Verlag Wien
2019, 132 Seiten
ISBN: 978-3-903110-54-0

Daniel Wisser ist kein wichtiger Autor. Desto angenehmer lesen sich seine Schnurren mit all den mehr oder weniger bemühten Absonderlichkeiten und und Abwegigkeiten. Querbezügen vom Butterpreis, der einmal wegen Hitze in Frankreich, das andere Mal angeblich in Norwegen laut einer Fake-Meldung insUnfassbare steigt, nachzuforschen, ist zwecklos. Die scheinbare Faktizität, nahegelegt durch Datum, Namen, historische Zuordenbarkeit und dergleichen, reißt den Abgrund zur Unwahrscheinlichkeit des angeblich Vorgefallenenbumso größer auf. Hier ist es nicht der ominöse Bruder einer Freundin, der das Selbstmörderauto gekauft hat, sondern der Hilfsarbeiter Viktor A., der am 18. Dezember 1928 das Liebenberg-Denkmal in Wien erstiegen hat, um... Nein, Pointen werden hier nicht verraten, ob es um verschwundene Karawanen geht oder die eigentliche Bedeutung von Chikago in einer ‘Indianersprache’. Und Jahrelanges verwunderliches Schweigen eines Protagonisten lässt uns so ratlos zurück wie den Autor. Wenn man die eine oder andere Schnurre schon in ‘Kein Wort für Blau’ gelesen hat, ist es nur neuerlich Anlass, angenehm verwundert zu sein. Wer glaubt denn schon, dass wirklich am vierten Tag des Sechstageskrieges daran zu denken wäre, dass der Krieg nur noch zwei Tage dauern wird? Da nimmt man auch hin, dass es zwei letzte Menschen gegeben hat, nämlich auf dem Mond, und versucht sich (nutzloses Wissen) zu merken, dass es im Altgriechischen, Ägyptischen, Chinesischen und Russischen keinen spezifischen Ausdruck für blau gibt.
Daniel Wisser ist auf jeden fall kein wichtigtuerischer Autor, aber ein immens amüsant und anregend zu lesender.

Ilse Tielsch: Die Früchte der Tränen.

Cornelia Stahl

 

454 Seiten. Wien: Edition Atelier. 2020
ISBN: 978-3-99065-014-1

 

Geschichten von Flucht und Vertreibung: Seit 1966 veröffentlicht Ilse Tielsch Lyrik und Prosa. In einem Antiquariat entdeckte ich durch Zufall zwei ihrer Werke: „Fremder Strand“- eine Erzählung (1984) und „Zwischenbericht“ – Gedichte (1986). Wiederum zufällig stieß ich auf den Wiener Verlag Edition Atelier, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Erinnerungskultur mit Leben zu füllen. Tielsch´s Romane legt er neu auf. „Die Früchte der Tränen“ ist der letzte ihrer Romantriologie. Lesende begleiten darin den Weg einer sudetendeutschen Familie. Anni studiert und arbeitet in einer Buchhandlung. Mit ihrem Mann ist sie aus Mähren geflohen und nun entschlossen, sich der Aufbruchstimmung völlig hinzugeben. Tielsch nimmt uns mit in die 1950er Jahre und zoomt uns nah an den Familienalltag heran, sodass die Figuren lebendig werden. Besonders berührt hat mich die Geschichte des Enkels um seinen Großvater, einst Schmied von Mühlfraun bei Znaim (S.14), der aus seiner Heimat vertrieben wurde und bis zuletzt, im Spital, von einem Neuanfang träumte. Nach dessen Tod findet der Nachkomme in der großväterlichen Westentasche den Schlüssel zur Schmiede, den er seit seiner Flucht verwahrt hatte. „Liegt Mähren am Meer“ (S.454) fragt er Enkel, neugierig und bedacht um die Herkunft der Großmutter. - Die Autorin fasziniert mit einer an Bildern und Metaphern reichen Sprache und einem tief verwurzelten Humanismus, der atmosphärisch im Subtext mitschwingt. Ein großartiges Projekt europäischer Geschichtsschreibung – inhaltlich spannend und berührend zugleich, da Themen wie Flucht und Vertreibung bis dato allgegenwärtig sind! Unbedingt lesen!

Ilse Tielsch, 1929 in Auspitz/Hustopece/ Mähren geboren. Studium der Zeitungswissenschaften und Germanistik, 1953 Promotion. Mitglied: PEN Österreich, OeSV, Gründungsmitglied PODIUM. Preise (Auswahl): Franz-Theodor-Csokor-Preis für ihr Lebenswerk.