Buch

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt.

Cornelia Stahl

 Die Unschärfe der Welt. 216 Seiten.

Stuttgart: Klett-Cotta. 2020

ISBN: 978-3-608-98326-5.

 

Familiengeschichten aus Siebenbürgen

Iris Wolff hinterließ 2018 Spuren auf dem Internationalen Bibliothekskongress in Graz, den sie mit einer wunderbaren Rede eröffnete. Der Aura und Ausstrahlung der 1977 in Hermannstadt/Sibiu geborenen Autorin kann man sich kaum entziehen. Und dieselbe Aura spiegelt sich in ihrer Literatur wider. Es verwundert nicht, dass Iris Wolff 2020 der Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr bisheriges Gesamtwerk zugesprochen wird. „Die Unschärfe der Welt“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und war für den Bayerischen Buchpreis nominiert.

Der vorliegende Roman ist hochaktuell, er oszilliert um Daseinszustände des Menschen wie Liebe, Trauer, Verlust und Zugehörigkeit: „Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit“ (S.33). Themen, die entlang von Familiengeschichten der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben atmosphärisch miteinander verknüpft sind. Mikropartikel aus dem vergessenen Land DDR leuchten mittendrin auf: Zwei Studenten, die Unterschlupf suchen beim deutschsprachigen siebenbürgischen evangelischen Pfarrerehepaar, welches in Folge misstrauisch beäugt und einem Verhör unterzogen wird. Zeiten des Kalten Krieges werden wiederbelebt, authentisch erzählt für die nachfolgende Generation, welche diese Zeit nur noch aus Geschichten kennt. Umso wichtiger ist es, dass Iris Wolff sie für uns markiert und Spuren hinterlässt. Zugleich entwirft sie ein Panorama europäischer Geschichte. Eine präzise Figurenzeichnung sowie sinnliche Sprache formen den Roman zu einem Kunstwerk. Eine wichtige Stimme Siebenbürgens, deren Echo lange in uns nachhallt.

Iris Wolff, geboren 1977 in Sibiu/Rumänien, wuchs im Banat auf, übersiedelte als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland. Bisher erschienen drei Romane im Otto-Müller-Verlag.  Preise (Auswahl): Marieluise-Fleißner-Preis 2019, Marie Luise Kaschnitz-Preis 2020. Mitglied im Internationalen Exil-PEN, Wolff lebt in Freiburg i. B.

 

 

Sigrid Katharina Eismann: Das Paprikaraumschiff.

Cornelia Stahl

Das Paprikaraumschiff. 2020.

Ulm: danube books.157 Seiten.

ISBN:  ISBN 978-3-946046-18-9.

 

 

Mit der „Elektrischen“ durch Temeswar

In Temeswar (Temeschburg), einer Stadt in Westen-Rumänien, Timişoara heißt sie auf Rumänisch, siedelten sich vor über 300 Jahren Deutsche an. Die erste Bekanntschaft mit dieser Stadt machte ich in „Women Stories“ (danube books). Sigrid Katharina Eismanns´s Roman „Das Paprikaraumschiff“ spürt den Leerstellen dieser, ihrer Stadt, nach, füllt sie mit Erinnerungen und Gegenwartsbezügen.

In kurzweiligen Erzählungen erkunden Lesende das Rumänien der Siebziger Jahre. Die Autorin lässt uns teilhaben am Alltagsgeschehen. Kapitelüberschriften wie „Die Fernwehnummer aus der Abhörzentrale“ (S.13) oder „Ein balkanisches Fahrtenbuch“ (S.65) decodieren und erschließen ein ganzes Universum an Geschichten. Im Mittelpunkt steht die „Elektrische“, die Straßenbahn, die von Station zu Station tuckert, Gäste ein- und wieder ausatmet, im Wissen um ihre verborgenen Träume, und mitunter Ängste, und sie „spann Erzählfäden um Haltestellen … zwischen Hessen und Temeswar“ (S.26). Die an Metaphern reiche Sprache wirkt atmosphärisch verdichtet: „Akazienduft hängt in der Luft. Vaters Schatten huscht ins heimliche Gässchen“ (S.13). (Kindheits)Erinnerungen an Zeiten des Kalten Krieges werden zwischen den Zeilen lebendig: „Hinter der Milchglasscheibe laufen die Drähte heiß“ (S.13), etwa, wenn Eismann von Telefonaten in den „Westen“ (nach Deutschland – Anm. d.Verf.) erzählt, und von der in unmittelbarer Nähe befindliche Temswarer Abhörzentrale, die zeitgleich ihre Arbeit aufnimmt. Ohne Pathos, mit viel Witz, schlängeln wir mit der „Elektrischen“ durch Temeswar, und verweilen mit den Augen der Autorin an Beobachtungsobjekten: „Das Krebsspital … lächelt mit aufgefrischtem Teint“ (S.27). Eine Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Einblicke gewährt in die siebenbürgische Landschaft und Mentalität.

Sigrid Katharina Eismann, geboren 1965, emigrierte 1981 nach Deutschland, veröffentlichte 2017 den Lyrikband „Reise durch die Heimat- von Offenbach nach Temeswar“ (Größenwahn-Verlag). Eine wichtige poetische Stimme! Unbedingt lesen!

 

Wolfgang Kühn: (Hg.): Grenzenlos?

Cornelia Stahl

Anthologie: 2020. 241 Seiten.

St.Pölten: Literaturedition Niederösterreich.

ISBN: 98-3-902717-54-2

 

Grenzen – imaginierte und reale

Niederösterreichs Grenzen zu Tschechien prägen seit vielen Jahren das Zusammenleben beider Staaten. 1989 wurden die Grenzbalken endlich durchtrennt. 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei, doch im März 2020 wurden Europas Landesgrenzen erneut geschlossen, persönliche Ausgangsbeschränkungen aufgrund der COVID 19-Pandemie angeordnet. Die aktuelle Anthologie der Literaturedition Niederösterreich setzt sich mit den unterschiedlichen Formen von Grenzen auseinander. Autoren/Autorinnen sowie der Objektkünstler Matthias Mollner lieferten facettenreiche Beiträge. Milena Michiko Flasar simulierte mithilfe der Tagebücher Klaus Manns die Vorstellung, nicht mehr in die Heimat zurückkehren zu können. Ilse Tielsch versetzt sich in die Kindheit zurück, als plötzlich während des Fahrradfahrens Erinnerungen an die Eltern auftauchen. Xaver Bayer nimmt uns mit auf eine Grenzfahrt. Die Doppelseite in ultramarin und folgende Fotos lassen uns hinabtauchen, in einen Fluss und eine Nacht durchqueren. Atmosphärisch folgen die Bilder einem eigenen Erzählfluss, bewirken ein Innenhalten. In David Bröderbauer s´Beitrag spürt der Lesende die Distanz zwischen zwei Ländern: Unausgesprochene Worte erschweren den Blick nach Tschechien. Die jahrelange Entfremdung löst sich im Gespräch zwischen Vater und Sohn auf. Annäherung wird ermöglicht. Julian Schutting konstatiert: „Grenzüberschreitungen, das sind Horizonterweiterungen“ (S.33), Kindheit und Kirchenstraße. Ana Marwan reflektiert paradiesische Grenzen.

Weitere Beiträge von: Zdenka Becker, Harald Friedl, Sandra Gugić, Barbara Neuwirth, Verena Mermer, Thomas Sautner, Michael Stavarič, Peter Steiner. Dem Herausgeber Wolfgang Kühn ist eine sorgfältige Auswahl an vielfältigen Bild- und Textbeiträgen gelungen. Ein facettenreicher und grenzenloser Lese- Genuss!

Cornelia Stahl


 

Róža Domašcyna: Stimmen aus der Unterbühne. Gedichte.

Cornelia Stahl

 

117 Seiten. 2020. Leipzig: Poetenladen-Verlag.

 ISBN 978-3-948305-05-5

 

Sorbische Lyrikerin erobert die Literaturbühne

Róža Domašcyna, ist Lyrikerin und Übersetzerin sorbischer Autoren/Autorinnen wie Jurij Khěžka, versierte Kennerin der sorbischen Sprache und Literatur. Dank kleiner unabhängiger Verlage wie Poetenladen Verlag Leipzig wurde ich auf die Autorin aufmerksam. Wehmut schwingt mit, aufgrund der späten Bekanntschaft, da auch mir die Braunkohlentagebau- Landschaft der Lausitz einverleibt wurde. Das Museum Moderner Kunst Kärnten bezog 2020 in ihrem Ausstellungskonzept „Bilder einer Landschaft“ ebenso die Lausitz mit ein. Eine Gegend, die kulturell und geographisch seit vielen Jahren Erosionsprozessen unterliegt. Domašcyna hat der Vielfalt der zweisprachigen Region in lyrischen Notaten Ausdruck verliehen, und unterteilt ihren Band in sechs Abschnitte, beginnt programmatisch mit „kernworte“, „tiefenschrift“, „parallele sichtachsen“, „zwischensprachen“, über „vorschnittschneisen“ hin zu „verzerrende winkel“. Zentrales Augenmerk legt die Autorin auf (sorbische) Sprachbesonderheiten. Als kostbares Gut wird Sprache in Schachteln verwahrt, stößt mitunter auf Unverständnis: „bin aus den dörfern gekommen/die sprache habe ich mitgenommen/ keiner wollte sie verstehen“ (S.11). Autonomiebestrebungen schwingen im Subtext mit, ein Auflehnen gegen äußere Zuschreibungen und Diskriminierung: „hab die preußische Ordnung fallen lassen/ fremdbesatz zugelassen die kleidung/ gewechselt“ (S.18). Geschichten der Tagebaulandschaft überdauern Generationen, werden(unbewusst) weitervererbt: „der tote trägt den lebenden“, so Domašcyna: „rutscht der tote durch die membrane/in den körper des lebenden“ (S.79). Sorbische Worte wie kochanie (polnisch Liebe) oder Wurscha (Ursula) sind in einem separaten Glossar versammelt, (Kostbarkeiten gleichgesetzt), damit sie nicht verloren gehen. Eine wichtige sorbische Stimme sowie künstlerische Bereicherung!

Róža Domašcyna, geboren 1951 bei Kamenz (Oberlausitz), sorbische Dichterin, Übersetzerin, Dramatikerin, Mitglied PEN-Deutschland u. der Sächsischen Akademie der Künste. Anna-Seghers-Preis 1998, Prix Evelyne Encelot 2003, Sächsischer Literaturpreis 2018, Meißner Literaturpreis 2019.

 

Christoph Szalay: Rändern.

Cornelia Stahl

Christoph Szalay: Rändern. 2020.

Klagenfurt: Ritter-Verlag. 119 Seiten.

ISBN: 978-3-85415-607-9

 

 

 

„Sprache ist nicht unschuldig“ konstatierte Christoph Szalay 2019 in seiner Berliner Poetikvorlesung und bezog sich auf Eugen Gomringers Gedicht AVENIDAS. In seinem Lyrikband „Raendern“ zitiert Szalay eingangs Martin Pollack „Kontaminierte Landschaften“ und bezieht sich auf die heimatliche Landschaft, die als Hintergrundfolie einer Auseinandersetzung dient, eine Auseinandersetzung mit überkommenen, idyllisch verkitschten Heimatvorstellungen. Die Verse ähneln einer Anrufung, die gezielt ein Gegenüber, ein Du, befragen und herausfordern. Es ist ein Insistieren, jene Leerstellen zu füllen, die bisher ausgelassen wurden im Erzählfluss. Sinnlich erobern wir Wälder und Berge: legst deine taufrischen Hände aus Holz, S.9, blicken zurück: ein Gang durch Historien S.9, entdecken plötzlich Einschüsse. Die zuvor gezeichnete (scheinbar) friedvolle Landschaft erlebt Risse und Brüche: hast den Himmel geschwärzt S.9. Prophetisches Heimatidyll ade! Der Autor seziert Volkslied und Märchenelemente in Puzzleteile, verzichtet auf Idiome einer Herz-Schmerz-Wohlfühlmelodie. Im letzten Abschnitt oszillieren Kindheitserinnerungen und Erwachsenenwelt zwischen Anfang und Ende, Suchbewegungen und Möglichkeiten „eine neue Fährte zu legen“ (S.28). Und immer wieder Interventionen: sag´, was weißt du von den Rändern dieser Landschaft zu erzählen (S.31).  Szalay verwendet Textmaterial anderer Autoren/Autorinnen, spielt mit händischen Überschreibungen, visueller Poesie, Skizzen und Fotos, verlässt konventionelle Schreibweisen, setzt am Ende den Schlusspunkt: Heimat, das sind die schneebedeckten Gipfel, die wir erkundet haben, S.104. Die eigene Hand vor Augen: Imaginierte Heimat-, Landschafts- und Fremdbilder werden neu verhandelt, existieren nur vorläufig. Szalay entwirft Gegensatzpaare zu national und patriotisch konnotierten Begriffsmustern, fordert uns zum Dialog heraus! Ein wichtiger Impuls für den Umgang mit gegenwärtigen Selbst- und Fremdbilder!  

Christoph Szalay, geboren 1987 in Graz, studierte Germanistik und Kunst im Kontext an der UdK Berlin. Zuletzt: Alice Salomon Poetik-Preis (2019).