Buch

H. Leidinger, Christian Rapp: Hitler. Prägende Jahre. Kindheit und Jugend 1889-1914

Cornelia Stahl

H. Leidinger, Christian Rapp:
Hitler. Prägende Jahre.

Kindheit und Jugend 1889-1914.
Salzburg/Wien:
Residenz-Verlag. 2020,
254 Seiten
ISBN: 978-3-7017-3500-6

Hitler: Zwischen Versager und politischer Größe. Also noch eine Hitlerbiografie, denke ich und frage nach der Relevanz dieses Buches und suche nach Antworten.
Die universale Relevanz hat Hitler bis heute aufgrund des Holocausts und der verheerenden Folgen. Sebastian Haffner, unterstreicht, dass es ohne Hitler vermutlich keinen millionenfachen Judenmord gegeben hätte.
Vorab besuchte ich die Ausstellung „Der junge Hitler“ im Haus der Geschichte Niederösterreich, St.Pölten und entdeckte inhaltliche Parallelen zum vorliegenden Buch. Die Autoren beginnen mit der Familiengeschichte des Diktators, beleuchten das Umfeld, in das der junge Hitler hineingeboren wurde. Leidinger und Rapp nehmen jene frühen Jahre des Diktators, bis ca. 1914, in den Focus, Jahre, die primär seinen Charakter und sein Weltbild formten. Doch geht es nie nur um die Person Adolf Hitler allein - die Familie, den jähzornigen Vater und die sanfte Mutter, seine Schulbildung, gescheiterte Versuche, beruflich Fuß zu fassen - sondern um den Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse.
Vom Eingangskapitel angefangen „Keine heile Welt“, werden wir weitergeführt durch „Ortswechsel“, „Spiele, Krieg und Nationen“. Es folgen die Zeit „Nach dem Tod des Vaters“, die Zeit des „schwelenden Antisemitismus“, der „Abstieg in Wien“ etc. Die Erwähnung der Großmutter Anna Maria Schicklgruber fehlt hier. Das Schlusskapitel „Der ewige Hitler“ focussiert die Polaritäten der Figur Hitler nochmals: Versager und politische Größe. Beigefügte Abbildungen begleiten die Texte ergänzend. Das ausführliche Quellenverzeichnis ist Ausdruck akribischer Arbeit der Autoren.
Christian Rapp, gemeinsam mit Historiker Hannes Leidinger sind die Kuratoren der Ausstellung (bis 21.1.2021).
Buch und Ausstellung empfehle ich gleichermaßen!

Sabine Geller, Christiana Weidel, Bellinda Schmalekow (Hg.): Danuebe Women Stories. Vol. 2.

Cornelia Stahl

Sabine Geller, Christiana Weidel,
Bellinda Schmalekow (Hg.):
Danuebe Women Stories. Vol. 2.

64 Frauen, 6 Länder, 8 Städte.
Ulm: danube books.
2020,163 Seiten
ISBN: 978-3-946046-22-6

Auf dem Donauradwanderweg zu radeln, davon träumte ich schon als Kind. Bis heute ist es bei diesem Traum geblieben. Doch mit dem neuen Buch aus dem Danube-books Verlag kann
man Städte kennenlernen, welche an der Donau gelegen sind: Städte wie Linz, Regensburg und Vukovar (Kroatien) stehen im vorliegenden Fortsetzungsbuch (von 2018) im Focus sowie Frauen, die an diesen Destinationen Geschichte schreiben.
Das sind Frauen wie Ute Bock aus Linz, Ikone der Flüchtlingsarbeit. Cineastisch erinnert „Ute Bock Superstar“ an sie. Weitere sind: Hedda Wagner, Dichterin, Komponistin, während der NS-Zeit mit Publikations- und Aufführungsverbot gestraft wurde.
Die Künstlerin Anna Maria Brandstätter, geboren in Niederösterreich, blickt von ihrem Atelier aus direkt auf die Donau.
Die kroatische Stadt Vukovar macht Lesende neugierig: Die Region war während des Kroatienkriegs 1991–1995 das am stärksten umkämpfte Gebiet. Mit der jungen Stadträtin Biljana Gaća möchte man die geschichtsträchtige Metropole erkunden.
In Regensburg hat sich die gebürtige Hamburgerin Barbara Krohn längst einen Namen gemacht als Expertin für kreatives Schreiben, verrät sie im Interview.
Dialogisch präsentieren die Herausgeberinnen um Sabine Geller Frauenstimmen und -spuren, die den Donauraum nachhaltig prägen (prägten) und dokumentieren exemplarisch weibliche Geschichtsschreibung.
Das Buch eignet sich hervorragend als Lektüre zur derzeitigen Ausstellung „DONAU- Menschen, Schätze & Kulturen“, die auf der Schallaburg noch bis zum 8.11.2020 zu sehen ist.
Die Donau- ein unbekannter Fluss? Mit dem Buch unterm Arm werden Sie an den Ufern des 2800 kilometerlangen Stromes flanieren und sich bestens unterhalten.

Hilde Langthaler: Verantwortungen

Cornelia Stahl

Hilde Langthaler:
Verwortungen.

Lyrik der Gegenwart.
St. Wolfgang: Edition art science.
2019, 72 Seiten
ISBN: 978-3-902 864-88-8

Wanderer sind wir... zwischen Geburt und Tod „Wanderer sind wir in dieser Welt, nicht Sesshafte“ (S.16) schreibt Hilde Langthaler in ihrem letzten Lyrikband. Eine Textpassage aus dem Hebräerbrief, könnte man meinen. Dieser weist auf ein Merkmal hin, das jedem Menschen anhaftet: das Unstetige. Kein Stein bleibt auf dem anderen, von Geburt an ist unser Leben geprägt von Veränderungen und Verwandlungen, Berufs- und Wohnungswechsel, Unwägbarkeiten.
Im Gedicht Jenseits von Eden markiert die Autorin das Vergängliche: „verschwunden, verdrängt, sublimiert/ ins meer des vergessens gestoßen”. Die Raupe steht als Metapher für schrittweises, mühsames Fortbewegen, im Wissen um die eigene Begrenztheit, um die Endlichkeit: über kurz oder lang wird es zu ende mit uns sein.(S.8). Melancholische Gedanken spiegeln sich in Langthalers Lyrik ebenso wie politische, gesellschaftskritische. So im Gedicht: Wir produzieren (S.15): „immer mehr maschinen … in immer kürzerer zeit / zugleich verlängern wir die arbeitszeit”. Kurzgedichte wechseln einander ab mit Prosagedichten, wie Novemberland (S.56), entwickeln ein eigenes Narrativ. Ein Werden und Vergehen stehen im Focus:„feuchte blätter am boden, gelb und verdreckt. Zähflüssig. Nebel hüllt alles ein“.
Die Holzschnitte von Richard Langthaler, geboren 1942 in Niederösterreich, durchbrechen die Texte, stehen nicht unmittelbar in Bezug zum Geschriebenen, lassen eine separate Lesart zu. Daraus entwickelt sich ein neues Zusammenspiel von Grafik und Text, der den Lyrikband zu einem genuinen Kunstwerk formt.
Hilde Langthaler (1939-2019), studierte Medizin, Soziologie und Publizistik. Langthalers Reflexionen über die Liebe erzählen von jener Kraft, die zwischen Geburt und Tod gelebt und verworfen wird, jedoch über den Tod hinaus weiterhin bestehen kann. Eine vielschichtige Stimme, eine Hommage an die Autorin, welche 2019 verstarb.
Empfehlenswert!

Ocean Vuong: Nachthimmel mit Austrittswunden

Cornelia Stahl

Ocean Vuong:
Nachthimmel mit Austrittswunden.

München: Carl Hanser
Verlag, München 2020,
176 Seiten
ISBN 978-3-446-26643-8

Biographische Leerstellen zwischen Geburt und Tod. 2019 veröffentlichte Vuong seinen Debütroman: „Auf Erden sind wir kurz grandios“. Er erzählt vom (Über) leben einer Analphabetin in der Großstadt, im Dunst künstlicher Nagelstudios, den Folgen des Vietnamkrieges und von der Zerrissenheit eines Homosexuellen.
Ungenauere Daten existieren über Anfang und Ende des Vietnamkrieges. Der Autor floh 1990 mit seiner Familie aus Vietnam in die USA. Der Krieg – ein Gemisch aus Hass, Gewalt, Angst und Bedrohung wirkt wie ein Gift, hinterlässt physisch und psychisch Spuren in Vuongs Familie. Der Autor versucht dagegen anzuschreiben, setzt sich mit existenziellen Fragen des Daseins auseinander. Biographische Leerstellen gießt er in eine literarische Form, und knüpft an bereits im Roman aufgegriffene Themen und Sujets an, kleidet sie in lyrische Fragmente. Diese sind zweisprachig erschienen: Deutsch und Englisch. Mit dem Gegensatzpaar Nachthimmel und (Austritts) wunden, eine Analogie zu Himmel und Hölle, verwirft er den romantisch aufgeladen (Nacht)Himmel, legt Wunden offen, aus denen Schmerz, Schweiß und Blut hervortritt.
Vuong Existenz als Vietnamese, Amerikaner, Sohn, Enkel und Homosexueller spiegelt sich in seiner Lyrik, offenbart die Demut seiner traditionsbewussten Familie gegenüber. Seine Texte sind eingebettet in ein Narrativ, sie entziehen sich jedoch einer eindeutigen Zuordnung. Der Wunsch nach Identifikation, Zugehörigkeit und Klarheit schwingt im Subtext, können als Spiegel der vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit gelesen werden.
Ocean Vuong, geboren 1988 in Ho Chi Minh Stadt, flüchtete 1990 als Kleinkind mit seiner Familie in die USA. Er studierte Englische Literatur. Vuong arbeitet als Assistant Professor im Master of Fine Arts Programm für Schriftsteller.
Eine junge lyrische Stimme, die berührt! Unbedingt lesen!

Tony Böhle: Playlist, Gedichte

Wolfgang Stock

Tony Böhle:
Playlist

Gedichte (Tanka)
Edition Federleicht,
Frankfurt a.M.
2020, 84 Seiten
ISBN: 978-3-946112-56-3

Gibt es eine geeignete Gedichtform, um die Facetten des menschlichen Lebens in der heutigen, ach so komplizierten Zeit einzufangen und sie wie durch ein Prisma vielfach aufgefächert wiederzugeben? Für den Chemnitzer Tony Böhle (Jg. 1983) ist es das Tanka, mit dem jede Beobachtung zu einer kleinen sinnlichen Erfahrung wird. Vor über 1300 Jahren in Japan entstanden und zunächst auf höfische Themen und Naturbeobachtungen beschränkt, hat es längst die allzu strenge Form (Silbenfolge 5-7-5-7-7) abgestreift und sich modernen Themen geöffnet. Seit 2013 bietet Tony Böhle als Herausgeber der Internet-Zeitschrift „Einunddreißig“ eine Plattform für deutschsprachige Tanka, immer offen für Experimente und Blicke über die Sprachgrenzen hinweg. Nun hat er (endlich) mit „Playlist“ ein erstes Buch als Autor veröffentlicht, in dem er sich in sieben Kapiteln der Existenz des Mitteleuropäers in der Gegenwart widmet.
Das erste befasst sich mit dem Unterwegssein von Kindesbeinen an, etwa so: „die Tüte m&m‘s / vom Bahnhofsautomaten – / ich halte sie fest / wie ein Versprechen / kindlichen Glücks“. In den folgenden Kapiteln geht es darum, sich in einer neuen Umgebung einzurichten, um Zwischenmenschliches, Alltagsstress, das Sich-Behaupten in der Welt und nicht zuletzt die liebenswerten erotischen Details im Zusammensein mit Partner/Partnerin, inclusive feiner Dissonanzen, z.B.: „stets zum anderen / den halben Tacho Abstand / halten ... gibt es denn / solch eine simple Regel / nicht auch für Eheleute?“
Inhaltlich abgerundet wird das Werk durch eine höchst informative Einführung des Autors (zum Tanka im Allgemeinen) und ein Nachwort von Christian Skrey (über Böhles Tanka im Besonderen). Zur Augenweide wird es, schließlich, durch die Illustrationen der Schweizerin Valeria Barouch (seit einiger Zeit auch Mitherausgeberin von „Einunddreißig“): kunterbunten Lichtmalereien, ästhetisch, modern und mit diskreten Bezügen zum Inhalt.
Ein rundum gelungenes Debüt mit einer besonderen Art von Gedichten.