Buch

Christian Futscher: Mein Vater, der Vogel

Cornelia Stahl

Christian Futscher:
Mein Vater, der Vogel

Wien: Czernin-Verlag
2021, 112 Seiten
ISBN: 978-3-7076-0728-4

Väter und Söhne – ein besonderes Gespann. Die textlosen Geschichten „Vater und Sohn“ von Erich Ohser (alias e. o. plauen, 1903-1944) sind weitläufig bekannt.
Warum ich zu Futschers „Vatergeschichte“ griff, hing mit seinem Sprachstil zusammen, der mich im Vorgängerroman „Wer einsam ist in der großen Stadt“ (2017) begeisterte. Der Autor überzeugt im Erzählen von Beziehungsgeschichten und Wendepunkten, zieht uns rasch hinein ins Geschehen, erklärt seine Vorgehensweise: Irgendwann habe ich begonnen, die Erinnerungen an meinen Vater aufzuschreiben. … Manches weiß ich nur aus Erzählungen meiner Mutter. … Leider kann ich ihn nichts mehr fragen (S. 7).
Futscher liefert Details zur Entstehungsgeschichte des Buches: dass die Mutter noch lebt, der Vater jedoch schon verstorben ist.
Die Geschichten, memorierte Erinnerungsfundstücke, fügen sich als Mosaiksteine zu einem Gesamtbild: Zentralfigur ist in jeder Hinsicht der Vater, über den Futscher, wie schon der Titel verrät, erzählt. Die Mutter tritt als Erwachsene auf.
Aus Sicht des Sohnes gibt der Autor Anekdoten preis, wie die von den Bierdeckel- Sprüchen. Als der Autor den Vater nach deren Bedeutungen fragte: „Wir sind wie Oliven“, zitierte dieser Bohumil Hrabal, der einmal meinte: „Wir sind wie Oliven: nur wenn man uns presst, geben wir unser Bestes“ (S. 74). Amüsant liest sich gleichfalls die Geschichte um das Haustier Fritzi, einer Fliege, die der Vater, tagelang suchend, irgendwann tot in einer geleerten Weinflasche wiederfand (S. 100).
Vordergründig humorvoll sowie unterhaltsam kommen die Texte daher. Ein melancholischer Grundton und bewusst gesetzte Leerstellen lassen die Erzählungen zu einem Kunstwerk generieren.

Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, lebt als Autor und Lyriker in Wien. 2008 Dresdner Lyrikpreis. Letzte Veröffentlichung: Gute Reise, Eierspeise. Picus 2020 (mit Raffaela Schöbitz, Illustratorin).

Isabella Krainer: Vom Kaputtgehen

Cornelia Stahl

Isabella Krainer:
Vom Kaputtgehen

Gedichte
Innsbruck-Wien: Limbus-Lyrik
2020, 91 Seiten
ISBN: 978- 399-03917-09

Politisch brisante Lyrik, wie sie Isabella Krainer verfasst, ist eher eine Seltenheit. Doch wörtlich darf man den Titel des Lyrikband nicht nehmen! Denn Gehaltvolles verbirgt sich im Inneren!
Flott formulierte, anspruchsvolle Sprachspielereien wie das Eingangsgedicht rütteln den aufmerksam Lesenden auf: links zwo drei wir / bevor sie auf die meisten ameisen treten / loben sie ihren fleiß. Die Struktur der Vierteilung des Lyrikbandes verrät eine ausgeklügelte Komposition: gehschule / marschbefehl / laufpass / endspurt, die sich an Eckpunkten menschlichen Lebens ausrichtet: Von der Zeugung, Schwangerschaft, Geburt, Schulzeit, Familienleben und Stationen des Erwachsenenlebens, die anfangs allgemeingültig anmuten. Lakonisch und bissig zeigt sich der Sprachstil: freiheit wäre übertrieben/ neun monate fruchtwasser / und plötzlich auf bewährung draußen (S. 9). Philosophisches klingt an im Gedicht: selbst ort gedanken / ich ist ein ort/ an den ich gehe/ wenn ich bleibe wer ich bin (S. 63), Redewendungen liefern die Vorlage für Wortspielereien und Reime: es ist angedichtet/ langes fädchen faules mädchen/ kurze leine fette beine (S. 28).
Mitunter zeigten sich Parallelen zum Humor einer Lisa Eckart (Kabarettistin). Gemeinsam ist beiden Künstlerinnen der ungeschönte Umgang mit dem Tod: und bau doch nur dem tod ein nest (S. 92).
Auch Krainer scheut sich nicht, politisch zu intervenieren: mindestsicherheit neu/ mord ab sofort nur noch im alleingang/ beihilfe gekürzt. Konsequente verwendet Krainer Kleinschreibung in ihrer Lyrik, stellt Bezüge zur Dialektdichtung her, zum Beispiel in söba schuid, die gleichfalls politisch grundiert ist. Krainers Textminiaturen prägen sich ein, klingen noch lange im Inneren
nach.

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, Murauer Bezirksschreiberin 2019/20, Teilnehmerin: Hausacher Leselenz und am Innsbrucker W:Orte Lyrikfestival, 2021.

Ulrike Bail: wie viele faden tief

Cornelia Stahl

Ulrike Bail:
wie viele faden tief

Gedichte
St.Ingbert: Conte-Verlag
2020, 69 Seiten
ISBN: 978-395-602216-6

Nähen und Dichtkunst. Gehören Nähen und Dichten zusammen oder widersprechen sie einander? Dass Nähen und Dichtkunst unmittelbare Nähe aufweisen, beweist die versierte Lyrikerin Ulrike Bail im vorliegenden Gedichtband.
Gegliedert ist er in sechs Kapitel, mit Überschriften wie: verloren die morgen von den tagen/ unvertäut verflogt/ rücklings den faden entlang/ abgetragener kleider vergessen/ fließt den stichschmerz entlang/ auf schmugglerpfaden hoch im gebirg.
Die Idiomatik und das Vokabular des Nähens und Dichtens greifen wechselseitig ineinander, wie das Gedicht Kettfaden zeigt: ich spanne den faden über die kante/ des frühjahrs hinaus bei den federn (S. 22) Von Schnittmustern lesen wir: auf Seidenpapier gezeichnet, die umbruchlinien der schwalben/handschwingen im aufwind/ gepunktet durchgezogen ein strich. (S. 23). Eine Suche nach Personen, die sich hinter den Kleidungsstücken verbergen, schält das Gedicht „Bindestrich“ exzellent heraus: in der antikensammlung geheftet an faltentwürfe/ nackte körper  blindstich stein mit subkutanen und erinnert an die Ausstellung „Häutungen“ - Schnittmusterbögen- Archiv“, des Künstlers David Wittinghofer.
Während der lyrischen Arbeit fertigte die Künstlerin Collagen zu den Texten an, welche im Anhang des Buches zu sehen sind und eigene Assoziationen evozieren. Geschickt verknüpft Bail die Texte untereinander: Wörter fransen aus, andere nehmen Bezug auf den Folgetext.
Die kurzen, metaphorisch aufgeladenen Miniaturen markieren den Zusammenhang zwischen Nähen und Dichtkunst, spinnen Fäden und bringen Sticheleien ins Spiel, die uns aufrütteln und zu wachsamen Leser*innen werden lassen. Geheimtipp und Genuss zugleich!

Ulrike Bail, geboren in Metzingen, lebt in Luxemburg. Letzte Veröffentlichungen: Sterbezettel. Gedichte, edition offenes feld, 2016. Die Empfindlichkeit der Libelle, 2017.

Raoul Eisele: Einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt

Cornelia Stahl

Raoul Eisele:
Einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt

Berlin: Schiler und Mücke
2021, 106 Seiten
ISBN: 9783899304350

Die Stille in den Alltag holen. Mit schwarzen Löchern hatte ich bisher wenig am Hut, ehrlich gesagt. Mit Lyrik umso mehr. Und jene Menschen, die Raoul Eisele begegnen, ihn persönlich kennenlernen, seine Lyrik lesen, werden überrascht sein, denn der noch junge Autor legt Texte vor, die tiefgründig und fein komponiert sind. Facetten – und bildreich lässt uns der Autor teilhaben an biografisch grundierter Lyrik, die Erinnerungen an noch lebende und verstorbene Personen hervorbringt: die ersten Jahre verbrachtest du in der Takelage/ verbrachtest am Hafen/der Hoffnung deinen Kindern näher, O. näher zu sein, eingesponnen in die Grenzen deines Raki- Glases und der Welt (S. 31).
Seine Lyrik gleicht der Eigenart schwarzer Löcher: verdichtet und lichtundurchlässig, die sich in Form schwarzer Seiten zeigen. Und nicht nur Lyrikfreunde werden die Vorliebe für eines oder mehrere Gedichte entdecken, wie folgendes: die Stille des Fährmanns, die Stille der Fische, wie versteckt unter Schnee / und wieder sieht man dezembrig durch die Bäume hindurch/ zwischen Barke und Wald nicht mal Wind, nur die Stille als Fährmann.
Jene Stille wird hier angesprochen, die scheinbar nur dem Fährmann obliegt und den Fischen. Eine Atmosphäre, die gegenwärtig längst wieder vom Alltagslärm übertönt wird. Eisele ist ein Meister der Zwischentöne und präziser Beobachter, der Texte wie Beziehungen feinsinnig spinnt. Eine prägende Stimme der österreichischen Literatur!

Raoul Eisele, 1991 im Burgenland geboren, studierte Germanistik und Komparatistik. 2017: Debüt: „morgen glätten wir träume“, Graz: edition yara. 2019: Lyrikpreis des Burgenlandes. 2020: Startstipendium für Literatur der Stadt Wien, Artist in Residence, Salzburger Künstler*innenhaus. 2021: Residency im Kunstatelier Paliano/ Nähe Rom. Herbst 2021: Stuttgarter Stadtschreiber. etcetera „Waldgang“.

Petra Ganglbauer: Die Tiefe der Zeit

Cornelia Stahl

Petra Ganglbauer:
Die Tiefe der Zeit

Zwei langsame Geschichten
Weitra: Bibliothek der Provinz
74 Seiten
ISBN: 978-3-99126-024-0

Nachwirkung prägender Lebenserfahrungen. In der Rückschau auf unser Leben fragen wir: An welche einschneidenden Begegnungen, die unser Leben geprägt haben, erinnern wir uns? In zwei Geschichten verhandelt Petra Ganglbauer die Pole Sicherheit und Geborgenheit.
In der ersten sind es behütete Jahre im Schoß der Großmutter, an die sich der Erzähler erinnert. Um eine einseitig forcierte Liebesbeziehung zwischen einer Patientin und ihrem Therapeuten rankt sich die zweite Geschichte. Ein existenzielles aufeinander-bezogen-sein wird hier angesprochen. Ein Mensch, der am Gegenüber wächst, sich auf ein „Du“ einstellt. Die Autorin entblättert vor uns einen weiten, bildreichen Kosmos: „So fand es sich in diesem sommerwarmen Raum aus Kleiderschürze, Kopftuch und einer großmütterlichen rechten Hand“ und versetzt uns in die Rolle des Kindes, welches umhüllt ist von großmütterlicher Zuneigung und Geborgenheit, ein Zustand, der die Kostbarkeit des Augenblicks aufleuchten lässt: „Dieses pure Auf-der-Welt-sein hatte etwas von Schweigen, von Leere und Existenz“ (S.26). Selbst als der Mann „den Arm um eine Frau legte“ zehrt dieser vom Nachwirken einer vertrauensvollen Kindheit. Und auf Wegen des Scheiterns „hantelte (er sich) „über die Jahre – diesen ersten und unverwechselbaren Erinnerungen entlang“ (S.33).
Auch in „Entgrenzung“, der zweiten Geschichte, skizziert die Autorin bildhaft Facetten menschlicher Existenz: „Sie sucht das Zeichen, die Stimme, seine Stimme“ (S.43). Bedürfnisse nach Zuneigung und Geborgenheit, die selbst in demenzieller Verfassung der Patientin konstant bleiben, markieren die Sehnsucht, Grenzen zu überwinden und Verbundenheit bis ins hohe Alter zu leben. Ein zutiefst humanistischer Gedanke, der sich wegweisend durch die Lektüre zieht. Petra Ganglbauer, Autorin und Radiokünstlerin, leitet den Lehrgang „Schreibpädagogik“ des BÖS, veröffentlichte zuletzt: „Gefeuerte Sätze“, Limbus, 2019.