Ingrid Reichel
Ohne Scheu gegen die innere Zerrissenheit
Schmeiß dein Ego weg!
René Pollesch
Landestheater NÖ, Großes Haus
03.05.12, 19.30 Uhr
Österreich-Premiere
Gastspiel: Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
Text und Regie: René Pollesch
Dramaturgie: Aenne Quiñones
Darsteller: Margit Carstensen, Christine Groß, Martin Wuttke und ein Chor
Bühne und Kostüme: Bert Neumann
Kamera: Ute Schall
1 Stunde, keine Pause
Ja! Schmeiß doch endlich dein Ego weg! Leichter gesagt als getan… Was doch Leute alles reden und sich selbst wichtig nehmen… Das eigene Leben holt einen in den ersten Minuten des Bühnenauftritts ein und könnte beinahe vom Stück ablenken! Nur soviel zum eigenen Egoismus. René Pollesch hat es durchschaut und gibt dem EGO keine Chance. Margit Carstensen, Christine Groß, Martin Wuttke und ein achtköpfiger Chor sorgen letztendlich auf fulminante Art dafür. Polleschs Assoziationsflut möge nie zur Neige gehen, seine Worttiraden uns wie Maschinengewehrsalven weiterhin treffen, uns verhöhnen, bis wir unseren eigenen Tod auslachen können.
Isabella Suppanz hat sich mit diesem Gastspiel der Volksbühne Rosa-Luxemburg-Platz in ihrer letzten Saison am Landestheater NÖ als scheidende Intendantin selbst eine köstliche Abschiedspremiere gegönnt. Nach sieben Jahren ein Abschied mit einem herrlich ironischen und liebevoll humorvollen Augenzwinkern an das St. Pöltner Publikum.
Das ICH, Ich, ich… ist nicht das Wichtigste… doch wo fängt es an und wo hört es auf? Der Körper als äußere Erscheinung, die Seele als inneres Pendant, man füge noch etwas Geist und Psyche hinzu und fertig ist das EGO, ein verwirrendes Bild unseres Selbst. Was ist im Körper? Nichts, da drinnen ist NICHTS! Alles ist doch da, offensichtlich sichtbar, der Körper ist die Seele! Oder doch nicht? Wie steht es mit den inneren Werten? "Sehen Sie sich einen Geldschein an! Da sieht jeder nur den inneren Wert und nicht, was an ihm äußerlich ist, das Material, das Papier, auf das es gedruckt ist. […] Es gibt kein Interesse fürs Material, und ich werde nicht müde, das zu wiederholen." (Dr. Jacques Duval an Miss Peterson)
Pollesch wird ebenfalls nicht müde das Theater selbst zum Sujet seiner Stücke zu machen. Wir sind am Rande der Darstellbarkeit angekommen, dessen ist sich Pollesch bewusst. Um dies zu verdeutlichen zieht sich sichtbar quer über die Bühne die "vierte Wand" (Bühnenbild von Bert Neumann), die Wand also, die üblicherweise unsichtbar bleibt, um den theatralischen Schauplatz für das Publikum wahrnehmbar zu machen. Pollesch nutzt sie u.a. als Projektionsfläche und bringt dadurch das Publikum in eine voyeuristische Situation. Eine tragbare Kamera (Ute Schall) und ein tragbares Richtmikrofon ermöglichen das Geschehen hinter der nun sichtbaren Wand zu verfolgen. Ein an die Wand projiziertes barockes goldenes Oval bildet den Rahmen zum Gefilmten. Martin Wuttke spielt den eingefrorenen Dr. Jacques Duval, der nach 200 Jahren wieder aufgetaut worden war und in seiner kaiserlichen Festuniform mit Goldepauletten den Vertreter des Körpers darstellt, der seiner Selbstwillen, seiner Schönheit wegen, geliebt werden will. Christine Groß mimt die von ihm angebetete Miss Peterson, die Duval jedoch immer wieder verwechselt und im achtköpfigen Chor oder in Margit Carstensen, die wiederum Frau Luna, die Verteidigerin der Seele und inneren Werte verkörpert, zu erkennen glaubt. Ein traditionelles Verwirrspiel à la Pollesch beginnt, wo die Schauspieler die Charaktere rollend tauschen, von einem Satz zum nächsten männlich oder weiblich, alt oder jung figurieren.
Und die vierte Wand? Nun die hat wohl ein Regisseur erfunden, der seine Schauspieler nicht mehr ertragen konnte. "Man dachte, es wäre etwas Gutes, den Leuten etwas vorzuspielen." Welch ein gnadenloser Irrtum, begannen doch die Schauspieler für sich selbst zu spielen. Menschen stehen, reden zueinander, die Wand dazwischen, dabei könnte man ergänzen: Sie könnten genauso gut in Fremdsprachen miteinander reden, sie verstehen sich ja doch nicht. Und dann, ja, können zwei Körper niemals den selben Platz einnehmen, schon mal darüber nachgedacht? Die perfekte Verschmelzung kann also niemals stattfinden. Wir leben in einer hoffnungsgetränkten Illusion, dass uns jemals einer oder eine wirklich verstehen wird können, beharren darauf und reden uns in einen Wahn, durchbrechen dabei die Wand, die unsichtbare wie auch die sichtbare.
Pollesch bezieht sich in seinem Stück nach eigenen Angaben auf die Dekonstruktion des Christentums des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, der einen religiösen Minimalismus fordert. Hier geht es also nicht um das übliche Stammtischgerede in leicht angetrunkenem Zustand des "Woher kommen wir, wohin gehen wir?" Die Banalität der Ernsthaftigkeit bekommt bei Pollesch wie immer eine erschreckende Dimension, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Und wie üblich bezieht sich Pollesch auf viele Filminhalte, in diesem Stück mit Vorliebe an die von Woody Allen. Mit seinen hautanliegenden weißen Tauchanzug ähnlichen Gewändern und den weißen Schwimmhauben mit Leuchtdioden an der Stirn lehnt sich der Chor an die Spermatozoen aus Everything you always wanted to know about sex, but were afraid to ask* sowie sich die Geschichte mit dem aufgetauten Eingefrorenen auf die Science Fiction Komödie Sleeper** bezieht. Zeit und Raum werden auf den Kopf gestellt und so stellt sich heraus, dass der aufgetaute Dr. Duval in seiner Vergangenheit bereits in unserer Gegenwart gelebt hatte und sich nun in der Zukunft befindet, wo Schweinshaxen und Nikotin wieder in sind, weil schließlich die Menschheit die Erkenntnis gewonnen hatte, dass es nichts gibt, was das Leben verlängern könnte. Die Psyche hat ausgedient, der Tod wartet auf den Moment, wo eine Beziehung außerhalb des Körpers möglich ist und die Liebe kratzt an den Körpern.
Alleine die partiell aus dem Recorder gespielte Musik der 70er dient dem Publikum wieder einmal - typisch Pollesch - zur Entspannung von der temporeichen und daher schweren Verbalkost, die mit wahrer Leichtigkeit von den drei Topprotagonisten auf der Bühne zur Schau gestellt wurde. Wuttke als Zappelphilipp inmitten der Spermien immer wieder auf seinen Körper hinweisend war jedoch die Krönung des Abends, er schaffte mit seiner schauspielerischen Leistung trotz allen Gelächters, die Figur des Duval nicht in die klamaukhafte Lächerlichkeit zu ziehen, sondern verlieh ihr meisterlich die absolut nötige erotische Komponente. Grandios!
Es bleibt zu hoffen, dass mit der neuen Intendantin Bettina Hering weiterhin die kurzweiligen Stücke des René Pollesch im Landestheater NÖ gespielt werden können.
So lassen Sie mich wie Pollesch mit Cat Stevens lyrischen Worten enden:
Don't be shy just let your feelings roll on by
Don't wear fear or nobody will know you're there
Just lift your head, and let your feelings out instead …
*Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten, 1972
** Der Schläfer, 1973