Bühne

Gespenster: Henrik Ibsen. Rez.: Ernst Punz

Ernst Punz
ZU BODEN GEHEN

 

GESPENSTER
Henrik Ibsen

Ein Familiendrama in drei Akten
Aus dem Norwegischen: Heiner Gimmler
Landestheater NÖ,
Premiere
Samstag, 15.10.2011
Regie: Michael Gruner
Dramaturgie: Barbara Nowotny
Mit:
Juliane Gruner, Katharina von Harsdorf, Florentin Groll
Patrick Jurowski, Othmar Schratt
Bühne und Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

„Mutter, gib mir die Sonne!“
Osvald Alving

Der Zuschauerraum ist noch hell erleuchtet. Zuseher tauschen letzte Worte, einige husten sich ein, manche blättern und lesen im Programmheft in den sorgsam zusammengestellten Texten von und über Henrik Ibsen. Wer trotz des hellen Lichts auch im Dunkel gut sieht, kann auf der unbeleuchteten offenen Bühne eine junge blonde Frau erkennen. Regungslos liegt sie am Boden. Schläft sie? Wurde sie zusammengeschlagen, ist sie tot? Neben ihr liegt ein umgestürzter schwarzer Sessel. Ist sie gefallen?

Bei Beginn der Vorstellung kehren sich die Lichtverhältnisse um. Ein dämmriger hoher schwarzer Raum wird sichtbar, der von zwei wuchtigen schwarzen Holzbalken schräg durchragt wird. Der eine Balken von vorne links, oberhalb der Bühnenöffnung nach rechts hinten, gegengleich der andere, nur ein wenig niedriger. Links hinten eine große Wasserpfütze, in die unablässig und monoton Wasser tropft: „Pitsch, pitsch, pitsch, …“ Matt spiegeln sich die Wasserkreise an der rückwärtigen Wand. Wo sind wir? Ein baufälliger Dachboden? Ein leer stehendes Magazin, ein eingestürzter Lagerraum?

Anders wie im Original lassen Regisseur Michael Gruner und Bühnenbilder Michael Sieberock-Serafimowitsch Ibsens Gespenster nicht in einem geräumigen Gartenzimmer spielen. Bei ihnen wirft das Ende des Stückes bereits zu Beginn seine Schatten: Das abgebrannte und nicht versicherte Kinderasyl der Frau Helene Alving. Dargestellt wird Frau Alving von Juliane Gruner: zerbrechlich, sich auflehnend, in Liebe entflammt, behütend, desillusioniert, verwirrt und am Ende vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Das Kinderasyl hatte sie zur Ehre ihres vor zehn Jahren verstorbenen Mannes, Kapitän und Hauptmann Alving, errichten lassen und dabei bewusst seine finanzielle Hinterlassenschaft verbraucht. Dem Mann, mit dem sie unglücklich verheiratet war, dem sie sich widersetzt hat und der nicht zuletzt dadurch zu anderen Frauen gefunden hatte, dem wollte sie nach außen hin ein Denkmal setzen und gleichzeitig das aufbrauchen, was ihr von ihm noch geblieben war: sein Vermögen.

Pastor Manders hätte das Asyl einweihen sollen, doch gerade durch einen von ihm unachtsam weggeworfenen glimmenden Docht, wird es ein Raub der Flammen. Pastor Manders, überzeugend gespielt von Florentin Groll, ist ein Mann, der seinen Worten handfest Nachdruck verleiht. Seinen heiligen Zorn lässt er Tischler Engstrand spüren, dem er vorwirft, ein unmoralisches Angebot angenommen zu haben. Engstrand soll gegen Geld Alvings ehemaliges Dienstmädchen geheiratet haben, dass von Alving zuvor außerehelich geschwängert geworden war. Manders fühlt sich von Engstrand absichtlich belogen und in die Irre geführt. Immer wieder stößt er den von ihm zu Boden geworfenen Tischler mit dem Kopf in die Wasserpfütze. Othmar Schratt, in der Rolle des vom Leben und von Pastor Manders gebeutelten Engstrand, ringt nach Luft und versucht zu beteuern, dass er zwar von der Schwangerschaft jedoch nichts von der Vaterschaft Alvings gewusst hatte. Das von seiner Frau mitgebrachte Geld, habe er für die Ausbildung von Tochter Regine verwendet.

Regine, die am Anfang des Dramas mit regungslosem Körper am Boden gelegen hatte, wird auch im übertragenen Sinn zu Boden gehen. Doch dort bleibt sie nicht lange liegen. Katharina von Harsdorf verkörpert eine junge Frau, die sich aus Zwangslagen mit Entschlossenheit entwindet. Ihrem Vater schlägt sie kalt und abweisend den Wunsch ab, mit ihm in die Stadt zu gehen und dort in einem Asyl für Seefahrer zu arbeiten, das er mit dem beim Bau des Kinderasyls verdienten Geld aufbauen will. Rasch verliebt Regine sich in Osvald Alving, der ihr als aus Paris und Rom kommender Künstler Avancen macht und ihr nachstellt. Die Rufe und Geräusche der beiden jungen Leute aus der Küche, erwecken bei seiner Mutter Helene traumatische Erinnerungen: „Gespenster!“

Nachdem Regine erfährt, dass Osvald ihr Halbbruder ist und eine Verbindung mit ihm daher nicht möglich ist, entliebt sie sich noch schneller, als sie sich verliebt hat, und will nun doch ihr Glück in der Stadt suchen. Übrig, im wahrsten Sinn des Wortes, bleiben Frau Alving und ihr Sohn Osvald, dargestellt als künstlerischer Lichtbringer von Patrick Jurowski. Osvalds anfangs weißer Anzug wird mit dem Fortgang der Geschichte und der zunehmenden Aufdeckung der reichlich vorhandenen Geheimnisse mit Staub, Asche und Wasser besudelt. Schließlich bricht bei ihm Gehirnerweichung aus, ein Erbe seines an Syphilis erkrankten Vaters. Vor sich hin delirierend, bittet Osvald seine Mutter, ihm die Sonne zu geben. Helene Alving hat sich bei Ende des Stückes noch nicht entschieden, ob sie ihm die von ihm vor Ausbruch der Krankheit gewünschte Sterbehilfe leisten wird.

Regisseur Michael Gruner hat am Niederösterreichischen Landestheater ein Drama inszeniert, in dem sämtliche Darsteller irgendwann im Laufe des Stückes zu Boden gehen oder zu Boden geworfen werden. Dort wälzen sie sich, rollen auseinander, kriechen einander nach, verrenken und umklammern sich. Überdeutlich verbildlicht wird, was Henrik Ibsen in Worte und Dialoge gefasst hat. Doch liegen bleibt keiner. Und würde das Stück heute spielen, wäre selbst Osvalds Krankheit heilbar. Auch bei einer behutsamen Modernisierung des Stückes von der Paralyse hin zu HIV würde das kein Todesurteil bedeuten.

An dieser Stelle könnte eine Diskussion einsetzen, ob Neuerkenntnisse in der Medizin durch wissenschaftliche Forschung den Dramaturgen nicht wesentliche Stoffe wegnehmen und somit vielfach erprobte Spannungsbögen einfach nicht mehr funktionieren? Nein, bedauerlicherweise käme es zu keinem Verlust dramatischer Verhältnisse.. Die Menschen sorgen durch nicht bewältigtes Zusammenleben, wie auch Ibsen in seinem Stück „Gespenster“, für ausreichend Spannung. Den Literatur- und Theaterschaffenden braucht um Stoff und Spielpläne nicht Bang sein.

Gespenster: Henrik Ibsen. Rez.: Ernst Punz

Susn: Herbert Achternbusch. Rez.: Peter Kaiser

Peter Kaiser
BAYRISCHER KREUZWEG, WEIBLICH

 

SUSN
Herbert Achternbusch

Landestheater NÖ, Großes Haus
Premiere, 28.10.2011, 19.30 Uhr
Gastspiel der Münchner Kammerspiele
Regie: Thomas Ostermeier
Mit Brigitte Hobmeier und Edmund Telgenkämper
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Musik: Nils Ostendorf
Video: Sebastian Dupouey
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
Einführungsgespräch mit Julia Lochte

Gleich vorweg und mit Begeisterung: Eine überzeugendere schauspielerische Leistung als die von Birgitte Hobmeier ist schwer denkbar. Ein Stück, welches etwa vierzig Lebensjahre einer Frau umspannt, und diese auf eineinhalb Theaterstunden komprimiert, wird von einer einzigen Schauspielerin bewältigt. Ein Rolle, welche normalerweise, so die Dramaturgin Julia Lochte in der Einführung, von vier Schauspielerinnen verkörpert wird. Eine urbayrische Ausgangssituation mit dem Regisseur Thomas Ostermeier (seit 1999 Leitung der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin) und der 1976 in München geborenen Schauspielerin Brigitte Hobmeier macht dies möglich.
Tosender Applaus am Ende der vierten Station des Lebens- und Leidenswegs einer nicht ganz systemkonformen Katholikin. Aber von vorne.

Der bayrische Anarchist und Freigeist Herbert Achternbusch (*1938 in München) schreibt 1969 seinen Roman Die Alexanderschlacht. 1979 exzerpiert er aus diesem das Theaterstück Susn, welches die Lebensstationen eines Mädchens vom Lande in ursprünglich fünf, später in vier, Stationen nachzeichnet.
Über dieser Vorgehensweise schwebt die Gefahr, ein schwerfälliges Stück zu schaffen, welches an der Statik des Monologs scheitert. Thomas Ostermeier und Nina Wetzel (Bühne und Kostüm), führen vor, wie man diese Problematik grandios umschifft. Eine Videoinstallation von Sebastien Dupuey, niemals aufdringlich aber stimmungsvoll ganz beim Text, bildet den Hintergrund für das karge, aber effektiv eingesetzte Mobiliar, das den Schauspielern volle Handlungsfreiheit läßt.
An dieser Stelle sei die fantastische Leistung von Edmund Telgenkämper erwähnt, welcher bei einem Minimum an Text ein Maximum an Bühnenpräsenz und Spannung zuwege bringt.

Die Handlung in Kürze.

Station 1: Susn geht zur Oberschule und gesteht dem Pfarrer im Beichtgespräch, dass sie aus dem Religionsunterricht austreten will. Ein jungmädchenhafter Schwall von mehr oder weniger bedeutsamen Erlebnissen ergießt sich aus ihr, die effektvoll und stimmig mittels Video in Szene gesetzt wurden. Susn erkennt, dass die Menschen nach einer Scheinmoral handeln und leben.

Station 2: Zehn Jahre später in der Stadt, zeigen sich Symptome von Vereinsamung bei Susn. Alles bezieht sie auf sich selbst und findet doch nicht ihren Platz in dieser fremden Welt.

Station 3: Abermals zehn Jahre später beschuldigt Susn ihren Lebensgefährten, den Schriftsteller Herbert (Achternbusch im kritischen Selbstportrait als großer Schweiger), sie in jeder Hinsicht zu vernachlässigen. Zutiefst glaubwürdig gelingt es die in jeder Beziehung lauernden Abgründe darzustellen. Susn leidend und lebendig zum in sich vergrabenen Herbert: Geh´ doch in die Kälte, da ist es wenigstens nicht warm. Ein Satz, der in seiner valentinschen Intensität und Paradoxie nicht zu überbieten ist.

Letzte Station: In einer unübertrefflichen Szene altert Brigitte Hobmeier auf einem Klo sitzend mit ein paar Hilfsmitteln innerhalb weniger Minuten um Jahrzehnte. Eine beleuchtete Jesus-Statue ist ihr letzter Zuhörer. Übrig bleibt das Bild vom Scheitern einer Frau, welche vom Leben mehr erhofft hat als einen Apfel und ein Ei und ihre tragisch-komische Würdelosigkeit. Jesus, den sie verschwörerisch anrempelt, bleibt letzten Endes stumm: Du kaunst a nur leichtn.

Susn: Herbert Achternbusch. Rez.: Peter Kaiser

Der Verschwender: Ferdinand Raimund. Rez.: Johannes Schmid

Johannes Schmid
AUFTAKT ZUR NEUEN SAISON

 

DER VERSCHWENDER
Original-Zaubermärchen in drei Aufzügen von Ferdinand Raimund

Eine Koproduktion des Landestheaters Niederösterreich mit der Bühne Baden
Premiere: 01.10.2011
Landestheater NÖ, Großes Haus
Inszenierung: Jérôme Savary
Bühne: Jérôme Savary, Hannah König
Kostüme: Daniela Juckel
Dramaturgie: Barbara Nowotny
Regieassistenz: Gregor Fürnweger, Cornelia Ertl
Musik: Atlanta-Band unter der Leitung von Wolfgang Göllner
Musikeinspielungen: Chor und Orchester der Bühne Baden
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten inklusive Pause, Pause nach 1 Stunde 25 Minuten

Jerome Savary hat das sattsam bekannte Drama Raimunds behutsam unserer Zeit angepasst, ohne das Märchenhafte und typisch Wienerische aufzugeben. Der erotische Aspekt mancher Szenen wurde bewusst verstärkt und ihre Komik dadurch erhöht. Neben den berühmten Couplets wurden auch moderne Poplieder gestellt. Die aus diesem Kontrast sich ergebende Spannung wirkte besonders reizvoll. Sowohl der Geschmack des älteren als auch jener des jüngeren Publikums fand also Berücksichtigung. An die Schauspieler wurden höchste Anforderungen gestellt. Sie mussten mit ihrem Spiel einerseits den Intentionen des Autors, andererseits den teils mutigen Neuerungen der Regie gerecht werden. Wolfgang Seidenberg brillierte als Julius von Flottwell, besonders facettenreich war die Darbietung von Katharina von Harsdorf. Als Amalie mimte sie das junge, verliebte Mädchen, als Fee Cheristane – dies ein gelungener Einfall der Regie – eine Art erotischen und erotisierenden Automaten. Azur, der dienstbare Geist Cheristanes, war als Transvestit angelegt, überragend zur Geltung gebracht von Matthias Rheinheimer. Höchstleistungen boten die beiden Ensemblemitglieder Rainer Doppler in der Rolle des Kammerdieners Wolf und Boris Eder als Bediensteter Valentin. Letzterer bewies in überragender Weise sein komisches Talent. Antje Hochholdinger beeindruckte als das Kammermädchen Rosa. Die Übrigen wirkten mit ihrem Spiel nicht weniger überzeugend: Heinz Zuber als Chevalier Dumont, Philipp Brammer als Herr von Pralling, Juwelier und Schiffer, Ottmar Schratt als Herr von Walter, Hendrik Winkler als Architekt Gründling und Baron Flitterstein, Helmut Wiesinger als Baumeister Sockel und Präsident von Klugheim, Klaus Haberl als Diener Johann und Schiffer Max, Christine Jirku als altes Weib, Elisabeth Luger als Hausmädchen Fritzi und Liese.

LitGes, 1. Oktober 2011

Der Verschwender: Ferdinand Raimund. Rez.: Johannes Schmid

Cinecittà aperta: René Pollesch. Rez.: Ingrid Reichel

Ingrid Reichel
DiE Absurdität der Film- und theaterbranche

oder
Existentialismus vom feinsten

 

 

Cinecittà aperta
Ruhrtrilogie Teil 2
René Pollesch

Landestheater NÖ, Großes Haus
Premiere: 06.05.2011, 19.30 Uhr

Gastspiel einer Koproduktion des Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr mit der Volksbühne Berlin, der Rotterdamse Schouwburg und Essen, der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010
Uraufführung: 22.09.2009, Volksbühne im Prater, Berlin
Text und Regie: René Pollesch
Dramaturgie: Aenne Quiñones
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Nina von Mechow
Kamera: Ute Schall
Mit Inga Busch, Christine Groß, Martin Laberenz, Trystan Pütter, Catrin Striebeck
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

 

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburgplatz in Berlin hatte sich 1992 einen zweiten Standort im ehemaligen Kino im Berliner Prater angeschafft. Mit René Pollesch hat sich dort eine neue Theaterszene etabliert. Da der Standort seit Frühjahr 2010 im Umbau ist, profitierte auch St. Pölten von den Gastauftritten des Berliner Prater-Ensembles am Freitag dem 6. und 7. Mai. Die Sanierungsarbeiten der Volksbühne Prater sollen im Sommer 2011 beendet sein.

Um René Pollesch’ Stück annähernd zu verstehen, muss man weit ausholen.
Zunächst ist Pollesch’ Ruhrtrilogie ein Openair-Projekt. Die Stadtlandschaft Ruhr spielt hierbei eine markante Nebenrolle. Am 26.06.2010 wurde in Essen, der Stadt im Zentrum des Ruhrgebiets, die Kulturhauptstadt Europas 2010 unter dem Motto RUHR.2010, die gesamte Trilogie erstmals unter dem Titel Die perfekte Nacht uraufgeführt: Teil 1 Tal der fliegenden Messer, Teil 2 Cinecittà aperta, Teil 3 Der perfekte Tag. In St. Pölten war nun, Dank Isabella Suppanz, der Intendantin des Landestheaters NÖ, der 2. Teil zu sehen.

Cinecittà bedeutet Filmstadt und liegt bei Rom. Sie wurde 1937 von Benito Mussolini, dem italienischen nationalsozialistischen Diktator, eröffnet, während des II. Weltkriegs bombardiert, anschließend diente sie als Lager für Displaced Persons, ein Begriff für Zivilpersonen, die sich kriegsbedingt fern von ihrer Heimat aufhielten. Zum Mythos wurde die Filmstadt durch Regisseure wie Rossellini, de Sica, Visconti, aber vor allem Fellini, der nach La dolce Vita (1960) ausschließlich in Cinecittà seine Filme drehte.

Diese Regisseure begründeten den Italienischen Neorealismus, der durch den Marxismus inspiriert ein Gegenpol zum Italo-Faschismus war. Die Filme thematisierten das Leiden unter der Diktatur, die Armut und Unterdrückung des einfachen Volkes. Seinen Durchbruch erlebte der Neorealismus mit Rossellinis Film Roma, città aperta (Rom, offene Stadt) 1945, in dem die Widerstandsbewegung Italiens dokumentiert wird.

Pollesch’ Stück Cinecittà aperta (frei übersetzt: die offene Filmstadt) bezieht sich also auf den Neorealismus vergangener Zeit und transponiert ihn in die heutige Zeit. Eine Zeit, die schon längst neofaschistisch ist, doch die Menschen der Gegenwart haben noch zu wenig (Leid) ertragen und verstehen ihre Lage nicht. Auch die Schauspieler, die Schauspieler spielen, kennen ihre Rolle nicht. Sie sind auf der Suche wie in Fellinis letztem großartigen neorealistischen Film La Strada (1954), treten wie im Zirkus allabendlich auf und bewegen sich von Drehort zu Drehort. Marktschreierisch proklamieren sie Marx’ Philosophie in maschinengewehrschnellen Salven ins Publikum. Wie in Fellinis Das süße Leben sind auf der Bühne sowie im Film fünf Personen – zwei Männer und drei Frauen - zu sehen: Martin Laberenz, Trystan Pütter, (Chris)Tine Groß, Inga Busch und Catrin Striebeck. Die Handlung ist einfach, der Regisseur Rainer Maria Ferrari will einen Film drehen. Typisch für Pollesch-Inszenierungen, die fünf Personen verkörpern rollend jeden den man für einen Film braucht und noch viel mehr: Star, Hauptdarsteller, Schauspieler, Drehbuchautor, Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Produzent und den Ferrari als Regisseur. Ferrari will also einen Film drehen aber mehr weiß er schon nicht. Es soll natürlich wieder um das Leben der Anderen gehen, um das Leben der Armen, der Unterdrückten. Das Deutschland im Jahre Null soll gezeigt werden. Existentielle Fragen tun sich auf. Durch die Weltwirtschaftskrise hat man das Eigentum verloren, durch die Nazis und den Krieg die Kinder. Aber was hätte man schon dagegen tun können? Die Protagonisten mischen kräftig mit Ratschlägen und Ideen mit, es wird quergeredet, was das Zeug hält. Doch ist es überhaupt möglich in den Körper eines anderen zu schlüpfen? Wie kann jemand, dessen Körper viel besser ausschaut eine Person wie Marcel Reich-Ranicki oder gar Stephen Hawking ohne Rollstuhl spielen? Und überhaupt, wie kann eine bessere Gesellschaft das Leben der Armen wiedergeben? Mit ein wenig Kohledreck auf den Wangen wird man vielleicht glaubwürdiger rüberkommen. Schließlich will man hier Geschichte spielen und vor allem Geschichte schreiben. Doch es gibt keine Geschichte.

Tine: „[…] man müssten den deutschen Kindern beibringen, das Leben wieder lieben zu lernen, dann hätte sich die Mühe desjenigen, der diesen Film gemacht hat, mehr als gelohnt.“
Trystan: "Das sagt Rossellini am Ende seines Films Rom, offene Stadt. Aber das wäre nicht das Offene, wenn es wieder nur darum ginge: um das Heil unserer Seele. Das ist die schrecklichste Herrschaftsform, die sich um unsere Seele kümmert, und um ihr weltliches Äquivalent, um unsere Individualität, die verteidigt wird bis aufs Messer und nicht um die unsterblichen Körper. Lasst uns doch mal ausnahmsweise über die reden, und lasst die zu ihrem Recht kommen. Diese geschichtlichen Wesen hier. (Weist auf seinen Körper). Diese Darwinfinken.“

Pauline Boetzke ist so eine, eine Figur aus Klaus Emmerichs TV-Mini-Serie Rote Erde (1983), eine Masurin, eine Trümmerfrau aus dem Ruhrpott des 19. Jahrhunderts, eben eine, die zu den anderen gehört. Darwin, Marx und die immer wiederkehrenden Kriterien zur Überwindung des Kapitalismus, das ist Pollesch. Er lässt seine Schauspieler die Parolen auskotzen. Wenn für das Publikum nur mehr Chaos und Unsinn übrig bleibt, dann hat Pollesch sein Ziel erreicht, der Bourgeoisie die Fratze der Intellektualität heruntergerissen.

Mit Cinecittà gelingt Pollesch die Vermischung von Film und Theater, und in St. Pölten konnten wir eine perfekte Inszenierung erleben! Das Publikum sitzt im Theater und sieht einen Film. Drehort ist Brachland in Essen, Werksgebäude, Abrissreife Hallen, ideologisierte Verfallsromantik. Die Szenen gehen nahtlos zum Aufführplatz – St. Pölten Landestheater NÖ - am Rathausplatz bis auf die Bühne über. Die Dreifaltigkeitssäule am St. Pöltner Rathausplatz wird kurzerhand zum Trevi-Brunnen, die herumstehenden Zelte der gerade eben stattfindenden (Fr)Essmeile stören nicht, geben sie doch den Eindruck einer lebenden Cinecittà wieder. Pollesch geht in seinem Text sogar auf örtliche Gegebenheiten ein, wie z.B. auf die Franziskaner, während einer der Schauspieler auf die Franziskaner Kirche im Hintergrund zeigt! Die in Essen gedrehten Einstellungen sind schwarz-weiß, die Lifeübertragung in Farbe.

Die Kamera geht live vom Rathausplatz durch das Theater bis auf die Bühne mit den Schauspielern mit. Die Kamerafrau Uta Schall und die Person, die das Mikro hält, tun in den beengten Gängen des Theaters ihr Bestes. Dann stehen die Schauspieler leibhaftig auf der Bühne.
Der Produzent, der nichts produzieren will, der Regisseur, der sich eine Drehbühne wünscht, um zu drehen… der Schauspieler, dem sein Körper zu schön ist für die Rolle. Doch all dies findet unter der Annahme statt, dass im Publikum jemand sitzt, der versteht, dass laut Darwin die Historie mit uns selbst nichts zu tun hat. Darwin zwar erklären kann woher wir kommen, die Geschichte jedoch nicht. Doch auch Rossellini ist gescheitert, denn auch aus dem Ausgang einer Geschichte könne man nicht wirklich eine Lebensfreude (zurück)gewinnen. Im Sterben sehen wir jedenfalls die Wesensveränderung des Anderen.

„[…]. Das ist der Tod und das ist der Schwarzmarkt. Das ist die Errungenschaft, eine Personenwaage an den Mann zu bringen. Das ist nicht die Geschichte, das ist nicht der Tod, das ist der Körper hier und jetzt.“ (René Pollesch)

Ein BRAVO an die schauspielerische Leistung der Gruppe, diese Texttiraden zwischen Filmzitaten, Gesellschaftskritik und philosophischen Denkmodellen wiederzugeben. Pollesch realisiert das Unmögliche. Das Publikum hat auf jedenfall nicht begriffen, wann der Film zu Ende war! BRAVO!

Zur Info: Film im Stück

Cinecittà aperta: René Pollesch. Rez.: Ingrid Reichel

Lieblinge des Himmels: Klaus Haberl. Rez.: Johannes Schmid

Johannes Schmid
Suche nach dem Glück

 
Lieblinge des Himmels
Klaus Haberl
Landestheater NÖ, Theaterwerkstatt
Premiere: 15.04.2011, 19.30 Uhr
Regie: Klaus Haberl
Ausstattung: Andrea Bernd
Dramaturgie: Rupert Klima
Bühne: Markus Amon
Ensemble des Landestheaters

Klaus Haberl lässt in seinem stilistisch meisterhaften und kunstvoll komponierten Drama verschiedene Personen in einem Hotel aufeinander treffen, denen eines gemeinsam ist: die Suche oder vielmehr das Verlangen nach Glück. Sie kennen kein geduldiges Warten oder stilles Hoffen, sondern sie fordern von ihrem Leben, von ihrem Schicksal die augenblickliche Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Sie stürmen, bildlich gesprochen, den Himmel, wie in der griechischen Mythologie die Giganten den Olymp einzunehmen trachten. Momente des Scheiterns, der Resignation, der Desillusionierung und der Selbstkritik werden angedeutet, aber sie treten zurück hinter die Darstellung der Glückssuche und der Verwirklichung von Lebensträumen. Die Menschen dieses Stücks erscheinen selten glücklich, nicht nur, weil sie das Erstrebte noch nicht erlangt haben, sondern vielleicht auch, weil in der Banalität ihrer Wünsche die Tragik ihrer Existenz liegt. Aber das Leben ist nun einmal banal, dies wird uns deutlich und facettenreich vor Augen geführt.  Man will zufrieden leben, eins mit sich und mit der Welt, allein oder zu zweit, als Geistesmensch oder einfacher Bürger, wohlhabend oder in bescheidenen Umständen, sehend oder blind für das, was ein gelingendes oder gelungenes Dasein im Letzten ausmacht.

Klaus Haberl hat seinen Dreiakter speziell für das Ensemble konzipiert. Jedem ist seine Rolle auf den Leib geschrieben, alle haben in etwa gleich lange Auftritte. Helmut Wiesinger überzeugt als Lyriker, der eine kurze Schaffenskrise zu bewältigen hat, sich einen Kunstpreis erhofft und eine Änderung seiner privaten Verhältnisse anstrebt, Pippa Galli und Oliver Rosskopf brillieren als Liebespaar – das Eigentliche glücklicher Liebe wird problematisiert -, Christine Jirku und Philipp Brammer spielen vollendet ein intimes Mutter-Sohn-Verhältnis, Julia Schranz beeindruckt als Modell, das sich von ihrer ehrgeizigen Agentin, lebensecht dargestellt von Antje Hochholdinger, zu emanzipieren sucht, Katharina von Harsdorf mimt einfühlsam das lebensfrohe, junge Mädchen, Hendrik Winkler geht auf in seiner Rolle als Soldat, Othmar Schratt gibt sich selbstzufrieden als Herr Ferner, der keine Wünsche und kein Wünschen mehr kennt, Jürgen Weisert spielt perfekt den hoffnungsfrohen Liftboy, dem Stefan Wilde als überzeugend dargestellter Jungmanager Vilnus, der die Leitung des Hotels übernehmen soll, Aufstiegschancen verspricht, Rainer Doppler ist die amüsante Rolle des bissigen, ein wenig verdrossenen Taxilenkers Erik zugedacht, Elisabeth Luger spielt realistisch die Rolle einer Reinigungsfrau.

Klaus Haberl führte selbst Regie, die Ausstattung stammt von Andrea Bernd, für die Dramaturgie zeichnet verantwortlich Rupert Klima, für die Kostüme Christine Zauchinger u.a.

Lieblinge des Himmels: Klaus Haberl. Rez.: Johannes Schmid