60/Unentwegt/Essay: Unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten

Cornelia Stahl

Unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten

Wenn ich ein Essay zu einem bestimmten Thema schreibe, mache ich mich zuerst auf die Suche nach Indikatoren zum Thema und nach geeigneten Literaturhinweisen. Bin dann stundenlang im Internet, surfe von einer Seite zur nächsten, und von der nächsten zur übernächsten usw. Dann kann es passieren, dass ich abschweife, mich in der Flut des reißenden Flusses verliere, davon schwimme, im Strudel der Trends verschwinde. Will unentwegt dabei sein, up-to-date sein, noch bevor das Neueste am kommenden Tag in Lettern präsentiert wird. Bin unentwegt auf der Suche nach spannenden Geschichten.

Ist nicht alles schon geschrieben worden?

Lohnt es sich eigentlich noch, Bücher zu schreiben, Essays zu verfassen?,frage ich mich oft. Ist nicht längst schon alles gesagt und geschrieben worden? Diese resignative Frage stellt Gerhard Jaschke in seinem neuen Buch KURUMBA oder Die nicht geschriebenen Sätze. Sie korreliert mit dem  Wunsch, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ( oder geschrieben) worden ist.[1]  Keine Spur von Resignation verspüren wir beim Lesen der Essays von Nicholson Baker. Gebürtig 1957 in Rochester/New York, ist Spurensucher in Sachen Geschichten. Altes und Vertrautes bewahren ist ihm wichtig. Bekannt wurde der Amerikaner 2004 mit seinem Essay „Mähen“. Neugier ist die Triebfeder beim Entstehen  seiner Bücher und Essays, so Baker in einem Interview. Der an Zeitgeschichte interessierte Autor kaufte sämtliche Archive den Zeitungsverlagen ab. Das geschah bereits vor der allgemeine Krise. Baker sah in den Nachrichten von gestern einen Schlüssel zum Verstehen der Gegenwart. [2] In seinem Essay „Charme von Wikipedia“ bringt er seine Begeisterung zum Ausdruck, Artikel zu überarbeiten, sie zu aktualisieren und somit vor der Vernichtung zu retten.

Sich als Gestalter der Veränderung begreifen

In einem 2011 in der Paris Review hat Sim Anderson das Literarische Schaffen Bakers mit dem

der Niederländischen Maler verglichen. Beiden gemeinsam ist die Detailfülle. Kann man mit dem Ankauf der Vergangenheit, hier in Form der Zeitungsarchive, das Zurückliegende in der Gegenwart retten oder gar bewahren, so frage ich mich. Nach eigenen Aussagen Bakers treibt es ihn seit Jugendtagen unentwegt an Orte oder Gebäude, die dem Verfall verschrieben sind. Er sammle mit  Vorliebe Dokumente, in dem Wissen, Dinge nicht bewahren zu können, da sie einer Wandlung, einer Veränderung unterliegen. Nicholson Baker beschreibt in seinen Essays, wie sich diese Veränderungsprozesse vollziehen, er lässt den Leser teilhaben an diesem Prozess und versteht es, sich nicht als Opfer, sondern als Gestalter der Veränderung zu begreifen. [3]

Den Reiz gedruckter Medien neu entdecken

Wollen wir das  Alte bewahren, abschaffen oder etwas Neues gründen? Vor dieser  Frage standen vermutlich die Gründer der neuen, unabhängigen Print-Magazine, die in den letzten Jahren ( seit 2007) auf den Markt gekommen sind. Auch junge Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, entdecken für sich den Reiz gedruckter Medien neu. Laut VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverlage, steigt die Gründungsbegeisterung. Das spiegelt sich auch in der Zunahme der Zahl selbstverlegter Hefte wider. [4] Die Gestalter der neuen Zeitschriften brennen unentwegt darauf, ihre Ideen umzusetzen, ihre Texte, Grafiken, Fotos, Vidoes anzubringen. Wirklich gute Magazine sind meist unabhängig, distanzieren sich von den Großverlagen, da diese selten Innovatives bringen. Die neuen Magazine wie Päng, ramp oder The Weekender sind trotzdem qualitativ auf hohem Niveau. Natürlich landen auch viele Texte und Fotos auf Blogs oder in Onlinen-Magazinen. Aber es kann auch andersherum gut funktionieren, wenn etwa Texte aus Blogs übersetzt und überarbeitet wieder in Heften und Magazinen erscheinen. Die Macher des neuen Wiener online-Magazin helden von heute träumen sogar davon, dass es bald eine Printausgabe geben wird, so der Herausgeber Floriam Scheuer-Bieche. Geschichten werden also gelesen, ob print oder online.

Unentwegt wie ein Vampir neue Geschichten aufsaugen

Im Lesen und im Schreiben bleiben, so hatte es die österreichische Schreibpädagogin und Autorin Petra Ganglbauer 2014 auf der Fernkurstagung der Literarischen Kurse in Wien formuliert. Zum Schreiben gehört unbedingt das Lesen! Denn Texte, die in der Schublade landen und nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringen, werden nicht wahrgenommen und gelesen. Gefahren des einsamen Schreibers entdeckte Tom Rachmann, britischer Autor und Chefredakteur der International Herold Tribune in Paris. Auf seinen Recherchereisen kam er zu dem Schluss: Wer nur schreibt und nicht lebt, nichts erlebt, ist irgendwann ausgehöhlt und produziert sich nur noch selbst. [5] Wer aber keine Zeit zum Reisen findet, der kann Archive nutzen und in Tagebüchern und Briefen fremder Menschen fündig werden, um wie ein Vampir unentwegt neue Geschichten aufzusaugen, wie es Margit Schreiner treffend formulierte.[6]

Cornelia Stahl


[1]   Jaschke, Gerhard: KURUMBA oder die nicht geschriebenen Sätze. Wien: Sonderzahl-Verlag. 2014

[2]   Schmitt, Michael: Chronik der kleinen und der größeren Dinge. NZZ, 17.2.2015, Nr.39

[3]   Baker, Nicholson: So geht’s. Essays. Aus dem Englischen v. Eike Schönfeld. Rowohlt, Reinbek: 2015.

[4]   Message. Internationale Zeitschrift für Journalismus. 4/2013, S. 10-13

[5]   Zitiert nach: Ich ist ein anderer. In: Buchkultur, Heft 158, Heft Februar/ März 2015.

[6]   Dallinger, Petra-Maria: 15xKOOP-LITERA. Stifterhaus Linz. 2009 

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57/konkrete Poesie/Essay: Walter Ruprechter: Zur "Japanischen Visuellen Poesie"

Walter Ruprechter

Zur "Japanischen Visuellen Poesie"

Aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung „Japanische Visuelle Poesie & an exercise in contamination“ in der Austrian Embassy Gallery Tokyo.

 

Die visuelle Poesie hat in den Bereichen der bildenden Kunst und Literatur, an deren Grenze sie angesiedelt ist, eine Globalisierung angestrebt, als dieses Wort noch nicht erfunden war. In der Form, in der wir sie heute verstehen, geht die visuelle und konkrete Poesie in die 1950er Jahre zurück und wurde von vornherein nicht nur interdisziplinär, sondern auch international angelegt. Die entscheidenden Impulse zu dieser Bewegung kamen aus Brasilien, Deutschland, der Schweiz und Frankreich, aber auch Japan und Österreich waren schon in den 1950er Jahren mit dabei. Aus Japan trugen dazu bei Katsue Kitasono und Seiichi Niikuni und aus Österreich die Poeten der Wiener Gruppe, allen voran Gerhard Rühm.

Der globale Zug der visuellen Poesie besteht darin, dass sie die sprachliche Äußerung auf wenige Wörter oder überhaupt nur auf Wortelemente reduziert, und zwar – im Unterschied zur Lautpoesie – auf deren schriftlichen, optischen Teil, und dann mit diesen Elementen grafische Anordnungen vornimmt, um zu sehr einfachen, aber oft verblüffenden Aussagen zu kommen. Die Bedeutung der einzelnen, nationalen Sprachen soll dadurch zurückgedrängt werden und so etwas wie eine universelle Kommunikationsform entstehen, also eine Art Esperanto der Literatur. Dabei hat sich aber gezeigt, dass es oft genug gerade die Charakteristiken der einzelnen Sprachen sind, die den Reiz vieler solcher Versuche ausmachen.

Ein ganz besonderer Reiz ist natürlich dann gegeben, wenn nicht nur die Sprache wechselt, sondern das ganze Aufzeichnungssystem, wie das ja bei den europäischen Sprachen einerseits und dem Japanischen andererseits der Fall ist. Die europäischen Visuellen und Konkreten kommen bei ihren Reduktionen immer auf das Alphabet mit seinen an sich bedeutungslosen Buchstaben, deren grafische Qualitäten für die Konstitution von Bedeutung in den visuellen Gedichten untersucht werden. Das Japanische mit seinen drei eigenen Aufzeichnungssystemen, den beiden Kana und den Kanjis, und darüberhinaus noch mit dem lateinischen Alphabet, hat dagegen eine viel breitere Basis von grafischen Elementen zur Verfügung. Aber nicht nur das: In den Kanjis, die die japanischen Visuellen als Basiselement mitbenutzen, ist bereits Walter Ruprechter Zur „Japanischen Visuellen Poesie“ etwas gegeben, was für europäische Visuelle schon das Ziel ihrer poetischen Bemühungen ist, nämlich eine Bedeutung in einem Bild zu vermitteln.

 

Shutaro Mukai, Bamboo-Notes, 1974, Serigrafie


Diese bereits alltägliche visuelle Poesie der japanischen Schrift als solcher bietet den japanischen Künstlern natürlich eine andere Ausgangslage als den Europäern und auch eine andere Aufgabe, die Prof. Shutaro Mukai, einer der führenden konkreten Künstler in Japan, so bezeichnet hat: „Für uns Japaner besteht die Notwendigkeit, unsere eigene Sprache zu dekonstruieren.“ Für diese Dekonstruktion, was so viel bedeutet wie das Zurückführen einer Bedeutung auf die Bedingungen seiner Konstitution, gibt es in der japanischen visuellen Poesie zwei Wege, die von je einer Künstlergruppe eingeschlagen wurde. Die eine, auf den Spuren Kitatsonos und der Gruppe VOU, versucht die Dekonstruktion, indem sie das grafische Repertoir der japanischen Schrift um andere grafische, malerische und fotografische Elemente erweitert und auf diese Weise das konventionalisierte Aufzeichnungssystem überschreitet. Und die andere Richtung um die Gruppe ASA versucht, aus den Zeichen der japanischen Schriften neue Ausdrucksqualitäten zu gewinnen und damit die Ausdruckskonventionen zu unterlaufen. Für beide Richtungen gibt es in dieser Ausstellung Beispiele. ...

 

Josef Linschinger / Eugen Gomringer, aus: an exercise in contamination, 2003, Inkjetprints

 

Besonders hinzuweisen ist hier aber auf die Arbeit Josef Linschingers, da sie auf seine absolut konsequente Art und Weise eine Verbindung zwischen der europäischen und der japanischen visuellen Kunst darstellt. Sie zeigt auch den reduktionistischen Rigorismus und die strenge Enthaltung von jeglicher subjektiver Aussage, die für die konkrete Kunst typisch sind. Linschinger hat in einem Dreischritt die Vokale des Alphabets A, E, I, O, U mit den entsprechenden Kana-Zeichen für die gleichen Lautqualitäten gekreuzt, wobei die einen horizontal und die anderen vertikal angeordnet sind, entsprechend der Schreibgewohnheiten der beiden Kulturen. Er hat weiters die Farben verwendet, die den Lauten im Farbspektrum zukommen, also Gelb für den hellsten Laut I, Blau für den dunkelsten Laut U, und darüber hinaus noch eine weitere Codierung durch Überlagerung mit dem Bar-Code vorgenommen und das ergibt dann die stark farbigen Blätter, die sie hier sehen.
Gerahmt wird das ganze von einem Exerzitium des Altmeisters Eugen Gomringer, der schon einmal als der Vater der Konkreten Poesie bezeichnet wurde. Das Exerzitium, geschrieben in Abwandlung der berühmten Zeilen von Gertrude Stein, die man dann als Großmutter der Konkreten Poesie bezeichnen müsste, nämlich der Zeilen „a rose is a rose is a rose”, weist darauf hin, was für ein Buchstabe für die Konkreten 
ist: Ein Buchstabe, ein Laut, eine Farbe und ein Code. Für mich war bei dieser Arbeit überraschend zu sehen, dass die Kana-Zeichen viel abstrakter wirken als das Alphabet und dessen Buchstaben im Kontrast dazu geradezu bildliche Qualitäten entwickeln, der Kreisring des O, das Dreieck des A, auch das E wird als Figur lebendig, die ich sonst nicht so wahrnehme.
Das führt mich zu einer Schlussbemerkung: So streng antisubjektivistisch und objektiv die konkrete Kunst sich auch gibt, ihre Rezeption ist immer ein Spiel mit dem Leser bzw. mit dem Betrachter. Die Bedeutungen, die sie „dekonstruiert“, muss er sich aus den Elementen wieder rekonstruieren. Das ist keine Gleichung, die einfach aufgeht, man kann und muß viel herumprobieren und kommt dabei nicht immer zum Ziel oder man kommt zu vielen Zielen. Aber es macht den Reiz dieser interkulturellen Kunstform aus, dass man sich auf das Spiel mit den Bedingungen der Konstitution von Bedeutung einlässt.
Probieren Sie es selbst aus.

 

Walter Ruprechter
Geb. 1952 in Matrei/Osttirol. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte an der Uni.Wien. Promotion über Konrad Bayer. Seit 1992 Professor an der Tokyo Metropolitan University. Publikationen zur spach- und erkenntniskritischen Literatur, der Wiener Moderne und zum Kulturaustausch zwischen Japan und dem Westen.

 

erschienen im etcetera Nr. 57 / konkrete Poesie / Oktober 2014 mehr...

57/konkrete Poesie/Essay: Walter Ruprechter: Zur "Japanischen Visuellen Poesie"

57/konkrete Poesie/Essay: Gaby Gappmayr: Das Geheimnis des Raumes

Gaby Gappmayr

Das Geheimnis des Raumes - Zur poésie spatiale
von Ilse und Pierre Garnier von Gaby Gappmayr Aug. 2014

Eine gerade horizontale Linie durchquert den Horizont. Sie ist unterbrochen. Darunter steht „das Wort und’“. Dies ist ein Gedicht von Pierre Garnier aus den Poèmes géométriques von 1986. Dieses kleine Wort ‚und’, was bedeutet es? Worauf bezieht es sich? Es erscheint ohne narrativen Kontext. Und doch kennt man seine fundamentale Bedeutung. Es kann zwei Ideen, zwei Gedanken oder zwei Situationen miteinander verbinden. Es agiert wie eine Art konzeptuelle Brücke, es verknüpft etwas Vergangenes mit etwas Neuem. Der Blick dessen, der in dieses Gedicht eintaucht, stößt auf diesen Abgrund, diese Kluft, mitten in der horizontalen Linie. Genau hier öffnet sich der tiefe Raum des Gedichts. Diese Spalte wird zum Kern des Gedichts. Die Leere impliziert den semiotischen Aspekt des Wortes ‚und’. So überwindet man dieses Hindernis, die Bedeutung wird zu einer visuellen Realität. Das Unendliche durchschneidet die Leere und die Transparenz des Raumes. Die Wahrnehmung entspricht dem Vorgang des Lesens, das Weiß in der Mitte der horizontalen Linie hebt die Schönheit und Kraft dieses kleinen sprachlichen Zeichens hervor, das so unscheinbar aussieht, das aber das Gleichgewicht und die Kontinuität des Denkens verkörpert.

Einige Variationen über das Thema der Insel bei Ilse Garnier: das Wort île schwebt auf der Fläche, der Accent circonflexe steigt in die Lüfte. Es ist ein rein visuelles Zeichen, da es nicht ausgesprochen wird. Das kleine Dreieck des Akzents spiegelt sich im Wasser, es vervielfältigt sich im Raum, folgt weit entfernten Wegen, verliert sich im Unendlichen und umrahmt das Wort île. Eine Landschaft aus einem einzigen Wort, ein verlorenes Paradies ohne Worte, seine Geographie liest sich in seiner Bezeichnung. Der Leser verliert sich im Schimmern des Akzents, der auch exotische Vögel evoziert, vielleicht denkt man auch an märchenhafte Landschaften, an Gegenden, gemalt in der Imagination. Die Schrift ist hier zugleich der unendliche Raum eines Universums, das nur durch sie und die konkrete und visuelle Materie unseres Denkens existiert.

Das Weiß ist Teil des Gedichts. Das Wort erschafft den Raum. Der Raum wird zu einer Konstellation von Zeichen, von sprachlichen Zeichen aber auch von geometrischen oder mathematischen Zeichen. Pierre Garnier: „Ich will die Sprache bis zu ihrem faszinierendsten Kern führen: der geschriebenen Stille (Notiz vom 6. Mai 1978).“ Bei Pierre Garnier gibt es diesen Raum des Nicht-Gesagten, jene Spannung zwischen der Sprache und den geometrischen Zeichen. Ilse Garnier beschreibt die Poèmes géométriques ihres Mannes so: „In diesen poetischen Werken sprechen die Wörter nicht über die Dinge; sie dehnen sich auf dem Weiß der Seite nicht gemäß ihrer graphischen Form oder der Evokation eines Klanges aus, alles was zum Bereich des Empfindens gehört – die Wörter und Zeichen verweisen nur auf den Begriff, dessen Inkarnation sie sind und nicht auf die Welt.“

Die Sprache konstituiert den Raum. Der sprachliche Raum ist ein dynamisches Universum voller Perspektiven, Zeichen und Bilder. In den Fensterbildern von Ilse Garnier, einer Serie von Bildgedichten in deutscher Sprache, werden die Konstellationen in einem Raum entworfen, der von weißen rechteckigen Rahmen begrenzt ist. Als ob der Blick wie zufällig auf eine bestimmte Konstellation von Zeichen fallen würde: die Buchstaben des Wortes „Vögel“ schweben im Raum, ein Kreis öffnet und schließt sich um das „i“ des Wortes „Licht“, zwei Pfeile ziehen einen Vokal mit sich, ihr Klang scheint die Stille der leeren Räume zu durchbrechen. Der Bezug zu den berühmten Stundenbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts verweist auf den meditativen Charakter dieser Gedichte. Das Fenster ist das Echo zwischen Innen und Außen, die Schwelle des Raumes, wo sich Ferne und Nähe begegnen. Die Poesie ist wie eine Momentaufnahme im Ablauf von Zeit und Raum, sie lässt
die Schönheit und das Geheimnis des kosmischen Raumes erkennen.

Das Wort und der Raum, dies sind die wesentlichen Begriffe der poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier. In seinem ersten Manifeste pour une poésie nouvelle visuelle et phonique von 1963 betont Pierre Garnier die Bedeutung des Wortes : « Das Wort ist ein Element. das Wort ist Materie. das Wort ist ein Objekt. [...] das Wort ist der sichtbare Teil der Idee, wie der Stamm und das Blattwerk die sichtbaren Teile des Baumes sind. Die Wurzeln, die Begriffe leben darunter.“ In seinen Gedichten visualisiert Pierre Garnier die Spannung zwischen einem Wort und einer geometrischen Form, wie dem Kreis, dem Quadrat oder dem Rechteck. In den Fenêtres von Pierre Garnier aus dem Jahr 2000 gibt es eine Serie von Fensterrahmen, die auf den ersten Blick identisch zu sein scheinen. Aber die sprachlichen Bezeichnungen wechseln: In der Mitte des Flusses, Notturno, Melancolia, so die suggestiven Indikatoren. Der Außenraum ist leer, ohne Objekte und ohne Landschaften. Die Leere wird durch die Wörter belebt. Der Raum spiegelt sich im Blick des Lesers. Der Fensterrahmen, der Raum und die Semantik der Wörter sind Konstituenten der Stille. Die Immaterialität und das Metaphysische entsprechen dem assoziationsreichen Raum. Die Welt als Darstellung ist auch eine Reflexion über sich selbst, der Blick projiziert unsere Seelenzustände. Bei Pierre Garnier enthüllt der Raum den enigmatischen Charakter der Welt und bewahrt dennoch seine Einfachheit und Reinheit.

Die Architektur der Wörter, ihre Position auf der Seite und die fast musikalische Partitur der semantischen Konstellationen schaffen ein spatiales Universum. Der Leser ist Zeuge der rhythmischen Bewegungen der poetischen Sprache, er ist es, der das Tempo und den Rhythmus der Wahrnehmung bestimmt. Der Fluss der Buchstaben, die Verdichtung und Ausdehnung der Wörter, das Weiß, die Konzentration und Zerstreuung im Raum, all dies löst die Dynamik der spatialen Lesart aus. Andererseits misstrauen die beiden Dichter einer zu engen Beziehung zwischen dem Wort und den nicht sprachlichen Zeichen. Aus diesem Grund manifestiert sich der Raum oft in der graphischen und semantischen Spannung zwischen Bild und sprachlichem Ausdruck. „ [...] Das visuelle Gedicht bestand darin, auf einer Seite, eine Gruppe von Wörtern unter Spannung zu setzen, drei, vier, fünf Wörter, die in Wechselspielen zueinander stehen. D.h., es war zugleich ein sprachliches Objekt, denn dieser Wörter standen untereinander in Beziehung, aber es war auch eine Spatialisation in dem Sinne, dass die einzelnen Wortzellen in Spannung gebracht wurde.“ (Ausschnitt aus einem Interview für die Ausstellung Poésure et Peintrie in Marseille, 1993).

Die Verräumlichung der sprachlichen Zeichen, die Poetisierung der Wahrnehmung und des Raumes und der Lyrismus der ausgewählten Sujets, dies ist der Leitfaden der poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier. Die languematière kann sich in einen kosmischen Raum verwandeln, wie in dem Gedicht Soleil von Pierre Garnier von 1963. Der Vokal „o“ des Wortes soleil setzt sich von der linearen Struktur des Wortes ab, er vervielfältigt sich, nimmt unterschiedliche Formen und Größen an, das „I“ ist irgendwo in der Mitte, der Vokal gleicht einer Sternenkonstellation. In der Anthologie Spatialisme et poésie concrète (Gallimard Paris 1968), schafft Pierre Garnier eine Analogie zwischen dem Wort Sonne und der Ausdehnung auf der Seite: „Dies also das Wort, das zerbirst...alles schimmert, es geht vom
Wort Sonne ein ausschließlich sprachliches Strahlen aus.“ In seinen spatialistischen Gedichten lädt er uns ein, mit ihm die Abstraktion des Sichtbaren zu teilen. Die untergehende Sonne, das ist ein Kreis über einer Linie, die Felder, das sind gerade Linien und die Bäume sind Vertikalen. Die Geometrie ist die ideale Landschaft, die Konstruktion verändert die Sprache und umgekehrt. Die Bedeutung verändert die Semantik der geometrischen Formen. So wird aus der statischen Form des Rechtecks für ein Feld im Winter ein dynamischeres Rhomboid für den Sommer. Der Wechsel der Jahreszeiten entspricht einer minimalen Modifikation der geometrischen Konstruktion.

Ilse Garnier liebt Gedichtserien, dies ist etwas Musikalisches, Thema und Variationen, wie in ihrem Buch La Meuse von 1991 im Querformat, 33 Variationen über das Thema Wasser. In der Musik kennen wir z.B. die Goldbergvariationen von Bach oder die berühmten Diabellivariationen von Beethoven. Für ihr Gedicht wählt Ilse Garnier einige Wörter, alle aus dem semantischen Umfeld des Wassers: fließen, rinnen, glatte Wasser, tiefe Wasser, Murmeln, gleiten, spiegeln, ruhige Wasser. Die Kontinuität des fließenden Wassers spiegelt sich in den Wiederholungen der Kaskaden des Verbs fließen. Sie akzentuieren den sprachlichen und visuellen Rhythmus des Flusses und verleihen der Landschaft, die vor dem Auge des Lesers vorbeizieht eine geometrische Struktur. Die Reflexionen im Wasser entsprechen dem Innenleben, die Wörter, die sich von den Bewegungen des Flusses absetzen, evozieren Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und unvergessliche Natureindrücke. Die Veränderungen von Zeit und Raum werden sichtbar. Bei Ilse Garnier wird der topographische Raum zu einem imaginären Raum. Das fließende Wasser erzeugt eine Bewegung im Raum. Es ist ein Gedicht über das Wesen des Wassers durch die Sprache.

Die Wörter, der Rhythmus und die Struktur der Wörter sowie der Blick des Lesers, der den Bewegungen der Wellen folgt, schaffen einen poetischen Raum. Die Typographie vermischt sich mit dem Rhythmus des Wassers. Die Sprache verräumlicht sich.

Ein charakteristisches Element bei Ilse Garnier ist die Konstitution von Raum durch die Strukturierung und Konstruktion der sprachlichen Zeichen. In ihren Jardins de l’Enfance von 1994 visualisiert sie Erinnerungen an einst, die Paradiese und Ängste der Kindheit, ein oft wiederkehrendes Thema bei ihr, wie in ihrer Fibel oder dem Malbuch. Die Landschaft ist nicht nur einer der klassischen Topoi in der Dichtung und Malerei, in der poésie spatiale repräsentiert sie die Idealität der Sprache.

Die Diskrepanz zwischen dem Wort und den graphischen Zeichen, die Konstruktion des Raumes durch die Durchdringung der Zeichen und die Schaffung eines poetischen Universums ausschließlich durch die Konstellation von Buchstaben und Wörtern auf der weißen Seite, die Realität des Raumes in der Konzeption des Lesers, dies charakterisiert Ilse und Pierre Garniers poésie spatiale. Auch die Interpunktion trägt zum Schillern des Raumes bei. Der Punkt, das Ausrufezeichen oder das Fragezeichen haben alle eine Semantik, von der Behauptung zur Begeisterung zum Zweifel. Sie geben die Emotionen des Raumes wider. Ein Fragezeichen stellt in Frage, der Gedankenstrich schafft Nachdenklichkeit, die Klammer öffnet einen Gedanken. Der Punkt ist die Inkarnation des Raumes.

In seinem Maitagebuch, das ihm als Nachwort dient, schreibt er jene eindrucksvollen Worte, die die Poetik und den Lyrismus seiner poésie spatiale evozieren und die nach Pierre Garniers Tod in diesem Jahr besonders bewegen: „Der Punkt – alle Interpunktionszeichen: Tod-Geburt und dazwischen – Nicht Fülle – Verschwinden – Erscheinen. [...] Jeder Punkt ist der Eintritt in die Transparenz. [...] der Punkt ist das Bild des Nichtbildes – der Übergang von der Leere zur Erscheinung – und zurück. Was existiert, existiert nicht, existiert. Die Endpunkte, die den Raum säumen. Außerhalb des Ortes der Ort. Ich finde mit anderen Mitteln die Zone der Dichtung.“

 

Gaby Gappmayr
Geb. 1966 in Innsbruck, Studium der Romanistik, Anglistik und Amerikanistik an der Universität Innsbruck. Lehr- und Übersetzertätigkeit. Veröffentlichungen zur französischen Dichtung und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts und zu zeitgenössischen interdisziplinären Entwicklungen in der Literatur, Musik und bildenden Kunst.

 

erschienen im etcetera Nr. 57 / konkrete Poesie / Oktober 2014 mehr...