Ingrid Reichel DIE NEUGIERDE AUF DEN MENSCHEN HINTER SEINEM WERK
ART FACES
Künstlerporträts aus der Sammlung Würth Art Room Würth Austria (Böheimkirchen, NÖ)
Eröffnung: 22.02.10
Ausstellungsdauer: 23.02.10 – 30.05.10.
Wanderausstellung der Kunsthalle Würth, Schwäbisch Hall vom 25.01.03 – 29.06.03
Ausstellungskonzept und –realisation: François Meyer, C. Sylvia Weber, Kirsten Fiege
Zur Ausstellung erschien ein deutsch-englischer Katalog:
ART FACES
Künstlerporträts aus der Sammlung François und Jacqueline Meyer Künzelsau: Swiridoff Verlag, 2003. 128 S.
ISBN 978-3-934350-93-3
€ 34.-
Das Portrait steht hoch im Kurs. Die Kunsthalle Wien und Krems haben sich vergangenes Jahr ausgiebig mit dem Thema beschäftigt. Nun zeigt auch Artroom Würth Austria eine Wanderausstellung aus dem Jahr 2003, die sich ausschließlich mit der Portraitfotografie von KünstlerInnen auseinandersetzt.
Mit dem Gesicht der KünstlerInnen hat es eine besondere Bewandtnis, waren es doch einst nur die Werke, die zählten. Alleine Selbstportraits diverser Maler aus vergangenen Jahrhunderten geben uns Zeugnis über ihr Aussehen. Mit Ende des 19. Jahrhunderts und der Erfindung der Fotografie wuchs auch das Interesse an den Personen, die die Museen mit ihren Werken füllten. Vorreiterrolle hatten diesbezüglich Picasso und Dalí. Sie erkannten die Werbewirksamkeit und wussten sich in ihrer Rolle als Künstler markstrategisch in Szene zu setzen. Dafür bedurfte es allerdings einer dritten (!) Figur: der des Fotografen. In diesem Sinne wuchsen der Künstler, sein Werk und deren Fotograf zu einer Symbiose und ein neuer Genre der Fotografie entstand: das Künstlerportrait. Dabei bedurfte es zu Beginn noch einer gewissen Intimität. Bei Picasso war das nicht schwer, hatte er doch in den 30er Jahren die Fotografin Dora Maar als Geliebte. Doch erst nach dem II. Weltkrieg, in den 1950er Jahren, konnte sich das Künstlerportrait durch die Kunstströmungen in Paris und New York voll entwickeln.
Wenn wir heute über Kunst reden, denken wir nicht mehr darüber nach, wie sensationell diese Entwicklung war und wie bedeutungsvoll sie für den gegenwärtigen Kunstmarkt ist. Der Künstler ist zur Kultfigur geworden und unterscheidet sich dennoch von den üblichen Berühmtheiten mit ihren Starallüren in den Adabeiszenerien. Man möchte wissen, wer sich hinter manchen Kunstwerken verbirgt. Und mit WER ist in diesem Fall nicht der Name, sondern die Person mit ihrem Aussehen gemeint. Vermutlich ist diese Neugierde nichts anderes als der Drang sich zu beruhigen, dass eben Künstlergenies auch nur Menschen wie du und ich sind. Vielleicht will manch Kunstinteressierter auch den göttlichen Funken spüren und hofft ihn in einer Fotografie zu entdecken. Was auch immer die Beweggründe sein mögen, der Mensch hat den Drang sich ein Bildnis zu machen.
Interessant an der oben genannten Symbiose der Dreifaltigkeit (Künstler-Werk-Fotograf) ist das Phänomen, dass die Fotografen meist einer jüngeren Generation angehörten und sie somit, im Vergleich zu den bereits arrivierten Künstlern, die sie ablichteten, noch nicht bekannt waren. Nur wenige schafften es zu Anerkennung und Ruhm. Die meisten blieben im Verborgenen, im Schatten der Künstler. Das Künstlerportrait selbst bleibt jedoch naturbedingt immer zeitgenössisch und hat daher einen authentischen Charakter. Bis heute dienen diese Aufnahmen oft „nur“ als Dokumentation und füllen die Archive wie eine Begleiterscheinung eines großen Œuvres.
Der 1953 in Genf geborene Fotograf François Meyer begann 1975 bildende Künstler aus dem europäischen und amerikanischen Raum in ihren Ateliers zu besuchen und zu fotografieren. Mayer verdankt sein Kunstgespür seinem Vater, der Sammler surrealistischer Malerei war. „80 Fotografien lagen mehr als 20 Jahre vergessen in einer Schublade“, steht im Vorwort des Katalogs geschrieben. Erst die Krebserkrankung seiner Frau Jacqueline im Jahr 1995 brachte ihn dazu, seine Sammlung durch Ankauf anderer Künstlerfotografien zu erweitern. Dahinter verbarg sich die Idee diese Sammlung später der Krebsstiftung Fondation du Centre pluridisciplinaire d’Oncologie anzubieten. Als die Firma Würth das Projekt mit der ersten Ausstellung im Jahr 2003 unterstützte, umfasste die Sammlung 250 Fotografien von 42 verschiedenen Fotografen. Wann genau die Sammlung in den Besitz der Firma Würth überging, bleibt jedoch laut Katalog und Ausstellung unbekannt. Jacqueline Meyer verstarb noch vor der Realisation der Ausstellung. Seither ist die Ausstellung als Wanderausstellung in den verschiedenen Artrooms der Firma Würth zu sehen.
Das älteste Foto der Sammlung stammt von August Sander mit einem Portrait von Otto Dix aus dem Jahr 1928. Die jüngsten Werke sind 1999 datiert. Alle in der Ausstellung und im Katalog gezeigten Fotografien sind schwarz-weiß Aufnahmen. Der jüngste Fotograf ist der 1968 geborene Franzose Philippe Bonan. Viele Fotografen und abgebildete KünstlerInnen sind bereits verstorben oder sehr alt.
Meyer erfasst mit seiner Sammlung ein Jahrhundert bildender Künstler von Rang und Namen: Von Hans Arp, bis Andy Warhol. Die ältesten: Ferdinand Hodler (1853-1918) von Fred Boissonas fotografiert, Pierre Bonnard (1867-1947) von André Ostier (1946), Cuno Amiet (1868-1961) von Kurt Blum (1954); die jüngsten: Jean-Michel Basquiat (1960-1988) von James van der Zee (1982), Jean-Charles Blais, geboren 1956, und Stephan Balkenhol, geboren 1957, beide fotografiert von Martin Bühler.
Meyer ging in seiner Sammlung weder chronologisch vor, noch hatte er das „Who is who der Kunstwelt“ im Sinne. Wichtig waren ihm die Qualität der Fotografien und die Einheit zwischen dem Künstler und seinem Werk. Dabei sammelte er auch Aufnahmen (noch) relativ unbekannter Fotografen, wie Philippe Bonan und Sebastiano Piras. Berühmte Highlights der Anfänge der Künstlerportraits wie von Man Ray, Henri Cartier-Bresson und Brassaï, fehlen völlig. Dafür kann man sich umso mehr an den Aufnahmen wiederentdeckter Fotografen, wie Michel Sima, erfreuen.
Fazit: eine sehenswerte Ausstellung, dazu ein sehr schön gestalteter Katalog mit einem aufschlussreichen Essay der Schweizer Kunsthistorikerin Erika Billeter über die Sammlung Meyer und die Geschichte der Künstlerportraits.
Es bleibt zu wünschen, dass Würth diese Sammlung weiter ergänzt und hoffentlich demnächst den Katalog aktualisiert, da die Daten nicht mehr zeitgemäß sind. Von der Auswahl der Fotografen im Katalog sind seit 2003 immerhin vier Fotografen und sechs Künstler verstorben.
LitGes, Februar 2010
Augenschmaus. Rez.: I. Reichel
Ingrid Reichel IM RAUSCH DER SINNE
AUGENSCHMAUS
Vom Essen im Stillleben Bank Austria Kunstforums (BAK)
Eröffnung: 09.02.10
Ausstellungsdauer: 10.02.10 – 30.05.10.
Kurator: Heike Eipeldauer
Ingried Brugger, die Direktorin des Bank Austria Kunstforums, meinte in ihrer Eröffnungsrede, dass in unserer Zeit der Event- und Lifestylereportagen, die Möglichkeit bestehe, diese Ausstellung als Anbiederung aufzufassen. Anbiederung an wen? Vermutlich an die Presse oder einfach an den Besucher, der letztendlich, sage ich, auch nur wiederum ein Konsument seiner Zeit ist. Wie schafft man also wissenschaftlich fundierte und dennoch konsumentenfreundliche Ausstellungen so zu konzipieren, dass beide Aspekte erfüllt sind? Also dass die Qualität einer Ausstellung nicht unter dem Druck des Ticketverkaufs zu leiden beginnt? Das ist natürlich eine Frage, mit der jedes Museum auf der Welt zu kämpfen hat. Es ist eine Gratwanderung par excellence! Für die Kunstliebhaber und Kritiker bietet diese Gratwanderungen das Spannungsfeld ihrer Beobachtungen, denn Hand aufs Herz, welches Museum - vor allem welches große Museum - lässt sich auf Experimente ein? Die gezeigten Kunstwerke sind allesamt Kostbarkeiten und müssen selbst nicht mehr beurteilt werden. Das Dilemma der Museen beruht nun mehr auf der Aufgabe: Wie bekomme ich mit wenig Geld dennoch Meisterwerke für meine Ausstellung?
Insofern ist die in Bruggers Einleitung genannte Anbiederung gar nicht absurd, denn Stillleben kommen beim Publikum gut an!
Es liegt nun an der Arbeit des Kurators dieses Klischee der Anbiederung wieder zu zerstören. Und das ist der Kuratorin Heike Eipedauer tatsächlich hervorragend gelungen. In dieser von ihr konzipierten Ausstellung hat sie fünf Jahrhunderte Essstillleben von Museen, institutioneller und privater Sammlungen zusammengetragen! Vom 16. Jahrhundert, dem Beginn der natura morta, bis zur Gegenwart umfasst die Schau die Höhen und Tiefen dieses Bildgenres. Spannung hat Eipeldauer nicht zuletzt damit erzeugt, dass sie in der Aufteilung und Hängung der geliehenen Exponate NICHT chronologisch vorgegangen ist. Dies zeigt die Risikobereitschaft der Kuratorin, wenn sie Gemälde alter Meister neben Werke der Moderne präsentiert.
Dafür ist die Ausstellung mit folgenden sechs Themen durchwandert:
Das Objekt als Subjekt – Die Geburt des Stilllebens
Vanitas – Allegorien vom Leben und Tod
Nahrung zwischen Existenzgrundlage und Konsumobjekt
Table/ Tableau und der weiblich codierte Raum des Stilllebens
Fleisch und die Grenzen der Darstellbarkeit von Essbarem
Das Stillleben als malerisches Experimentierfeld
Dabei ist die Erkennbarkeit der einzelnen Themen unbedeutend, vielmehr ist die Mischung der Themen in ihrer Kombination ausschlaggebend für den Erfolg dieser Ausstellung.
Bei der Auswahl der Exponate ist besonders hervorzuheben, dass endlich weiblichen Malern seit dem Beginn des Genres Beachtung geschenkt wurde. Da die Werke der wenigen Malerinnen des 16. -19. Jahrhunderts, spätestens nach ihrem Ableben, meist in Museumsarchiven oder eben in Privatsammlungen verschwanden, ja förmlich vor der Öffentlichkeit verborgen wurden, ist es ein besonderes Highlight dieser Ausstellung, Werke aus dem 17. Jhdt. von Louise Moillon und Clara Peeters, aus dem 18. Jhdt. von Anne Vallayer-Coster, aus dem 19 Jhdt. von Berthe Morisot und Paula Modersohn-Becker und aus der Moderne von Maria Lassnig, Alina Szapocznikow, Martha Rosler, Susan Lacy, Nina Sobell und Mona Hartoum zu sehen. Nicht nur das beste malerische Weißbrot von Anne Vallayer-Coster - zumindest in dieser Ausstellung – zeigt, dass Frauen in ihrer Malfähigkeit und ihrem Talent ihren männlichen Kollegen in nichts nachstanden. Politische Herrschaften beeinflussten die Kunst nicht nur in ihrer Geschlechtlichkeit sondern auch in ihrem Inhalt. Welche Früchte ab wann gemalt werden konnten, hing letztendlich auch von den Ansprüchen der jeweiligen Herrscher ab. Dennoch wurde nicht alles, was vorhanden war, gemalt, entscheidend war schließlich die Ästhetik der Komposition, das Zusammenspiel der einzelnen Produkte.
Das Stillleben, welches einst nur als Randerscheinung galt und meist nur Teil eines Gemäldes war, entwickelte sich erst ab dem 16. Jahrhundert zu einem eigenen Genre. Die illusionistische Darstellung einfacher Dinge verdrängte die sakralen Motive und hielt im Verlauf der folgenden Jahrhunderte von den Caravaggisten mit ihren Frucht- und Gemüsekompositionen, dem spanischen bodégon - eine eigenständige Art des Küchenstücks, dem französischen Hofprunk der Jagdstillleben bis zu den niederländischen Typologien, Einzug in den Wohnzimmern der Kaufmänner und späteren Bürgern.
Der gedeckte Tisch, der die lebenserhaltenden Produkte zeigt, ist jedoch auch Sinnbild der Vergänglichkeit.
Das tote Tier vor der Verarbeitung zum Verzerr, das Obst und das Gemüse bevor es verfault, zeigen die Gegensätze zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen Ästhetik und Gebrauch, zwischen Fiktion und Realität, aber vor allem die Lebenserhaltung durch den Tod.
Das 20. Jahrhundert bot nun die vielseitigsten Erneuerungstendenzen des klassischen Essstilllebens. Sei es die von Daniel Spoerri initiierte Eat Art, die gedeckte Tische nach dem Essen mit all ihrem Abfall und schmutzigen Geschirr unverändert festhält oder die von Damien Hirst, der mit Formaldehyd Tiere sowie Lebensmittel konserviert. Die Varianten der Videokunst ermöglichen ebenfalls ein breites Spektrum der Interpretation, wie z.B. Künstlerinnen, die durch Kochsendungen die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu definieren.
Besonders aufregend präsentiert sich eine nüchterne Installation eines Tisches mit Gedeck, auf dessen Teller eingeblendet die Reise durch den Schlund zum Darm vollzogen werden kann, von Mona Hatoum aus dem Jahr 1996. Das c.a. fünfminütige Video von Sam Taylor-Wood „A littke Death“, welches einen an einer Wand kopfüber gelehnten toten Feldhasen in seiner kompletten materiellen Auflösung im Zeitraffer zeigt, ist einer der stärksten Exponate in dieser Schau. Faszinierend!
So sehr mein Herz für die Moderne schlägt, so sehr wird mir selbst bei dieser Ausstellung bewusst, wie schätzungswürdig doch diese alten Meister sind und sie noch lange nicht in ihrer Aussagekraft ausgedient haben. Es gibt kaum schönere Weintrauben als die von Ferdinand G. Waldmüller, leuchtendere angeschnittene Zitronen als die von Willem Kalf, Appetitanregenderes als von Anne Vallayer-Coster, ein saftigeres Steak als von Félix Vallotton oder Joachim Beuckelaer und schmackhaftere Austern als von Cornelis de Heem.
In dieser Schau ergänzt sich die Kunst der Gegenwart mit den alten Meistern und macht sie zu einem Fest der Sinne. Ob frugal oder prunkvoll, ob unverdorben und gesund oder der Fäulnis sehr nahe, einfach berauschend!
LitGes, Februar 2010
Zur Ausstellung erschien folgender Katalog: AUGENSCHMAUS
Vom Essen im Stillleben Hg. Ingried Brugger, Heike Eipeldauer
München: Prestel Verlag, 2010. 248 S.
ISBN 978-3-7913-6269-4
€ 29.-
Intervention:Werner Reiterer. Breath. Rez.: I. Reichel
Ingrid Reichel DER SCHREI MIT SUCHTPOTENZIAL
Ausstellungsreihe Intervention:
WERNER REITERER.BREATH
Interaktive Licht- und Toninstallation Oberes Belvedere, Marmorsaal
Eröffnung: 18.11.09
Ausstellungsdauer: 19.11.09 – 28.03.09.
Kurator: Rüdiger Andorfer
Ausstellungskatalog in Deutsch-Englisch:
WERNER REITERER. BREATH.
Ausstellungsreihe Intervention
Hg. Agnes Husslein-Arco Wien: Belvedere, 2009. 64 S.
ISBN 978-3-901508-77-6
€ 15.-
„Der Schrei“ ist wohl eines der berühmtesten Themen Edward Munchs. Tiefe Verzweiflung und Depression drücken sich in der verzerrten Figur, die auf den vier verschiedenen Versionen schreit, aus. Doch der Schrei ist stumm. Dennoch bekommt die Gestalt all unsere Aufmerksamkeit, wir bleiben gebannt vor ihr stehen. Es ist diese Stummheit, die uns lähmt, wie in einem Albtraum, wenn man sich die Seele aus dem Leib schreit und trotzdem kein Ton herausbekommt …
Werner Reiterer bewirkt in seiner Installation „Breath“ (Atmen) mit der Auseinandersetzung des Schreis das komplette Gegenteil. Es handelt sich um den Schrei, der befreit, Tabus aufbricht, Konventionen, ja sogar Verhaltensregeln durchbricht und einen anschließend erschöpft oder auch entspannt atmen lässt. Hier speziell sind die Verhaltensregeln in den Museen gemeint, die eine gediegene gedämpfte, ich möchte fast sagen klerikale Demutshaltung erfordern.
„Breath“ ist eine interaktive Installation, was soviel bedeutet, dass es ohne Zutun des Besuchers, bzw. Betrachters kein Kunstwerk gibt. Eine weißer beidseitiger Klappständer, aufgestellt mitten im Marmorsaal des Belvedere, mit einer handgeschriebenen Anweisung in vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Französische und Italienisch) „SCHREIEN SIE JETZT SO LAUT SIE KÖNNEN!“ ermutigt aktiv zu werden. Nur wer wirklich laut genug schreit, den vordefinierten Pegel der Lautstärke überschreitet, wird Zeuge einer elektronischen Verschaltung von Licht und Akustik im Raum: Alle Lüster beginnen dreimal auf- und abzudimmen, gleichzeitig ertönt über Lautsprecher, die in den Kronleuchtern versteckt sind, das „erschöpfte“ Atmen eines Menschen, wofür Reiterer seine eigene Stimme einsetzte. Der Raum, als tote Materie, wird somit durch den Schrei eines Menschen kurzfristig zum Leben erweckt. Der sehr hoch angesetzte Auslösepegel verlangt, um das Kunstwerk zu aktivieren, völlige Enthemmung und ein absolutes Ausgesetzsein anderen gegenüber, was die damit verbundene Gefahr der Bloßstellung beinhaltet.
Wir befinden uns allerdings in einem Museum und nicht in einer Schreitherapie, wir sind Teil eines Experiments, welches zwischen Tradition und Moderne versucht zu vermitteln. Das Obere Belvedere, welches die bedeutendste Sammlung österreichischer Kunst, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht, beherbergt, startete 2007 eine Ausstellungsreihe mit dem Namen „Intervention“. Hierfür lädt das Haus zweimal jährlich österreichische Künstler ein ihre Arbeit mit der Architektur, der Geschichte und der Sammlung des Belvederes zu konfrontieren. Nach Gudrun Kampl, Brigitte Kowanz, Franz Kampfer und Christian Hutzinger gab man nun dem 1964 geborenen Grazer Werner Reiterer die Möglichkeit der Auseinandersetzung. Reiterer studierte 1984-1988 bei Maximilian Melcher Grafik an der bildenden Akademie und nunmehrigen Universität Wien.
Die bereits erwähnte „absichtliche Regelverletzung setzt vielfältige Kommunikationsprozesse zwischen Publikum, Kunst und Institution in Gang.“ hofft Agnes Husslein-Arco, die Direktorin des Belvedere in ihrem Vorwort des Katalogs. Ob das vermutlich konservative Publikum des Belvedere diesen Kommunikationsprozess in Gang setzt oder ob es von vereinzelten Schreien eher aus der besinnlichen Betrachtung von Klimts Kuss gerissen werden wird, wird sich weisen. Bei der Eröffnung jedenfalls gab es keine Scheu, man schrie in Gruppen, um ja den Pegel zu übertreffen und den Prunkraum atmen zu lassen. Die gewaltigen Schreiexzesse waren jedenfalls deutlich hörbar bis ins Foyer vorgedrungen und erfüllten das ganze Schloss.
Der Katalog bietet abgesehen von einer siebenteiligen Fotoserie, die den bedauernswerten Versuch unternahm das interaktive Schauspiel des Lichts einzufangen, ein aufschlussreiches Interview des Kurators Rüdiger Andorfer mit dem Künstler vom 06.10.09.
Reiterer arbeitet seit den 1980ern mit den Medien Zeichnung, Skulptur und Installation. Themenschwerpunkt sind die Traditionen und Muster menschlichen Verhaltens im öffentlichen Raum.
Mit „Breath“ führt Reiterer zwei Dinge zusammen: eine institutionelle Kritik und den Besucher als soziale Skulptur. Herrschaftliche Strukturen anzuschreien und Verhaltensregeln zu brechen, haben subversiven Charakter. Reiterer sieht seine Installation als „Serviceleistung“, da die Kunst „eine Dienstleisterin“ im idealsten Sinn sei.
In der Regel würden Menschen tun, was man ihnen aufträgt. Mit seiner Aufforderung „SCHREIEN SIE SO LAUT SIE KÖNNEN“ erhält der Besucher eine Legitimation etwas zu tun, was sonst wohl als störend empfunden und keine Befürwortung finden würde. „Das Museum eröffnet eine Parallelität, in der ich sozusagen die Sau rauslassen kann, ohne dass ich Sanktionen befürchten muss.“ (S. 32). Die einzige Sanktion, die man zu erwarten hätte, wäre, dass sich der elektronische Mechanismus nicht auslöst, eben erfolglos aktiv geworden zu sein, nicht laut genug geschrieen zu haben, weil man vielleicht doch zu gehemmt war und an sich zweifelte. Ein oder zwei Sekunden muss man eine bestimmte Mindestdezibelzahl erreichen, sonst würde „die installative Aktion des Aus- und Einatmens und Dimmens nicht aktiviert“. Bei denjenigen, die die Aufforderung (noch) nicht gelesen haben, nicht um die Installation und ihre Licht- und Tonkonsequenzen Bescheid wissen, nichts anderes als einen unkontrollierten Schrei wahrnehmen, wird „die ganze Schadenfreude und Peinlichkeit auf diesen einen Besucher, der es versucht hat, zurückkippen.“ Um dem Vorzubeugen konnte man auf anderen Plätzen, wo „Breath“ bereits installiert wurde, das soziale Verhalten der Gruppenbildung beobachten. Gemeinsam ist man eben lauter, in diesem Fall erfolgreicher, vor allem bleibt man in der Gruppe anonym und ist nicht Alleinverursacher und somit nicht verantwortlich. In den vereinigten Staaten konnte Reiterer bei zwei Einzelausstellungen sogar eine Welle von Hysterie erleben: „Nach zwei Stunden hat es mehrere Gruppierungen gegeben, die permanent diese Arbeit ausgelöst haben.“ Kurzum eine Arbeit mit Suchtpotenzial.
In seiner Arbeit sucht Reiterer nicht die Ästhetik. Er schütze sich vor Kategorisierung und Erwartungshaltungen. Egal in welcher Technik er arbeitet, alleine der Stil des Denkens hätte mentalen Wiedererkennungswert. (S.28) Natürlich bleibe es immer eine Frage der Finanzen, wie man seine Projekte realisieren könne, manche Ideen kämen zu früh. Reiterer, der in seinen kritischen Arbeiten immer wieder den Menschen als Skulptur einbringt, jedoch ausschließlich sich selbst darstellt, entzieht sich damit der Gefahr kritisiert oder gar verklagt zu werden: „In unserem aufgeklärten Zeitalter gibt es genau eine Person, mit der man alles machen darf – die eigene!“ (S. 38)
Schließlich unterhielten sich Andorfer und Reiterer noch um die Wichtigkeit von Philosophie, Religion und Wissenschaft in der bildenden Kunst. Die Religion, speziell die römisch-katholische Kirche, habe in der Gegenwartskunst kaum mehr Bedeutung, meint der Agnostiker. Weiters befürchtet er, „dass sich die bildende Kunst eher als schlechte Illustratorin für die Ideen der Philosophie hergibt“ (S. 38). Lieber sieht er eine Annäherung an die Wissenschaft, die wie die Kunst von der Neugierde getrieben wird.
Die Installation ist bis Ende März zu beschreien und bleibt dann als „Schläfer“ im Belvedere. Irgendwann wird sie wieder „ausgegraben“ werden, sieht Reiterer die Zukunft seiner Donation positiv entgegen.
Wer sofort mehr über diesen hervorragenden Künstler wissen will, kann sich einen virtuellen Rundgang durch die Einzelausstellung „Auge lutscht Welt“ aus dem Jahr 2007 im Kunsthaus Graz auf You Tube ansehen.
LitGes, November 2009
Maximilian Melcher. Rez.: I. Reichel
Ingrid Reichel EINE LEISE ABER FULMINANTE RETROSPEKTIVE
MAXIMILIAN MELCHER
1922-2002. NÖ Dokumentationszentrum für moderne Kunst
Eröffnung: 06.11.09
Ausstellungsdauer: 07.11.09 – 04.12.09.
Kurator: Erich Steininger
Am 31.10.2002 verstarb Max Melcher im 80. Lebensjahr, der Künstler, ehemalige Professor und Rektor der Akademie der bildenden Künste in Wien. An seinem 7. Todestag erinnert man an ihn mit einer Retrospektive im NÖ Dokumentationszentrum für Moderne Kunst (DOK) in St. Pölten.
Seit April 1995 leitet Erich Steininger als Präsident der NÖ Kunstvereine das DOK. Mit Jahresende scheidet er aus diesem Amt und verabschiedet sich vom DOK mit dieser großartigen Schau des Professors dessen Schüler er selbst war. Seine Nachfolge wurde viel diskutiert. Knapp vor Ernest Kienzl hat nun Leopold Kogler die Runde für sich entschieden. In drei Jahren wird man mehr wissen, ob diese Wahl ihre Berechtigung hatte oder nur durch politischen Druck und nicht aus künstlerischer Perspektive entschieden wurde.
Max Melcher wurde 1922 in der Steiermark geboren. 1938 besuchte er die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, 1940 wechselte er an die Akademie der bildenden Künste und wurde in die Meisterklasse für Graphik bei Christian Ludwig Martin aufgenommen. Doch bereits nach einem Jahr unterbrach der 2. Weltkrieg sein Studium. Nach der russischen Kriegsgefangenschaft konnte er 1948 sein Studium wieder aufnehmen, welches er 1952 absolvierte. Doch die Akademie ließ ihn nicht mehr los. Vom Lehrbeauftragten 1955 zum Professor der Meisterschule für Graphik 1967 bis zum Rektor (1972-76; 1984-87) ging seine Karriere steil bergauf. Melcher war nicht nur ein hervorragender Künstler, sondern auch ein Meister des Understatements: "Je weniger ich für mich gearbeitet habe, umso besser sind die Studenten geworden. Das Um und Auf in diesem Geschäft ist: Derjenige, der rauskommt, muss besser sein als ich, und die guten Leute sind besser geworden." (Melcher: Zitat aus dem Standard Nachruf 08.11.02).
Und so gingen aus seiner Klasse viele Berühmtheiten hervor. Siegfried Anzinger, Günther Damisch, Tone Fink, Wolfgang Herzig, Edelbert Köb, Peter Pongratz, Gottfried Salzmann, Hubert Schmalix, Linde Waber und eben Erich Steininger, nur um ein paar beim Namen zu nennen.
Ob die genannten Künstler tatsächlich besser wurden als ihr Lehrer, mag dahingestellt sein. Jedenfalls ist es eine Seltenheit, dass unter einem Professor soviele Schüler es zur Reputation brachten. Hier kann es sich nicht mehr um Zufall handeln, sondern um ein Verdienst. Ein Verdienst, das vom Land und dem Staat, wie so oft, viel zu wenig beachtet wurde. Es sei Erich Steininger nochmals gedankt endlich eine würdige Retrospektive dieses vom Kunstmarkt unterschätzten österreichischen Künstlers, hier im DOK in St. Pölten zu zeigen.
„Die sinnloseste und absurdeste aller Tätigkeiten ist die künstlerische. Um der scheinbaren Sinnlosigkeit der Existenz Sinn zu geben, um in bildnerischer Tätigkeit etwas festzuhalten, wo alles zwischen den Fingern zerrinnt und andere große Worte kann man dagegensetzen. Seine eigene Wirklichkeit schaffen, um darin geborgen zu sein, um die andere, schale abgegriffene Wirklichkeit angreifen zu können, um zu kämpfen, gegen sich, die anderen, gegen die Windmühlen, zu gewinnen, zu verlieren, stark und schwach zu sein in einem. Stärke bewundern aus eigener Schwäche, Schwäche verstehen aus eigener Stärke. Menschlich sein, allzumenschlich sein müssen, Flügel haben, doch mit beiden Füßen angenagelt sein, leben und überleben müssen.“ Maximilian Melchers eigene Worte sagen mehr als alle Beschreibungen.
Seine großformatigen Werke, vorwiegend Mischtechniken und Collagen auf Papier oder Karton, haben die Kraft von Ölbildern. Kontrastreich und farbenprächtig prägen sie sich in unser Gehirn. Auch die kleinformatigen Graphiken auf Transparentpapier, die vielen Radierungen, Lithographien und Holzschnitte verfehlen ihre Wirkungen nicht. Themen sind die Verarbeitung des Krieges, die Gesellschaft, die Sinne und vor allem die Selbstdarstellung.
Achtung: Zur Ausstellung erschien kein Katalog.
Diese sensationelle Ausstellung ist NUR bis zum 04.12.2009 zu sehen! Nicht versäumen!
LitGes, November 2009
A photographer's life. 1990 - 2005: Annie Leibovitz. Rez.: I. Reichel
Ingrid Reichel DAS ENDE DES GLANZ UND RUHMS
ANNIE LEIBOVITZ
A Photographer’s Life. 1990-2005. Kunst Haus Wien
Eröffnung: 29.10.09
Ausstellungsdauer: 30.10.09 - 31.01.10
Eine Ausstellungstour des Brooklyn Museums, NY
Kuratorin: Charlotta Kotik
Ausstellungskatalog ANNIE LEIBOVITZ
A Photographer’s Life. 1990-2005. Englisch
NY: Random House Inc., 2006. 472 S.
ISBN 978-0375505096
Euro 78 [A]
Die durch ihre finanziellen Probleme in die Schlagzeilen geratene amerikanische Fotografin Annie Leibovitz kam zu der Eröffnung ihrer Ausstellung im Kunst Haus nach Wien. Eine Ausstellung, die von Charlotta Kotik kuratiert und vom Brooklyn Museum in New York 2006 beginnend auf internationale Tour ging. Nun sind die Werke einer der berühmtesten lebenden Photographinnen in Wien zu sehen. Der Direktor des Kunst Hauses Wien Franz Patay freut sich mit dieser Ausstellung an die 1993 gezeigte Ausstellung „Annie Leibovitz 1970-1990“ chronologisch anzuknüpfen.
Nach ihrer Ausbildung am San Francisco Art Institute arbeitete Leibovitz in den 70ern als Chef-Fotografin bei der Musikzeitschrift Rolling-Stone. Zu Beginn der 80er wechselte sie zum Gesellschaftsmagazin Vanity Fair und arbeitete unter anderem für die Modezeitschrift Vogue. Ihre Coverfotos, Werbeaufträge (GAP, Dove…) und aufwendig inszenierten Portraits von Prominenten, vorwiegend aus der US-Politik, der Wirtschaft und der Kulturszene verhalfen ihr zu Weltruhm.
Leibovitz wurde 1949 als drittes von sechs Kindern in Waterbury in Connecticut geboren. Ihr Vater war Offizier bei der US Air-Force, ihre Mutter war Modern Dance Tänzerin und Tanzlehrerin. In den späten 80ern lernte sie die 16 Jahre ältere Schriftstellerin, Kulturtheoretikerin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag kennen. Nach bereits zwei überwundenen Krebserkrankungen starb Sontag schließlich 2004 an Leukämie. 2001, im Alter von 51 Jahren, bekam Leibovitz ihre Tochter Sarah durch Samenspende. 2005 wurde sie nochmals Mutter von Zwillingsmädchen Susan und Samuelle, die sie über eine Leihmutter austragen ließ. Soviel zum Privatleben der Fotografin.
„A photographer’s life“ kann demnach nur eine Mischung von Auftragsarbeiten und privaten Fotos sein. Mit der Krebserkrankung und dem Tod ihrer Freundin und ihres Vaters, mit den Geburten ihrer drei Kinder mögen wohl diese Jahre die intensivsten gewesen sein. Chronologisch arbeitet Leibovitz die letzte 15 Jahre ihres Lebens auf. Grub sich archäologisch, wie sie es im Katalog in ihrem ersten Satz ihres elfseitigen Essays beschreibt, durch ihr Bildmaterial und erkannte erst dabei die Wichtigkeit der privaten Dokumentation in ihrem Leben.
„I don’t have two lives. This one life, and the personal pictures and the assignment work are all part of it.“ ("Ich habe keine zwei Leben. Dies ist ein Leben, die persönlichen Bilder und die Auftragsarbeiten sind alle Teil davon.")
Fotografien bekommen nach dem Tod eines geliebten Menschen eine andere Bedeutung. Ein Motiv welches von Touristen mehrfach ausgeschlachtet wurde: die verlassene Felsenstadt Petra in Jordanien, die zwei Felsen mit Blick auf den Tempel, dazwischen ein Mensch, der die gewaltigen Größendimensionen ermöglicht. Wer kennt sie nicht diese schnell geknipsten Reiseaufnahmen? Susan Sontag steht mit dem Rücken zur Fotografin zum Tempel gerichtet, klein, weit weg, im Schatten der Felsen nicht mehr erkennbar. Und doch bekommt dieses eher unbedeutende Foto plötzlich einen hohen Stellenwert. All das Wissen um die Lebensfreude, die Stärke eines Menschen wird von diesen Felsen absorbiert, übrig bleibt das Wissen um seine Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit.
Wird man fotografiert, soll man Lächeln, sich von der nettesten Seite zeigen, so ist Leibovitz aufgewachsen und großteils alle vor 1980 Geborenen. Bitte lächeln! Cheese! Wieviel gekünstelte Portraits und verkrampfte Familienaufnahmen es wohl deswegen gibt … dafür gilt nun für Passfotos Lächelverbot.
Leibovitz hat sich von diesen Zwängen sehr früh befreit. Das Ungezwungene, das Spontane und Ungestellte machen den Reiz ihrer Fotos aus. Schnappschüsse, die keine Schnappschüsse sind. So ist einer ihrer stärksten Portraits dieser Schau, wie ich meine, das ihrer Mutter (Cliffton Point, 1997). Die Mutter lächelt nicht. Dass Leibovitz Eltern sich mit dieser Aufnahme zunächst nicht anfreunden konnten, versteht sich von selbst. Es ist der kritische, fragende Mutterblick der einen direkt trifft. Der Blick, der Ihrer Tochter galt, richtet sich unverblümt an den Betrachter. Die Sorge, das Wohlwollen, die Liebe und die Skepsis in diesem einen Blick gebündelt, konzentriert sich nun auf uns, den Besuchern dieser Ausstellung. Leibovitz veröffentlichte dieses Foto in ihrem Buch „Women“ 1999. Schließlich signierte die Mutter die Bücher, weil sich ein Fanclub um sie gebildet hatte.
Die Familienfotos sind großteils S-W-Aufnahmen und kleinformatig gehalten. Sie zwingen den Betrachter näher zu kommen, und diese Nähe verursacht Intimität. Kein peinliches, voyeuristisches Empfinden ist damit verknüpft, denn man sieht worauf man sich beim Näherkommen einlässt.
Wenn also Zeitungen und Kritiken die fotografische Dokumentation der Krebserkrankung und des Todes Susan Sontags zaghaft aber dennoch als moralisch und ethisch, womöglich sogar ästhetisch angreifbar halten, ja von einer Beschwerde seitens David Rieff, der Sohn Susan Sontags, sogar zu lesen ist, kann man sich nur wundern. Rieff glaube nicht, dass seine Mutter gewollt hätte, dass diese privaten Fotos veröffentlicht werden, steht unter anderem geschrieben und er denke über mögliche Maßnahmen nach.
Susan Sontag hat in ihrem langen Leidensweg gewusst, wer sie auf ihren letzten Weg begleitet. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen ein testamentarisches verankertes Veröffentlichungsverbot der privaten Fotos zu bewirken. Das sagt einem der Hausverstand.
Hier wird wieder an unsere christliche Erziehung von Pietät und Intimität appelliert, die Blut, Schleim und Plasma von unserer Geburts- bis zu unserer Sterbestunde tabuisiert. Dass Leibovitz mit der Veröffentlichung ihrer privaten Fotos uns zu sich eingeladen hat, an den Freuden und Leiden ihres Lebens teilzunehmen, über dieses Geschenk wird nicht gesprochen. Dass sie mit diesen Fotos mehr Aufklärung über den Umgang mit der Krebserkrankung und den Tod zustande bringt als manche Werbekampagne, davon will man auch nichts wissen. Dass die Einladung zu einem privaten tête à tête nicht die Auflösung der Intimsphäre eines Menschen bedeutet, sondern andere ermutigt sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, davon will man auch nicht berichten … die Reisen, die Badeausflüge, das Körperliche, die Familienfeste, die Geburtstage, die Beerdigungen, die Geburten, die kleinen Dinge des Lebens - Notizen, ein mit Schriften überfüllter Schreibtisch, eine Muschelsammlung, ein Blick durchs Fenster -, all dieses Empfinden von Zusammengehörigkeit in einer Familie bezeugen mehr Kampfgeist gegen Bulimie, Schönheits- und Jugendwahn, mangelndes Selbstwertgefühl und entwurzeltes Sexualempfinden als alle Diskussionen und Symposien unserer Zeit.
In der Tat ist es einer der kritischsten Ausstellung der letzten Jahre, weil sie so viele Tabus aufzeigt, weil sie so viele Fragen aufwirft, weil sie Emotionen auslöst und weil sie so unverfälscht persönlich ist. Leibovitz demonstriert das „Ja“ zum Leben, zum Altern, zur Krankheit, zur Pflege, zur Treue, zur Freundschaft, zur Familie und zum Sterben, das „Ja“ zur Freude, zur Liebe und zur Trauer.
Inmitten dieser Fülle von kleinen Privatfotos sind nun die anderen Fotos zu sehen.
Da wären Wand füllende Landschaftsaufnahmen als sie noch für den „Traveler“ arbeitete und melancholisch private. Wenige Architekturaufnahmen, wie das Guggenheim Museum in Bilbao. Im Katalog sind Aufnahmen der noch rauchenden Bausstelle Ground Zero.
Aber es gibt Fotos von Leibovitz’ Anwesen Cliffton Point, Rhineback, NY. Ganz seltene Reportagefotos, denn Leibovitz fühlt sich nicht als Journalistin. Zu sehen sind Aufnahmen aus Sarajevo und Ruanda, die die Grausamkeit des Krieges dokumentieren. Das gestürzte Fahrrad mit einer blutigen Schleifspur im Sand, ein Foto auf der Fahrt zum Shooting von Miss Sarajevo. Der Junge starb noch in Leibovitz’ Wagen am Weg zum Krankenhaus. Eine Wand eines Klassenzimmers voll mit blutigen Fußabdrücken in Ruanda.
Und dann sind die Fotos wofür Leibovitz berühmt wurde. Glanz und Ruhm, wofür sie soviel Geld verdiente, die großen Inszenierungen für Titelblätter, für Werbungen, für die Ewigkeit festgehaltene Portraits von Prominenten. Demi Moore als Hochschwangere, nackt, von der Seite, einer der damals umstrittensten Covers der Vanity Fair, enttabuisiert den schwangeren Körper - 1991 - abgehakt. Das Gruppenfoto der US-Regierung unter G.W. Bush als Mafiaorganisation entlarvt - 2001 - abgehakt. Die vielen Stars, die Sportler und Olympiateilnehmer, die Künstler, alle abgehakt, … was bleibt … sind diese kleinen S-W-Fotografien, die sie selbst so verletzlich machen.
Am Ende der Ausstellung sind Pinwände mit einer Fülle von Fotografien in den Formaten 10 x 15 cm, sortiert nach Themen und Jahr, eine Auswahl der Fülle durch die sich Annie Leibovitz durchrang.
Die Fotografin, die einst Malerin werden wollte, die sieht, beobachtet und laut ihrer Aussage zu wenig mit der Klientel kommuniziert, hat ihre persönliche Trauerarbeit abgeschlossen. Und es ist wohl das Persönlichste, das ein Künstler jemals bereit war zu zeigen.
LitGes, Oktober 2009
Buchtipp:
ANNIE LEIBOVITZ. AT WORK. Hg. Sharon DeLano, Deutsche Übersetzung: Ursula Wulfekamp und Tanja Handels
119 Farb- und Duotone-Tafeln,
106 farbige Illustrationen
Verlag Schirmer/ Mosel, 2. Auflage 2008. 237 S.
ISBN-13: 978-3-82960-382-9
Euro 47,90 [A]