Ingrid Reichel KEINE BHAGAVAD GITA ZUR VÖLKERVERSTÄNDIGUNG
Der kleine Bericht zu einer bewegenden Ausstellung
CHALO! INDIA
Eine neue Ära indischer Kunst Essl Museum, Klosterneuburg
Eröffnung: 01.09.09
Ausstellungsdauer 02.09.09 - 01.11.09
Eine Ausstellungstour des Mori Art Museum, Tokyo/ Japan
Kuratorin: Akiko Miki
Es ist nicht nur eine allumfassende Ausstellung über moderne Kunst der Gegenwart in Indien, die das Museum Essl in Klosterneuburg bietet, es ist vielmehr ein einheitliches Konzept, welches uns dieses Land näher bringt in dem es alte Klischees aus der 68er Zeit aufwärmt, um sie zugleich wieder zu zerstören. Der wirtschaftliche Aufschwung ist uns nicht nur durch die Filmindustrie Bollywood, sondern vor allem durch die Computerbranche bekannt. Dennoch wissen wir, dass Indien ein extrem kontroversielles Land ist. Einerseits ist es in seinen Traditionen fest verwurzelt und unfähig seine neuen Gesetze umzusetzen, nicht zuletzt wegen des Kastenwesens, sondern vor allem wegen der zwar verbotenen aber noch immer praktizierten Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen und Jungen, wegen der Nichteinhaltung der Schulpflicht – vor allem bei Mädchen – und einer noch immer nicht durchgeführten Geburtenkontrolle, wie es China schon längst praktiziert. Auch werden die immer wieder vereinzelt aufkommenden Fälle des Opferrituals der Erstgeborenen oder gar der Witwenverbrennung all zu gerne verdrängt. Andererseits ist dieses Land durch die einstige britische Kolonialherrschaft und nicht zuletzt durch die englische Sprache an einen westlichen Standard geknüpft und wirtschaftlich orientiert. „Chalo!“ kommt dem Aufruf „Auf geht’s!“ nahe. Kein Rückblick auf die steinzeitlichen und vor allem frauenfeindlichen Ansichten, auf die verklärte verkitschte Erinnerung einstiger Hippies, die dort ihr Seelenheil, ihre Freiheit und ihren Frieden finden wollten oder sogar fanden unter angeblich wohlwollender Gurus, die letztendlich später im Westen das große Geld mit dem dekadenten Westen machten, während in diesem Land die Kinder verhungerten … nein, das India-Konzept gewährt uns einen Blick in die Zukunft mit
- einer Ausstellung vom 02.09.09 bis 01.11.09,
- einem internationales Symposium in englischer Sprache „Concept of modernity – Indian prospectives“
am Freitag, 04.09.09 von 10:30 – 17:00 Uhr,
- einem Fest der Sinne mit Führungen und Workshops und freiem Eintritt
vom 12.09.09 bis 13.09.09 von 10 – 20 Uhr und
- einem musikalischen Rahmenprogramm mit Wolfgang Fuchs: Turntables
am Mittwoch, 23.09.09, 19:30 Uhr
Dementsprechend bunt war dieses Mal das Bild, welches die Besucher zur Ausstellungseröffnung abgaben. Nicht nur in ihrer Internationalität sondern auch in ihrem Erscheinungsbild unterschied sich die Gästeschar von den üblichen Adabeis der Vernissagen. Eine wohltuende Atmosphäre, die sich über menschliche Schranken hinwegsetzt, keine Ängste vor dem Fremden zulässt, die Kommunikation, das Miteinander, das Gemeinsame, das Friedliche sucht. Keine Konkurrenz, nur die Interessensgemeinschaft steht im Vordergrund. Und wieder einmal ist die Kultur hier Vorzeigebeispiel wie es gehen kann.
Dieses Signal dürfte dem österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer auch nicht entgangen sein, denn er eröffnete die Ausstellung.
Die Ausstellung selbst stammt aus dem Jahr 2008, wurde vom Mori Art Museum, Tokyo/ Japan übernommen und wurde von der Kunsthistorikerin Akiko Miki kuratiert. Im Katalog vergleicht sie ihre Suche nach den indischen Künstlern der Gegenwart mit einem Reisebericht. Sicher nicht stressfrei verlief die Ausstellungsorganisation, deren verantwortungsvolle Aufgabe Essl-Kurator Günther Oberhollenzer innehatte.
27 Künstler und Künstlerinnen, immerhin ein Viertel davon weiblich, bekamen die Möglichkeit erstmals in Europa ihre Werke zu präsentieren. Die Kunstreise der Kuratorin ergibt eine geographische Linie von Nord-, Mittel- und Südindien und konzentriert sich vorwiegend auf die Städte New Delhi, Mumbai und Bangalore. Das Durchschnittsalter der Künstler ist 49 Jahre, die jüngsten Künstler sind 1976 geboren, der älteste 1934. Die Werke entstammen alle aus dem 21. Jahrhundert, die meisten sind noch ganz frisch, mit dem Entstehungsjahr 2008 gekennzeichnet. Außergewöhnlich ist, dass alle beteiligten Künstler ein abgeschlossenes Studium, einen Master oder einen Bachelor in Malerei oder Bildhauerei haben.
Die Ausstellung ist in fünf Themen unterteilt:
1. Prolog: Reisen
2. Kreation und Destruktion: Stadtlandschaften
3. Reflektionen: Zwischen Extremen
4. Fruchtbares Chaos
5. Epilog: Individualität und Kollektivität / Erinnerung und Zukunft
Barthi Kher
Die Reise nach Indien beginnt also mit dem Elefanten der Künstlerin Bharti Kher. Einem 4,5 Meter langen weiblichen Elefanten aus Vinyl und Fiberglas, der am Boden kauert und dem Anschein nach entweder gerade erwacht oder sich zum Sterben hinlegt „The skin speaks a language not its own“. Seine Haut ist übersät von Millionen aufgemalten weißen spermienförmigen Bindis. Ein Bindi ist jener aufgemalte oder aufgeklebte Punkt inmitten der Stirn oberhalb der Augenbrauen, den traditionell nur verheiratete Hindu-Frauen tragen. Waren sie einst Zeichen einer Kaste und sollten Schutz geben, erfreuen sie sich bzw. unterliegen sie heute einem Modetrend. Die metaphorische und paradoxe Bedeutung dieses Schmucks nützt Kher für ihre Kunst, verändert ihre Größe, Farbe und Form, um auf das Verhältnis von Tradition und Moderne, Rassen- und Klassenfragen, dem aufkeimenden Feminismus und der Konsumbereitschaft hinzuweisen.
Über die Ausstellung verstreut stehen zehn verschieden gestaltete Stühle des Künstlers N. S. Harsha. Sie sind Hüter und Wächter über Hunger, Mutter und Kind, Gleichberechtigung, Konsum, über Teile des Landes und über die ganze Welt. Doch eigentlich sind sie für das Aufsichtspersonal gedacht, das von seinem Beobachtungsposten selbst zum Beobachteten wird. Leider saß (zumindest bei der Eröffnung) keiner der Wärter auf einem dieser Holzstühle, um diesen Gedankengang nachzuvollziehen. Manchmal ist es nicht leicht die Möglichkeit interaktive Kunst festzustellen. Die Künstlerin Shilpa Gupta ermutigt mit ihrer großleinwandigen Video-Installation „Shadows“ die Besucher zum Handeln. Spätestens hier kann man erleben, dass die herkömmliche Bildende ausgedient hat. Die Menschen mögen es mitzumachen, in das künstlerische Geschehen involviert, Bestandteil des Kunstwerks zu werden. Jedenfalls erfreute sich dieses Werk besonderer Anteilnahme, vergleichbar mit der Intention des österreichischen Künstlers Erwin Wurm, den Besucher als Skulptur seiner Ausstellung einzubeziehen. Shilpa Gupta erscheint am Ende der Ausstellung noch einmal mit einer Installation „Tristy with Destiny“, für den sie ebenfalls einen ganzen Raum in Anspruch nimmt. Ein Mikrophon wird zum Lautsprecher, daraus erklingt die Stimme der Künstlerin, sie singt die Ansprache „Verabredung mit dem Schicksal“ J. Nehrus, der erste Premierminister Indiens, welche er am Abend vor der Unabhängigkeit Indiens vor 60 Jahren hielt.
Doch noch bewegen wir uns im Prolog und begehen einen reisenden Schrein „Kaavad“ des Künstlers G. Sheikh. Einerseits ließ er sich von den kreisförmigen Weltkarten, den „mappae mundi“, andererseits von den traditionsreichen Mandalas inspirieren, die eigentümlich an einem manierierten Hundertwasser-Jugendstil erinnern. Schließlich gelangen wir zu einem weißen Raum, an dessen Wände aus Fiberglas gegossene weiße Menschengestalten wie abgelegte Kleidungsstücke oder Gummihandschuhe integriert sind. Von diesen gehäuteten menschlichen Existenzen des A. Balasubramaniam kommen wir zu den Städtelandschaften, zur Kreation und Destruktion. Zunächst sehen wir, die von K. Chronat völlig in weiß gehalten Skulptur: Eine Designer-Badewanne, die als Paddelboot und somit Transportmittel einer zerstückelten indischen Kultur dient. Einziger Makel auf diesem gnadenlosem Weiß: ein überdimensioniertes schwarzes Insekt - ein interessanter Übergang zum bunten Treiben der Großstädte.
N. Sharma hat mit „Air show“ eine standortspezifische Installation geschaffen. Die Schönheit, Aggressivität und Verspieltheit des Surya Kian Aerobatic Teams (SKAT) bei einer Flugschau inspirierte ihn zu seinen in Kupferdrähten eingegossenen Flugformationen.
Jitish Kallat
Subodh Gupta
Ein 10 Meter langes Panoramafoto der Millionenstadt Mumbai, sowie eine Skulptur aus Knochen aus Kunstharz, Stahl und Messing „Autosaurus tripous“ von Jitish Kallat dokumentieren das langsame Verschwinden der so vertrauten Rikschas. Subodh Gupta, der sich mit dem rasanten Konsum in den Ballungsräumen beschäftigt, bündelt Alltagsmassenwaren wie Kochgeschirr zu riesigen ästhetischen Installationen, die wie Wasserfälle den Betrachter erfassen. Nebenbei ist auch die Mobilität ein entscheidendes Thema. Die Attraktion des Raumes nicht nur für Männer, war wohl eine aus einzelnen Kupferteilen gegossene und zusammengebaute Royal Enfield „Bullet“. Hierzu muss man die Geschichte des Motorrads etwas erläutern. Die Royal Enfield ist eine britische und die älteste noch produzierende Motorradmarke der Welt (1901!). 1933 wurde die legendäre Bullet gebaut. 1955 begann man ihre Produktionsstätte in Madras, (mittlerweile Chennai genannt, die fünftgrößte Stadt Indiens) aufzubauen. Wahrhaftig überwältigende Trash-Kunst liefern die Künstlerin Hema Upadhyay und der Künstler Vivan Sundaram. „Mute Migration“ ist eine auf 6 x 2 Meter große filigran bearbeitete Holzplatte, auf denen Upadhyay Aluminiumblätter, Plastik- und Autoteile, Hardware Stücke und vielerlei andere gefundene Objekte teils geklebt, teils genäht zu einem Slum nachbaut. Ihre Arbeit konzentriert sich auf „Dharavi“ – einem Stadtteil von Mumbai, der als größter Slum Asiens gilt. Das Gebilde hängt an der Wand. Sundaram hingegen werkt etwas gröber mit Getränkedosen, Pet-Flaschen, Karton und buntem Krims Krams, Ziegelsteinen und anderem Müll. Sundaram arbeitet zusammen mit „Chintan“, einer NGO, die als „unrein“ bezeichnete Reinigungskräfte unterstützt. Den für ihn eigens gesammelten Abfall fügt er zu einem Diorama seiner Stadt zusammen und macht daraus eine Fotoserie. „Masterplan“ zeigt auf 5 x 1,5 Meter einen digitalen Überblick aus der Vogelperspektive. Es ist die Vision einer idealen Stadt. Wie groß dieses Diorama tatsächlich ist und wo es tatsächlich aufgebaut ist, steht allerdings nirgendwo beschrieben. Zusätzlich zeigt Sundaram in einem Video das Leben des Jungen Mariam Hussain inmitten vom Müll.
Im Kontrast zu diesen dreidimensionalen Müllbildern steht Gigi Scaria mit zwei seiner Bilder in Acryl auf Leinwand „Option of Alternative Master Plan/ City Center“ und „Keep Delhi Clean“. Einfärbiger Hintergrund und detaillierte feine schwarze Pinselstriche lassen einen an großformatige Tuschezeichnungen denken. Mit viel Humor und Sinn fürs Detail arbeitet er gegen das Chaos im urbanen Raum. Auch er liefert ein Video „A Day with Sohail und Mariyan“: zwei Buben, die vom Müllsammeln leben.
„Reflektionen: Zwischen Extremen“ führen Ranbir Kaleka, Justin Ponmany, Ananth Joshi und Kiran Subbaiah.
Kaleka zeigt 4-Kanal-Videoprojektionen auf Leinwand mit dem Titel „Crossings“. Er vereint Malerei und Video, erzeugt somit bildnerische Collagen, wo entweder Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen bei einer Tätigkeit sitzen oder stehen. Die Personen bleiben immer dieselben, während der Hintergrund sich verändert. Offensichtlich spielt der Künstler auf seine Umgebung an, auf seine soziale Identität, der Mensch in Beziehung zu seiner Umwelt.
Ponmany präsentiert hingegen großformatige C-prints, die vorwiegend „expended portraits“ – erweiterte Portraits – zum Thema haben. Der Kopf wird nicht dreidimensional sondern zweidimensional dargestellt, in der Art wie man auch die Weltkugel zu einer Weltkarte aufbereitet. Diese Darstellung konfrontiert uns mit den Manipulationen von Äußerlichkeiten und reflektiert auf „die Frage nach den Grenzen der eigenen Identität“ (Katalog S. 172).
Eine sehr groß angelegte Installation von Joshi wirkt in dem dafür errichteten Ausstellungsraum beengt, und der Betrachter eingezwängt zwischen Mauern und Installation kann kaum dieses Kunstwerk in seiner Gesamtheit betrachten oder gar genießen. Der Künstler bezieht sich auf die Komplexität, Verschachtelung und Verdichtung in den Großstädten und weist damit auf die Gewaltbereitschaft und das Aggressionspotenzial in den Megacitys hin. Bei dieser Installation handelt es sich um einen ganzen Maschinenraum mit zwei sich gegenüberstehenden großformatigen Schaufenstern. In einem sind mehrere Reihen von Spielzeugfiguren aus China, die heiß geliebten Superhelden auch unserer Kinder, aufgespießt und aufgefädelt rotieren sie wie bei einem Backhändelstand. In dem anderen Fenster ist eine Unmenge von Rasierklingen zu einer Jalousie aneinandergereiht. In der Mitte des Raums, zwischen den zwei Schaufenstern also, laufen im Kreis sich drehende Photos, die an die weißen gegenüberliegenden Wände projiziert werden und durch den Lichtstrahl die Schatten der Superhelden und der Rasierklingenjalousie wiedergeben. Die bunten Photos sind durch ihre Bewegung in ihrem Inhalt nicht wahrzunehmen. Es bleibt ein weghuschender Farbeindruck, der sich mit den schwarz-weißen Schatten der rotierenden Objekte und dem eigenen Schatten, nämlich den des Betrachters ineinander vermengt.
Subbaiah ist einer der drei Künstler der Schau, die selbstreflexiv agieren. Zu Beginn seines Video „Suicide Note“ kommentiert er, dass das Geschehen „keinerlei Aufmerksamkeit verdiene“ und beschließt daher Selbstmord zu begehen. Das Video zeigt ihn zunächst beim Kochen, später wie er sich selbst begegnet, quasi aus einem Menschen zwei Personen werden und schließlich, weil einer eben zuviel ist, der eine den anderen erschießt. Das Ganze läuft dann zusätzlich auch rückwärts ab und ist, wie man sich denken kann, nur für Liebhaber schwarzen Humors amüsant.
Thukral & Tagra
Vom fruchtbaren Chaos handelt die Kunst vom Künstlerpaar Thukral & Tagra, sie setzen sich mit Design auseinander, sowohl in der Innenausstattung, wie auch in Alltagsgütern. Sie richteten gleich ein ganzes Zimmer ein. In ihrem rosa Kitsch und schrägen Assoziationen von westlichem Kommerz und indischen Schnörkeln erinnern sie an die Kunst von Gilbert und George. Die Diashow der Performance „Yog Raj Chitrakar an Tokyo“ des Aktivisten und Performance Künstlers Nikehil Chopra entstand in einem historischen Gebäude aus der Kolonialzeit in Mumbai. Innerhalb von drei Tagen durchlebte der Künstler durch das historische Kolorit und die Erinnerungen seiner Kindheit verschiedene Transformationen. Die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit, zwischen Darsteller und Publikum, zwischen Zeit, Platz und Geschlechtern zerfließen.
Pushpamals N. / Clare Arni
Weitere Selbstdarstellung finden wir bei der Performance Künstlerin Pushpamala N. und ihrer PhotographinClare Arni. Eines ihrer Bilder diente als Repräsentant der Schau und als Katalogcover, das Klischee der indischen Frau schlichtweg. Sie ist in ihrer Tracht gekleidet. Perfekt geschminkt steht sie hinter einer Blüte vor einer Seelandschaft mit Schwänen und einem badenden Elefanten. Bei den Arbeiten handelt es sich um Fotomontagen in der die Künstlerin selbst in die verschiedensten Rollen schlüpft. Die Serie trägt den Titel „The native types“: von der indischen Braut, der Mutter Maria mit Kind, der Nonne und engelhaft Gläubigen, zum Clown, zur Domina und Kriminellen … In der Größe eines herkömmlich entwickelten Photos c.a. 15 x 10 cm wird in dieser Ausstellung eine Vielzahl dieser Photomontagen in einen typisch zarten, bunten, indischen Rahmen gezeigt. Bereit zu neuen Photomontagen hängt der großformatige Hintergrund des Coverbildes an der Wand und die Lotusblüte steht angelehnt am Boden. Und dann gibt es noch die Vitrine in der kleine S-W-Photos ausgestellt sind, die Serie „Ethnographic Types“ lehnt sich an die Photos aus der Kolonialzeit der Briten, die für „Forschungszwecke“ die „indigenen Stereotypen“ - Kopf und Körper von Indern - vermessen hatten. Mit ihren Humor und ihrem Intellekt wird sie gerne als die indische Cindy Sherman bezeichnet (Katalog S. 144) Jedenfalls darf man sie wohl als die stärkste und schärfste Beobachterin mit den kritischsten Werken in dieser Schau nennen.
Die Künstlerin Reena Saini Kallat formt mit Acryl bemalte Gummistempel verpixelte Portraits der indischen Bevölkerung. Die Serie der anonymen Personen bezeichnet sie mit „Synonym“, während P. Meppayil einzelne winzige Punkte aus Naturfarben und Goldblatt auf Kalkkreidenpaneel zu ornamentalen Gebilden verbindet. Durch Polieren mit Sandpapier erzeugt die Künstlerin eine keramikähnliche Oberfläche. Männliche und weibliche Silhouetten, Pflanzen und Tierwelt verschwinden, schweben über und unter den Ornamenten und widerspiegeln somit eine lyrische Welt.
J. Panda verbindet die Malerei mit Stoffcollagen zu surrealen Gemälden und zeigt uns einen aus dem Boden erscheinenden Pfau als Vorahnen „Ancestor – II“. Die Skulptur besteht aus Fiberglas, Sperrholz und einer Keramikplatte und ist mit einem mit Ornamenten reich bestickter Stoff bezogen. Sein Anliegen besteht darin auf den Verfall der Traditionen und der herrschenden Diskrepanz zwischen reicher Modernisierung und ärmlicher Realität hinzuweisen. Ashim Purkayastha ist mit einem seit 2002 laufendem Projekt, einer Serie „Gandhi Man without Specs“ vertreten. „Der Vater der Republik Indien“ ist Thema und wird zum Mann ohne Eigenschaften. Purkayastha entwirft Briefmarkenbögen und überzeichnet bis ins Groteske Geldscheine worauf Mahatma Gandhi als Hindu, Moslem, als Unberührbarer, lachend, weinend, schreiend …dargestellt ist. Der Künstler mokiert sich jedoch nicht über Gandhi, sondern provoziert auf ironische Weise. Seine Arbeit ist eine Warnung an die Gesellschaft, ein Aufruf zur Toleranz.
Tushar Joag und Sarnath Banerjee sind die beiden Comic-Zeichner in der Ausstellung. Joag gründete 2004 eine virtuelle Online-Organisation namens „UNICELL Public Works Cell“ (www.unicellpwc.org), die fiktiv humorvolle Lösungen sozialer Probleme im regionalen Bereich anbietet. Photographien dokumentieren diese Lösungen z.B. wie Pendler sich in überfüllten Zügen vom Stress befreien können. Seine Arbeiten auf Papier erinnern an eine Mischung von Batman und Superman. Mit Filzstift, Kreide und Aquarell erzeugt Banerjee seine witzig illustrierten Romane. Er erzählt aus seiner Jugend und dem Wunsch Nike Schuhe zu besitzen. Er erzählt vom Markenkult, von populären indischen Filmen und amerikanischen Seifenopern, von zwischenmenschlichen Beziehungen und vom Giftgasunfall in Bophal 1983.
Mit Individualität und Kollektivität / Erinnerung und Zukunft endet die Ausstellung. Raqs Media Collective ist eine Gruppe, die aus zwei Künstlern, Jeebesh Bagchi und S. Sengupta und der Künstlerin Monica Narula besteht. Die Gruppe ist die außergewöhnlichste in der Schau, da sie sich in ihrem konzeptuellen Stil sämtlicher Genres bedient. Hier sind sie mit ihrer Euphoriemaschine vertreten „The euphoria Machine: Preliminary Reverse Engineering Field Laboratory“, eine Installation, die an ein Spielfeld erinnert, ähnlich einem Flipperautomaten. Das „Metagerät“ soll das „rastlose menschliche Streben nach Glück und Zufriedenheit bis zur Raserei“ treiben (Katalog S. 184).
Atul Dodiya
Einer der hier wenig vertretenen Maler ist Atul Dodiya, der eine außergewöhnliche Methode mit Email und Kunstlack auf Laminat ausübt. „Saptapadi: Scenes from Marriage (Regard-less)“ ist eine Serie von 24 Gemälden, gezeigt werden sechs. Wie der Titel besagt handelt es sich um unzusammenhängende Bilder über die traditionelle Hindu-Hochzeitszeremonie. Mit autobiographischen Bezügen, Plakatmotiven aus der westlichen, sowie indischen Filmindustrie, Werbungen und berühmten Ausschnitten aus Gemälden von Picasso und Matisse. Sein farbenprächtiger Malstil divergiert vom Photorealismus bis zur Druck- und Collagenmalerei, wahre trompe l’œil sind auf diesen Werken im Detail zu finden. Hier ist nicht nur ein Meister der Malerei, sondern ein Gigant der Satire zu sehen.
Zum Abschluss ein kurzer Gedanke:
Auch wenn sich die indische Moderne an den Westen anlehnt, spürt man die Kritik gegenüber dem Westen. Das lässt hoffen! Eines unterscheidet sehr wohl die indische Bildende von der westlichen: Sie beinhaltet nicht nur Geschichten, Wissen, Informationen, Problemlösungen, Kritik und Humor, sondern sie ist auch technisch aufwändig gestaltet. Übrigens war dies auch bei den chinesischen Künstlern der Fall, bevor sie der westliche Kunstmarkt gefressen hat. Etwas was der westlichen Kunst immer mehr verloren geht: die Liebe zum Handwerk und der Eigenhumor.
CHALO! INDIA
Eine neue Ära indischer Kunst A newEra of Indian Art
Hg. Contemporary Art Essl Museum
München-Berlin-London-NY: Prestel Verlag, 2009. 272 S.
ISBN 978-3-7913-4304-4
Euro 41,10 [A]
Marie Luise Lebschik. Mädchenbilder. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel MÄDCHENBILDER
MARIE LUISE LEBSCHIK Ausstellungsbrücke, NÖ Landesregierung St. Pölten
Eröffnung: 11.08.09, 18.30 Uhr
Finissage: 01.09.09, 17 Uhr
Die Künstlerin Marie Luise Lebschik-Anzinger wurde 1952 in St. Pölten, NÖ geboren. 1982 zog sie nach Köln. Im Rahmen der Serie Niederösterreichische KünstlerInnen im Ausland präsentiert sie nun in einer Einzelschau in der Landhausgalerie die Werke der vorwiegend letzten drei Jahre. Die Schau ist in drei gleich große Teile aufgeteilt, beginnt mit den Zeichnungen, führt mit Fotographien fort und endet mit Ölmalereien.
In seiner Eröffnungsrede erläutert der künstlerische Leiter des Landesmuseums NÖ Carl Aigner, dass die Anordnung keine zufällige ist. Es scheint, dass sich Lebschik und Aigner darüber einig sind in der Fotographie das Verbindungsglied zwischen Zeichnung und Malerei zu sehen. Seit über 10 Jahren konzentriert sich Lebschiks Malerei auf die Darstellung junger Mädchen. Die Wichtigkeit der Fotografie ist jüngeren Datums. Ein weiterer auffälliger Punkt in der eigenwilligen Anordnung der Bilder ist die teilweise tief angesetzte Platzierung der Ölbilder, die die Betrachter zum Bücken zwingen. Ein interessanter psychologischer Aspekt. Ob derjenige, denn man in die Knie zwingt und sich damit kleiner vorkommt, sich dadurch tatsächlich in seine Kindheit zurückversetzt fühlt, sei dahingestellt. Für Kinder, die diese Ausstellung besuchen, erweist es sich jedenfalls als Vorteil. Aigner zitiert Bloch, der das Gefühl der Heimat nur durch die erlebte Kindheit für möglich hielt. Es sei ein „transitorischer“ Moment, der die Faszination des Werkes Lebschiks ausmache. Auch ihre unterschiedlichsten Formate wären keine Selbstverständlichkeit. Lebschik nehme in ihren Sujets und ihrer Darstellungsweise Bezug zu den Formaten. So Aigner.
Lebschik bewirkt mit ihrer kreideähnlichen Maltechnik eine Diffusion der Räumlichkeit und rückt mit ihrer gestisch schwungvollen aber doch ins Detail gehenden Malerei das Modell selbst in den Vordergrund. Die Figuren, meist ein Mädchen oder eine Jugendliche, sind für sich allein, in sich gekehrt, nehmen keinen Anteil an ihre Umgebung und keinen Kontakt zum Betrachter auf. Insofern lassen sie keine Nähe zu, bleiben anonym, unantastbar. Das tatsächliche Motiv der Mädchenadoleszenz ist daher die Unschuld und ihre damit verbundene Fragilität.
Die großformatigen S-W-Fotographien (Silbergelatine auf Barytpapier sind ähnlich aufgebaut. 20 kleine Fotos hinter Glas, die an ein zerpflücktes Familienfotoalbum der 60er Jahre erinnern, sind in kleinen Serien einzeln gerahmt aufgehängt. Sie vermitteln einen besonderen Reiz, verströmen eine Schöner-Wohnen-Atmosphäre, entbehren jedoch jeglichen künstlerischen Charakters.
Von den starken Ölbildern am Ende der Ausstellung, den ebenfalls starken Fotographien im Mittelteil, kehren wir nun zum Beginn der Ausstellung zurück, zu den Zeichnungen, dem schwächsten Part dieser Schau. Lebschik spielt auch hier konsequent in den verschiedensten Formaten. Nummer 46, die größte Zeichnung im Hochformat hat einen in Bleistift gezeichneten Raster, so wie man leider gerne Hauptschülern hier zu Lande das komplikationslose Proportionszeichnen beibringt. Vom Prinzip nichts Verwerfliches, nutzte doch auch Michelangelo diese einfache Technik für das Fresco zur Übertragung seiner großen Entwürfe an die Decke der Sixtinische Kapelle aus. Natürlich könnte es auch ein kleiner Kunstgriff Lebschiks sein, psychologisch das Kindliche der Figur zu unterstreichen. Leider sieht man keinen Wiederholungseffekt, die Begründung fehlt, die Authentizität der Zeichnung wird fragwürdig und der vermeintliche Reiz des Unverbrauchten, Unverdorbenem bleibt aus. Die kleineren Zeichnungen beweisen keine bessere Qualität. Zu ambivalent und inkonsequent der Strich. Nummer 43 soll hier als Vorzeigebeispiel dienen oder als Frage: Wie ist die Künstlerin hier auf den Hund gekommen?
Das überzeichnete, aufgeklebte Papierquadrat, das den einstigen Kopf der Figur verdeckt, wie es bei drei Zeichnungen der Fall ist, verstärken den Schwachpunkt im Graphischen. Aigner, der die rhetorische und humorvoll gemeinte Frage eines fiktiven Besuchers in seiner Rede einbaut: „Warum schmeißt sie es nicht weg? Kann sie es nicht besser?“ trifft damit ungewollt ins Schwarze. Bei seiner versuchten Erklärung über die Technik der Collage spartenübergreifend zur Fotographie zu gelangen, scheitert er kläglich.
Am Missglücktesten erscheint eine kleine kolorierte Zeichnung inmitten der großformatigen S-W-Fotographien, wofür eine Fotoarbeit ihren Platz einbüßen und dafür am Boden angelehnt stehen bleiben musste. Auch etliche Zeichnungen haben es nicht bis an die Wand geschafft, womit der Gesamteindruck der Exposition empfindlich gestört wird. Man wundert sich, dass eine arrivierte Künstlerin mit internationaler Reputation so wenig ihre eigenen Werke beurteilen kann und überhaupt die schlechten Zeichnungen nicht zu Hause gelassen hat. Die Zeichnungen können bestenfalls als Skizzen für die Ölbilder von Wert sein, den Betrachter ein Nachvollziehen zum Ölbild ermöglichen. Zu den zwei anderen Genres hat der graphische Teil jedoch kein gleichwertiges Bestehen.
LitGes, August 2009
In diesem Jahr erschien ein zweiter Band mit Mädchenbildern von Marie Luise Lebschik: Zur Rezension des Katalogs
MÄDCHENBILDER
Marie Luise Lebschik 80 farbige Abb.
Englisch-Deutsch
Köln: Dumont Buchverlag, 2009. 148 Seiten,
EUR 29,90 [D]
ISBN 978-3-8321-9104-7
Das Porträt im Wandel der Zeit. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel DES MENSCHEN ANTLITZ
DAS PORTRÄT IM WANDEL DER ZEIT
Sehnsucht nach dem Abbild Kunsthalle Krems
Eröffnung: 25.07.09, 18 Uhr
Ausstellungsdauer: 26.07.09 – 26.10.09
Kurator: Hans-Peter Wipplinger
Zur Ausstellung erschien ein Katalog in Deutsch. Das Porträt im Wandel der Zeit
Sehnsucht nach dem Abbild Hg. Hans-Peter Wipplinger
Kunsthalle Krems, 2009. 124 S.
ISBN 978-3-901261-43-5
Die Ausstellung in der Kunsthalle Krems mit dem etwas abgedroschenen Titel „Das Porträt im Wandel der Zeit“, aber mit dem weitaus besseren Untertitel „Sehnsucht nach dem Abbild“, gibt dem kulturinteressierten Publikum eine hervorragende allumfassende Fortsetzung zum Thema Portrait zu der Anfang Juli in der Kunsthalle Wien eröffneten Portraitausstellung „Fotografie als Bühne“, die ein Bild der fotographischen Entwicklung der letzten 30 Jahre widerspiegelt. Es ist der Sommer des menschlichen Antlitzes im Osten Österreichs. Und man kann sich wirklich darüber freuen, nicht nur weil das Portrait ein nie endendes und somit ein ewig packendes Thema in der bildenden Kunst ist und sein wird, sondern weil diese zwei Ausstellungen schlichtweg hochkarätig sind.
An die 40 Werke sind alleine von der Albertina geliehen. Etliche Werke sind von dem Sammlerehepaar Rita und Herbert Batliner erst 2007 der Albertina als Dauerleihgabe zur Schau „Von Monet bis Picasso“ überreicht worden. Schmerzlich wird uns damit das Hochwasser der letzten Wochen bewusst und die menschliche Fehlbarkeit im Zusammenhang mit dem Skandal um die Bausubstanz des erst vier Jahre alten Archivs der einerseits zweitgrößten Graphiksammlung und andererseits des modernst ausstaffiertesten Kunstdepots der Welt bewusst.
Die Werke sind in Sicherheit gebracht worden. Umso erfreulicher ist es, dass es trotz dieser brisanten Probleme dennoch gelungen ist einen kleinen Bruchteil in dieser Ausstellung vermischt mit anderen hochqualitativen Sammlerwerken zu sehen. Abgesehen von etlichen Privatsammlern und Galerien haben große Institutionen wie die EVN und die Sammlung Essl sowie Museen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz etwas zum großen Wirken dieser Schau beigetragen. Internationale Kunst vom Feinsten ausgehend vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart wird hier geboten. Grafiken, Malereien und Fotographien vom Selbstportrait bis zur Ganzkörperdarstellung. Eine mission impossible könnte man meinen, hat sich da der seit Beginn des heurigen Jahres amtierende Geschäftsführer und Programmleiter der Kunsthalle Krems Hans-Peter Wipplinger als Kurator mit seinem Team ausgesucht. Doch weit gefehlt!
Zu Wipplingers Aufgabenbereich zählt die gesamte Kunstmeile Krems: die Kunsthalle Krems, die Factory mit dem Artist in Residence-Programm, das forum frohner, das Karikaturmuseum Krems sowie das Museum Stein. Die von ihm angekündigten neuen Strategien der Werbung und Vernetzung mit nationalen und internationalen Kooperationspartnern - wie Museen, Künstlern, Sammlern und wichtigen Vertretern aus der Wirtschaft - zeigt sich hier in dieser hochwertigen Ausstellung zum ersten Mal umgesetzt.
„Konzept und Leitsatz dieser Ausstellung ist es darüber hinaus, nicht nur chronologisch Geschichte und Geschichten des Porträts nachzuerzählen, sondern durch bewusste Konfrontationen und unerwartete Begegnungen zwischen den Exponaten spannende Korrespondenzen aufzuzeigen und vielfältige Assoziationen anzuregen.“ schreibt Wipplinger in seinem Essay „Sehnsucht nach dem Abbild“ (Kat. S. 8).
Die Exponate werden nicht nur thematisch geordnet dargestellt, sondern auch unter verschiedenen Aspekten gegenübergestellt. So findet man schon im ersten Raum in der Halbetage neben der großformatigen Plastilincollage einer verzerrten Mona Lisa (2008) der Gruppe Gelitin eines der vielen Readymades der Serie L.H.O.O.Q. Marcel Duchamps. Hierbei handelt es sich um Spielkarten, deren Rückseite eine Reproduktion der Mona Lisa von Leonardo da Vinci ist. Die ersten Readymades dieser Art gehen bis in das Jahr 1919 zurück. Duchamp veränderte hierbei jedes Mal das Gesicht der Mona Lisa, indem er sie mit einem Bart verunstaltet. Der Titel L.H.O.O.Q. besteht aus einzelnen Lettern, die Französisch ausgesprochen den Satz „elle a chaud au cul“ ergeben, was soviel heißt wie „Sie hat einen heißen Arsch“. Duchamp wagt es damit nicht nur sich über das meist verehrteste Frauenportrait zu mokieren, sondern spielt damit auch noch subtil auf da Vincis Homosexualität an. Diese Spielkarte aus dem Jahr 1965 (!) zeigt eine völlig unveränderte Mona Lisa und trägt den Titel „rasée“ – „rasiert“. Dies soll nur ein Beispiel sein, wie sich die kuratorische Arbeit dieser Schau souverän zeigt.
Die verschiedenen Themeninseln reichen vom „Urbild zum Abbild – das Dilemma der Ähnlichkeit“ bis zur „Simulation und Virtualisierung – die Manipulation des Menschenbildes“.
Bemerkenswert aus der Reihe tanzten zwei Rauminstallationen: Die erste ist von Christian Boltanski mit einer Serie von Fotographien „Le Lycée en 1931“. Hierbei geht es um ein zufällig gefundenes Klassenfoto des jüdischen Gymnasiums in Wien. Boltanski zerlegte es und vergrößerte die Gesichter der einzelnen Personen zu 18 Portraitnahaufnahmen. Jedes einzelne Gesicht wird mit einer Schreibtischlampe, die oberhalb des Bildes befestigt ist, angestrahlt, wie wir es aus den Krimis bei einem Verhör kennen. Das Kabel der Lampe hängt mitten durch das Gesicht wie ein Schnitt. Die Installation erinnert an kollektive sowie auch persönliche Verbrechen und an die Anonymität der Opfer und Täter. Die zweite Installation ist von Mathilde ter Heijne. Postkartenständer sind zur freien Entnahme mit Karten gefüllt, die anonyme, schwarz-weiß Frauenportraits aus dem 19.Jahrhundert zeigen. Auf der Rückseite der Karten befinden sich jedoch die Biographien anderer Frauen, die als berühmt gelten. Die Karten weisen auf all jene Frauen hin, die es trotz ihrer Verdienste im Alltag nicht in die Geschichtsbücher geschafft haben. Eine Installation, deren Kartenständer wahrscheinlich immer wieder aufgefüllt werden, damit die Besucher zugreifen können oder die sich im Zuge der Ausstellung verändern wird. Leider fehlt im Katalog jeglicher Hinweis und somit auch Erklärung über diese beeindruckende Arbeit, die die holländische Installations- und Videokünstlerin in verschiedenen Variationen schon international, selbst in China gezeigt hat.
Bei „Stars und Heroen – im Spiegel der Öffentlichkeit“ sind zwei weitere Werke nicht im Katalog veröffentlicht worden, vermutlich weil die fotographische Wiedergabe der Werke die optischen Bedingungen nicht erfüllen würden. Umso mehr verdienen sie der besonderen Aufmerksamkeit: Die Fotographin und ehemalige Arnulf Rainer Schülerin Ilse Haider wird hier mit einer Arbeit aus Fotoemulsion auf Holz mit Peddigrohren repräsentiert. Marlene Dietrich ist abgebildet und kann nur seitlich wahrgenommen werden. Es ist eine dreidimensionales Kunstwerk der Illusion und Täuschung, das zum Staunen bringt. Gleich daneben hängt ein großformatiges Gemälde der britischen Künstlergruppe Art & Language. Gemalt ist es à la Jackson Pollock, bei näherem Augenzwinkern soll sich dem Betrachter Lenin manifestieren. Die Besucher sind da geteilter Ansicht. Jedenfalls sorgen die zwei Werke für Kommunikation unter den Besuchern, wie man es normalerweise nur im angelsächsischen Raum erlebt.
Weiters werden gezeigt Grafiken von Lucas Cranach d. Ä (Kohlezeichnung 1510), Rembrandt (Radierung 1648) Andy Warhol (Graphit 1975), bis Siggi Hofer (2000); Malereien von Anton Romako (1854), Kolo Moser (1884), Ludwig Kirchner (1909), Oskar Kokoschka, Ferdinand Hodler und Alexej Jawlensky (1910), Amedeo Modigliani (1918), Alberto Giacometti (1958), Francis Bacon (1960), Pablo Picasso (1963), Gerhard Richter (1965), Maria Lassnig (1982), Eva Schlegel (2001) bis Markus Schinwald (2008) und Fotographien von Valie Export (1969), Cindy Sherman (1982), Nan Goldin (1990) nur um ein paar zu nennen. Besonderes Augenmerk verdient in den verschiedenen Sparten das Selbstportrait. In dieser Kategorie fehlen natürlich nicht die berühmten Fotos der Aktionisten Hermann Nitsch und Günter Brus sowie Fotoübermalungen von Arnulf Rainer. Gemälde von Elke Krystufek (1997) und Xenia Hausner (1994), Zoran Music (1990), Chuck Close mit einer megagroßen Radierung (1977) und eine Rarität in Ausstellungen: ein Bleistiftselbstportrait von Horst Janssen (1970), der heuer seinen 80. Geburtstag feiern würde. Eine Collage von Gabi Trinkaus „I is another“ (2005) und eine Ganzkörperfotographie von Inez van Laasweerde „Joan“ (1993) weisen auf den androgynen Körper. Kuriositäten wie das Auftragsportrait zum 50. Geburtstag des Galeristen Carl Laszlo welches Dieter Roth mit Glas, Käse (Roquefort!) und Farbe auf Leinwand anfertigte mit dem bösartigen Anliegen dem Galeristen ein Werk zu überreichen, das nach der Feier verwesen würde, die erhoffte Reaktion blieb allerdings aus. Oder die Fotomontage „A.D.“ (2006) von Dorothee Golz, welche Albrecht Dürer in rockiger Lederjacke zeigt… und dann noch das Papier-Portrait von „Samuel Beckett 7“ von Simon Schubert geben der Ausstellung den gewissen Kick.
Der Katalog deckt sich im Inhalt der Werke im Großen und Ganzen mit der Ausstellung, obwohl eine andere Unterteilung gewählt wurde. Beiträge von Daniela Gregori mit „Ansehen und Aussehen“, August Ruhs mit „Blick, Gesicht, Körper“ und Edith Futscher mit Erklärungen zu den einzelnen Themenbereichen ergänzen die Einleitung des Herausgebers. Biographien der Autoren und Künstler fehlen jedoch zur Gänze. Dennoch ein schöner und äußerst informativer Katalog zum Thema um nur € 19,90.-.
Fazit: Eine Ausstellung, die es tatsächlich schafft 500 Jahre internationale Meisterwerke der Portraitkunst in Grafik, Malerei und Fotografie für nur drei Monate Ausstellungsdauer allumfassend unter einem Dach zu vereinen, MUSS man sehen, zumal sie auch jungen heimischen Künstlern neben alten Meistern und Spitzen der Moderne den nötigen Raum gibt. Eine der qualitativsten und anspruchvollsten Ausstellungen der letzten Jahre in der Kunsthalle Krems.
LitGes, Juli 2009
Das Porträt. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel ÜBER DIE AMBIVALENZ DER MENSCHLICHEN DARSTELLUNG
Oder: Du sollst dir doch ein Bildnis machen
DAS PORTRÄT
Fotografie als Bühne Von Robert Mapplethorpe bis Nan Goldin
Kunsthalle Wien, Halle 2
Kurator: Peter Weiermair
Eröffnung: 02.07.09
Ausstellung: 03.07. – 18.10.2009
Öffnungszeiten: täglich 10.00 – 19.00 Uhr, Do 10.00 - 22.00 Uhr
Museumsplatz 1 im MQ, 1070 Wien
Zur Ausstellung erschien ein zweisprachiger Katalog in Deutsch und Englisch.
DAS PORTRÄT
Fotografie als Bühne
Hg. Kunsthalle Wien: Gerald Matt, Peter Weiermair
Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst, 2009. 232 S.
ISBN 978-3-85247-076-4 (Kunsthalle Wien)
ISBN 978-3-941185-60-9 (Verlag für Moderne Kunst Nürnberg)
„Du sollst dir kein Bildnis machen“ so steht es in der Bibel geschrieben, dabei ist von Gott die Rede.
„Du sollst dir kein Bildnis machen“, sagt aber auch Max Frisch in seinem Stück „Andorra“ 1961, in dem es um die Bewältigung des Antisemitismus geht. Auswirkungen von Vorurteilen, Schuld des Individuums, die Zweifelhaftigkeit einer Identität. Ausgangspunkt ist die Liebe zum Nächsten, die laut Frisch nur möglich ist solange wir ihn nicht kennen. „Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden: weil wir sie lieben, solange wir sie lieben. […]Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe […] Nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns.“ Der Verrat stellt sich ein, sobald das Rätsel des Geheimnisses, welches der Mensch an sich ist, gelöst ist.
Das ist die eine Seite der Medaille.
Die Möglichkeit das Andere zu sehen, lang anhaltend zu betrachten, also zu studieren, erzeugt eine aufklärende Wirkung, fördert die Akzeptanz des Fremden. Ein langer Weg, aber ein Weg mit sichtbarem Ziel, wie man deutlich an dieser Ausstellung in der Kunsthalle Wien bemerken kann.
Das Portrait als Bezeichnung der Darstellung eines Menschen hat eine lange Geschichte. Sie beginnt vermutlich in der Antike. Doch die tatsächliche Revolution der Portraitmalerei, abgesehen von kleinen Ausnahmen, wie sie beispielsweise in Jan van Eyck oder Albrecht Dürers Werke zu finden sind, fand wohl im 16. Jahrhundert statt, beginnend mit dem Ölgemälde „La Gioconda“, bei uns eher bekannt unter dem Namen „Mona Lisa“, des Leonardo da Vinci. Und es ist nicht ihr viel vermarktetes angeblich geheimnisvolles Lächeln, was dieses Werk so einzigartig für unsere Menschheitsgeschichte macht, sondern vielmehr das eingegangene Wagnis eines Künstlers eine Frau zu portraitieren, um ihr dann dieses Bild als Individuum, nämlich als der Lisa del Gioconda, die sie nun einmal war, zu widmen und sie nicht als eines seiner üblichen Madonnenmodelle zu verkaufen. Ein Dank vielleicht, aber mit Sicherheit eine Anerkennung an eine Frau, die so oft für ihn, oder viel mehr durch ihn für die katholische Kirche Modell stand. Für die Kirche, die für Frauen bis heute nicht viel übrig hat. Das Geheimnis ihres unsicheren Lächelns ist gelüftet, und dennoch schmälert dieses Wissen nicht das Interesse und die Anerkennung an da Vincis Œuvre.
Das ist die andere Seite der Medaille.
Die Portraitmalerei blieb in den nächsten Jahrhunderten zuerst nur den Mächtigen vorbehalten. Herrscher in Gottes Gnaden, Päpsten und ihren Unterläufern. Man denke nur an Velázquez’ Portrait von „Papst Innozenz X“, dessen Bildnis völlig im Gegensatz zu seinem Namen steht (17 Jh.). Später waren es Kaufleute, die sich verewigen lassen konnten.
Und so spricht zur Eröffnung und schreibt in seinem Vorwort des Ausstellungskatalogs der Direktor der Kunsthalle Wien Gerald Matt ganz richtig von einer Demokratisierung des Portraits durch die Errungenschaft der Fotographie beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts.
Nicht zuletzt deswegen geht vom Bildgenre des Portraits eine unergründliche Faszination aus. Viele große Ausstellungen bemühten sich um die Thematik. Hierbei sei auch der jährliche BP Portrait Award erwähnt, der in der National Portrait Gallery in London ausgetragen wird, allerdings in der Sparte Malerei.
„Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen.“ zitiert Matt die bereits 2004 verstorbene amerikanische Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Susan Sontag und leitet somit den humanitären Zugang der vertretenen Künstler und Künstlerinnen ein. Die Exponate zeigten „Interesse am Menschen“ nicht zuletzt, weil „ihre Protagonisten“ aus ihrem Umfeld kämen. Hier nimmt Matt die Bühne als Fotographie im Titel der Ausstellung vorweg. Im Zeitalter der Digitalisierung sei die Fotographie aktueller denn je und darin liege auch der Anlass zu einem Kunstdiskurs einzuladen. „Sommer der Fotografie“ lautet das umfassende Programm der Kunsthalle Wien vom Mai bis Oktober 2009. Der Diskurs bietet die Möglichkeit die österreichische Fotographie in einem internationalen Kontext zu sehen, ihren Stellenwert zu überprüfen und sich mit der Notwendigkeit eines Fotomuseums in Österreich auseinanderzusetzen.
Als ehemaliger Direktor des Rupertinums (1998-2001) und der Galleria d’Arte Moderna von Bologna (2001-2007) und nicht zuletzt als ehemaliger Präsident der Internationalen Vereinigung der Kuratoren für Moderne Kunst (IKT) hat der 1944 in Oberbayern geborene und nunmehr als freier Kurator in Innsbruck lebende Peter Weiermair einen beneidenswerten Überblick und einen subtilen Einblick in das zeitgenössische Kunstgeschehen. Für diese Ausstellung versammelte er 32 international renommierte Fotographen, die die Kunst- und Fotografiegeschichte ab 1980 reflektieren. „Es geht nicht um die Konstruktion oder Dekonstruktion des Gesichts (als nur einem Teil des Porträts) vor dem Hintergrund einer Infragestellung der Leistungsfähigkeit des Porträts, ja der Möglichkeit des Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalts der Widergabe eines Menschen, sondern um das Porträts nach der Ära des Konzeptualismus und der Selbstbefragung des Mediums Fotografie in den sechziger und siebziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts.“ (Zitat Weiermair, Katalog: S. 8).
Die gezeigten Exponate reflektierten aber auch das Menschenbild der letzten drei Jahrzehnte, so Weiermair. Dabei handle es sich um Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen oder sogar dem Fotographen unbekannt sind, wie es in der street photography üblich ist. In der Portraitaufnahme in ihrem „rechteckigen Rahmen“ sehe er die Metapher zum „theatralischen Bildausschnitt“, den Fotographen als Regisseur und sein Model als Protagonisten. Auf dieser Bühne spiele sich nun die Entwicklung und die Vielfältigkeit dieser Kunstsparte der letzten Jahre ab: überdimensional große Passbilder, Modeshootings, Schnappschüsse, Akt- und Dokumentationsfotographie. Das Selbstportrait wurde ausgeschlossen, da ausschließlich der „Dialog mit den Anderen“ für diese Ausstellung von Interesse war. Auch das Fototagebuch als Subgenre wurde durch die Arbeiten von der 1953 in Washington D.C. geborenen Nan Goldin eingebunden. Hier hat nicht das Einzelbild Werkcharakter, sondern die Abfolge der wissenschaftlichen Intensionen.
Der für Fotographie zuständige und als Kurator im Stadtmuseum München tätige Ulrich Pohlmann beginnt seinen Essay „Über Portraits in Zeiten der digitalen Wirklichkeit“ im Ausstellungskatalog S. 14-24 mit einer interessanten Feststellung: „ Wir leben in einer auf starke faciale Reize ausgerichteten Gesellschaft, die“ laut Thomas Macho („GesichtsVerluste“ in: Ästhetik und Kommunikation) „ununterbrochen Gesichter produziert“. Daran habe sich in den letzten zehn Jahren nichts geändert.
Die Digitalisierung erleichtert die Suche nach unverbrauchten, frischen Gesichtern für den Marketingbereich.
Und laut Pohlmann besteht die Möglichkeit, dass die digitale Bildtechnologie für die Kunst an Einfluss gewinnen wird. Klons, computergenerierte Modelle sowie Gesichtserkennendesysteme werden auch in der Kunst zu erwarten sein. Die Fotographie hat ihren Wahrheitsanspruch und „die Beglaubigung von Präsenz“ (Roland Barthe), die Authentizität sowie das Rollenspiel zwischen Fotograph und Modell schon lange verloren. Pohlmann schließt seinen Essay mit dem Satz: „Der Fotograf als Autor ist bedeutungslos und hat dem Programmierer das Feld überlassen.“
Unter diesem Aspekt war es an der Zeit eine Auswahl von Fotographen getroffen zu haben, die die letzten 30 Jahre der Portraitfotographie veranschaulichen und repräsentieren. In vierzig Jahren, so meint Weiermair in seinen einführenden Worten bei der Ausstellungseröffnung, würden diese Exponate ein Zeugnis unserer Zeit und unserer Gesellschaft abgeben.
Du sollst dir ein Bildnis machen, nicht nur der letzten Jahre, sondern vor allem von der Gegenwart. Mit diesem Auftrag sieht sich der Besucher der Ausstellung sowie auch Leser des Katalogs konfrontiert. Wenn wir also Gerald Matts Gedankengang der Demokratisierung der Fotographie weiterverfolgen und die Demokratisierung auf die gesamte Kunst projizieren, nicht zuletzt durch die revolutionäre Technologie der Digitalisierung und der Errungenschaft des Internets, kommen wir zur Erkenntnis, dass die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes immer undurchsichtiger wird. Gruppierungen formieren sich, deren Mehrheit nun die Wahrhaftigkeit bestimmt.
Unser eigener technischer und kultureller Forschritt hat uns demokratisiert und wir haben es aus Mangel an Verantwortungsgefühl und Disziplin noch nicht einmal bemerkt.
Hier in dieser Ausstellung überwiegt der Eindruck des zunehmend androgyn werdenden Menschen. Fotos mit eindeutiger Zuweisung der Geschlechtlichkeit vermischen sich mit Gesichtern, die geschlechtsorientiert kaum mehr zuzuordnen sind. Hierbei sei besonders Stefano Scheda mit seiner 5-teiligen Installation von C-Prints „ROLL N’ROLL/ The body of the Portrait“ hervorgehoben. Als Kinder erschufen wir gemeinsam Klappzeichnungen von Menschen, deren drei Teile – Kopf, Körper, Beine – abwechselnd verdeckt gezeichnet wurden. Die sonderbaren Resultate von Mann-Frau/ Frau-Mann Figuren amüsierten uns. Scheda vollzieht dieses Kinderspiel in fünf Rollen mit nackten Frauen- und Männerkörpern, die sich als mehrere überlappende Rollen erweisen. Die akribisch durchgeführte Vermischung der Körper zwischen Männern, zwischen Frauen und zwischen Frauen und Männern hinterlässt eine unglaublich nachhaltige Wirkung auf den Betrachter. Die zunächst erheiternde Wirkung durch die Erinnerung an unsere Kindheit erstarrt um das Wissen unseres gelebten Körperkults, eines Wahns, der durch die Stereotypie und Unpersönlichkeit der abgelichteten Modelle ad absurdum geführt wird. Scheda verzichtete auf eine digitale Verarbeitung seiner Idee, vermutlich um den spielerischen Effekt der Variabilität zu unterstreichen.
Ein weiterer Aspekt, den wir in dieser Ausstellung immer wieder finden, ist die Wichtigkeit der Haare. Sei es durch ihre Beschneidung oder ihre Waschung oder die Hervorhebung der Frisur, wie es Hellen van Meene in ihren unbetitelten Exponaten, Wolfgang Tillmann in „Haircut“ oder Andreas Mader mit „Udo“ und „Heike“ zeigen. Hierbei spielt jedoch der Haarverlust keine Rolle. Es ist vielmehr wieder das geschlechterzugeordnete Klischee das gebrochen wird, wie z.B. die Beschneidung des Weiblichen bei einem Mann oder die Reinigung des Männlichen bei einer Frau.
Viele der Fotografen beschäftigen sich mit dem Thema Kind und Heranwachsenden. Ausschließlich mit Jugendlichen befasst sich Valérie Belin, mit Kindern Rineke Dijkstra, Sally Mann, Hellen van Meene und Judith Joy Ross. Andreas Mader zeigt neben matrimonialen auch Mutter-Kind-Beziehungen. Eine sexuelle Annäherung zu Jugendlichen definieren die Arbeiten von Anthony Gayton.
In unserer überalternden Gesellschaft fand interessanterweise nur Bernhard Fuchs Zugang zum Alter. Einzelne Exponate wie „Mali portrait XXVI“ von Jean-Baptiste Huynh und „Alice Neel“ von dem bereits 1989 verstorbenen Robert Mapplethorpe bereichern bezüglich Alter etwas das Bild der Ausstellung.
Kaum nachvollziehbar sind in dieser Ausstellung Teile der nicht betitelten Arbeiten der Serie „bewohner“ von Jitka Hanzlová. Neben einer Fotographie eines Kindes, und das einer Frau mit Hund, sind ein Pfau, ein Teil eines Wohnwagens und Spuren am Asphalt ausgestellt.
Ein nicht dominierender Teil der Ausstellung widmet sich Aufnahmen von Stars, vorwiegend Schwarz-Weiß-Fotographien und Auftragsarbeiten der Fotographen Greg Gorman, Anton Corbijn, Andrea Cometta und Peter Hujar mit bekannten Gesichtern aus der Gay-Szene.
Wie Gemälde wirken im Gegensatz zum Rest der Ausstellung die großformatigen Exponate von Tina Barney, deren Ambiguität sich in Schnappschuss- und ausgefeilter Kompositionsästhetik manifestiert.
Aufgeplusterte Portraits im Stil eines Passphotos, wie die von Thomas Ruff, der gleichzeitig in der Kunsthalle Wien in Halle 1 mit eine Einzelausstellung vertreten ist, entpersonifizieren den Menschen und stehen im glatten Gegensatz zu den Aufnahmen von Luigi Gariglio, der seine Projektarbeiten am Bsp. „Lap Dancer“ als politischen und sozialen Akt sieht.
Es sind nur Nuancen, eben das Zusammenwirkung von Fotograph und Modell, welche ein völlig anderes Bild des Menschen mitteilen. Im Übrigen dürften sich die Fotographen darüber einig sein, dass es nicht möglich ist weder mit einer noch mit tausend anderen Aufnahmen einen Menschen festzuhalten. Die Wahrhaftigkeit als solche wurde also schon immer in Frage gestellt, ja, war seit jeher ein Ding der Unmöglichkeit. Max Frischs erwähnte Zweifel haben weiter Bestand.
Der Katalog unterscheidet sich kaum spürbar von der Anzahl der Werke der Ausstellung. Mit Ausnahme von Peter Hujar konnten von jedem Fotographen und jeder Fotographin Statements zu ihren Werken eingebracht werden. Im Anhang befinden sich ihre Kurzbiographien, Bibliographien und detaillierte Angaben zu den publizierten Werken.
Für die Statistik: Von den 32 ausgewählten Künstlern sind genau die Hälfte weiblich, eine eindeutig starke amerikanische Präferenz beherrscht ein Drittel der Ausstellung, 2/3 kommen aus Europa, mit Ausnahme von dem in Jerusalem aber in Amerika und Europa lebenden Michael Clegg. Österreich ist mit Leo Kandl, Bernhard Fuchs und Gerhard Klocker vertreten.
Eine ausgezeichnete Ausstellung samt Katalog zum Thema Portraitfotographie der letzten 30 Jahre.
Eine Ausstellung, die man trotz komplexem Thema und schwerwiegender Aussagen der Exponate beschwingt verlässt, wahrscheinlich wegen der hervorragenden Aufarbeitung und Kuratorenarbeit und die dennoch, wenn man es will, nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch inspiriert, kurzum eine großartige Mischung von Gefühlen bei den Besuchern erweckt.
Zeichnungen: Anselm Glück. Rez.: Ingrid Reichel
Ingrid Reichel DIE NUR SCHEINBARE LEICHTIGKEIT DES ANSELM GLÜCK
„to ride out the nightmare alone“ [kathy watson]
ZEICHNUNGEN
Anselm Glück Galerie Splitter Art
Eröffnung: 20.04.09
Ausstellung: 21.04. – 01.06.2009
Öffnungszeiten: Mo – Fr 11 - 13 Uhr, 15 – 17 Uhr und nach Voranmeldung
Salvatorgasse 10, Ecke Fischerstiege 1-7, 1010 Wien
Der Schriftsteller und Grafiker Anselm Glück, eigentlich Friedrich Anselm Glück, wurde 1950 in Linz, Oberösterreich geboren und lebt seit 1978 in Wien. Das Experimentelle und die Performance stehen im Vordergrund seines Schaffens, selten sind Ausstellungen seiner Illustrationen zu besuchen. Nur ein eindringliches Bitten und ein vehementes Nichtlockerlassen von der Verlegerin Batya Horn machte es möglich kurzfristig eine kleine Ausstellung von 21 auserwählten Werken Anselm Glücks, in der Galerie Splitter Art zu sehen. Papierarbeiten aus dem Jahr 2007, an denen teilweise wie zufällig der Abriss des Ringblocks nicht beschnitten wurde, in Graphit und Buntstiften, zeigen den Menschen als Haus oder das Haus als Menschen, mit Engelsflügeln vielleicht, jedenfalls nie mehr als eine Person pro Blatt. Glück führt konkrete und visuelle Poesie zusammen, die Schrift wird zu einem Bild.
Glück bleibt mit seinen kindlich gehaltenen Zeichnungen minimalistisch und sorgt trotz tiefem Inhalt für Heiterkeit. Der Rechtshänder nützt auch seine linkische (sic!) Hand, alle Mittel sind ihm recht. Glück selbst spricht von einer „instinktiven Raffinesse“. Drei Semester Sinologie genügten, um ihn zu einem Meister der Schriftzeichen ohne Absetzen zu machen. Sonst zeichnet er eher in Phasen. Der Titel „to ride out the nightmare alone“ [kathy watson] ist ein Zitat aus der englischen Literatur und stammt von dem Geschwisterpaar Mary Ann und Charles Lamb (18./ 19. Jh.). Es gilt also den Angsttraum alleine heil zu überstehen …
Der Philosoph und Experte in Fragen Sprache und Ästhetik Burghart Schmidt wies bei seinen einleitenden Worten zur Ausstellungseröffnung darauf hin, dass „Bild und Text“ ein tatsächlich beunruhigendes Thema seien. Texte könnten, nach Plato, zur Vernichtung unseres Gedächtnisses beitragen. Und in der Tat, wie oft haben wir selbst schon erlebt, dass wörtlich Gespeichertes eher einer Überinformation gleichkam, die man nicht mehr in der Lage war zu verarbeiten …
Es geht dennoch nichts verloren, sondern bleibt in unserem Unterbewusstsein haften. Wir befinden uns in Wien, in der „Stadt der Psychoanalyse“ und Glück erinnert uns daran. Der Mensch in seiner Einheit seines ICH, ÜBER ICH und ES haust in seinem Körper. Manchmal ist es aus der Haut zu fahren: das Erkennen der scheinbaren Leichtigkeit, in diesem Fall des Anselm Glück!