Alexander Peer: Die Eule der Minerva

Die dämmernde Erkenntnis
von Alexander Peer

Die Eule der Minerva, der römischen Göttin der Weisheit, Musik und Poesie, flog in der Dämmerung. Kann das bedeuten, dass Erkennen Zwielicht benötigt?
Vielleicht liegen Platon und die ihm Nachfolgenden falsch? Vielleicht ist es ein grundlegender Irrtum die uns umgebende Höhle – in der Hoffnung bessere Handlungsfähigkeit zu erlangen – mit Erkenntnissen ohne Ende auszuleuchten?

Wie ein schweres Tuch legt sich Corona über die Kultur und scheint manches zu ersticken. Dabei wird die Eule flugmunter. Mit dieser hereinbrechenden Finsternis entsteht der fließende Übergang von Leben und Tod. Da ist der Spielplatz der Musik und Poesie. Es ist aufschlussreich, diese opake Qualität im Zusammenhang mit dem kulturellen Fortschritt zu sehen. Wenn ein Kartenhaus zusammenbricht, wird es anders wiederaufgebaut. Mit anderen, ebenso fragilen Baumaterialien vermutlich. Bei Antonio Gramsci findet sich dieser Gedanke zum Übergang, dass „das Alte stirbt, das Neue jedoch noch nicht zur Welt kommen kann.“

Mein Verlag, der Limbus Verlag, hat seinen Namen aus dem theologischen Vokabular bezogen. Dieses Weiterdenken, dass wir uns gewissermaßen an einem Zwischenort befinden, einem Warteraum, weil wir ohne unser Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind, tritt in der Krise in den Vordergrund und zeigt klarer, was ohnedies permanent der Fall ist. Das Bild funktioniert auch bei einer atheistischen Interpretation der Welt: Kultur strebt immer eine Art Himmel an und erreicht ihn nie. Wünschenswert ist allerdings Bodenhaftung. Etwa durch das Erkennen biochemischer Zusammenhänge. Größer als jetzt war die Bildungsoffensive für Biologie nie zuvor.

Was sagt uns die Eule in Bezug auf das Virus, das so klein ist und so große Wirkung zeigt? Es kann heißen: Die Veränderung bedarf der Dämmerung. Als hätten wir das Virus benötigt, um zu verstehen. Wie rasch eroberten in den letzten Tagen die Tiere die Straßen und Plätze zurück. Wie flugzeugfrei der Himmel – ich muss schon zu den Großeltern zurückgehen, die das als normal verstanden haben. Wie kräftigend der Atemzug ist (sofern sich damit nur einigermaßen freundliche Bakterien und Viren ein neues Zuhause suchen). Wieviel Gewissheit so rasch außer Kraft gesetzt ist. Wie unangenehm klar zu begreifen ist: die Erde braucht uns ganz und gar nicht und es ist ihr auch völlig schnuppe, ob wir auf ihr herumrennen oder anderes Getier.

Die Eule ist schön anzusehen. Doch Vorsicht: Sie ist ein nachtaktives Beutetier. Sie frisst Mäuse, Regenwürmer, kleine Schlangen, ja auch Fledermäuse, wenn sie diese erwischt. Sie zerbeißt die Knochen, verdaut den kleinen Körper mit Haut und Haar.

In Shakespeares „Julius Cäsar“ wird der aus dem antiken Griechenland ebenfalls übernommene Mythos der Eule als Todesbote eingesetzt.

„Und gestern saß der Vogel
Der Nacht sogar am Mittag auf dem Markte
Und kreischt’ und schrie.“

Die Iden des März in der Version des 21. Jahrhunderts.

Die Eule kann ihren Kopf bis zu 270° drehen, damit erweitert sie ihr Gesichtsfeld enorm und sieht, was anderen entgeht. Vermutlich ist diese Fähigkeit zur Panorama-Perspektive eine entscheidende Eigenschaft zur Qualifikation als Begleittier der Göttin Minerva. Ihre gewissermaßen griechische Mutter ist Athene. Die Figur der Pallas Athene steht vor dem Parlament in Wien und ziert viele demokratische Institutionen. Sie soll als Leitfigur für politische Klugheit dienen.

Mit dem Vokabular der Virologie gedacht: Ist Quarantäne klug? Herdenimmunität? Selten zuvor sind zwei Überzeugungen so klar in Opposition gestanden und nur eine davon ist in einem abgegrenzten Territorium machbar. Aber wahrscheinlich kommt beides, dialektisch sozusagen, erst die Quarantäne und dann hoffentlich dosiert und dank hoher Immunisierung der Einzelnen ohne zahlreiche Verluste die Herdenimmunität. Aber bitte rasch, bevor alle datenschutzrechtlichen und demokratischen Vorzüge verspielt sind.

„Schreibende Nomaden entdecken Europa“ heißt die Anthologie mit Impressionen zu einem Kontinent, der sich selbst sucht. Er sucht sich nach den Wochen des Schocks bestimmt noch eine Spur intensiver. Im vergangenen September konnte ich mit Mag. Erwin Uhrmann und Dr. Manfred Müller das Buch in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur vorstellen.
Auszüge aus diesem Gespräch und der Lesung sind hier zu hören: https://soundcloud.com/user-645706199/schreibende-nomaden-entdecken-europa

Bleib gesund, wach und aktiv!

Alexander Peer
geb.  1971 in Salzburg, Studien in Germanistik, Philosophie und Publizistik. Peer lebt heute als freier Autor & Journalist in Wien. www.peerfact.at
Bücher u.a.: „Schreibende Nomaden entdecken Europa“, Limbus 2019,„Der Klang der stummen Verhältnisse“, Limbus 2017, „Bis dass der Tod uns meidet“, Limbus 2013, „Land unter ihnen“, Limbus 2011, „Ostseeatem“, Wieser Verlag 2008 und „Herr, erbarme Dich meiner!“ (über Leo Perutz), Edition Art & Science 2007. Zahlreiche Essays und Beiträge über Literatur, Philosophie und Architektur. Peer bietet ferner Schreibwerkstätten an. Er erhielt einige Preise und Stipendien, u.a. war er 2011 Stadtschreiber in Schwaz, 2016 erhielt Peer den ÖZV-Preis in der Kategorie „Wissenschaft“, 2017 war er Stipendiat im Schloss Wiepersdorf und 2019 Gast-Autor in Hawthornden (bei Edinburgh).

© Stefan Müller