Michael Benaglio: In altrömischer Therme

IN ALTRÖMISCHER THERME

Augustus und Tiberius saßen in einer Therme im alten Rom. Nahe dem Forum Romanum. Warme Dämpfe zogen durch die mit Marmorfließen ausgelegten Räumlichkeiten. Zu dieser Stunde weilten nur wenige Römer in der Anlage. Nach einem längeren Bad, einer Schlammpackung und einer einstündigen Massage fühlten die beiden Römer, wie ihre alten Knochen wieder einigermaßen funktionstüchtig klapperten. Sie erhoben sich, schlenderten umher und ließen sich in einem Raum nieder, der frei von Dämpfen den Blick in den gepflegten Garten ermöglichte. Auf einem runden Steintisch eine große Schüssel mit Pfirsichen, Marillen und Äpfeln, daneben eine tönerne Wasserkaraffe, einige Trinkbecher. In einem Krug leichter roter Landwein. Tiberius schenkte Augustus Wein ein, bediente sich daraufhin selbst. Die beiden älteren Herren prosteten sich zu.

Da schritt eine dürre, hagere Gestalt an ihnen vorbei, mit blassen, blauen Augen, verkohlten Augenlidern, die Finger gekrümmt, das Rückgrat gebeugt. Kein Leben drang aus dem Blick des Fremden, er hinkte grußlos an den beiden Römern vorbei. An Stelle der Haare quollen verrostete Drähte aus seinem Kopf und über die Ohren, die aus metallenem Material gefertigt. An Stelle der Kniescheiben flimmerten kleine Bildschirme. Ein Gestank nach gerösteten Zyklopen und Kabelbrand verbreitete sich. Rund um den Herrn tummelten sich in unterwürfiger Haltung einige versklavte Seelen, zwei Centurions umgaben die Gestalt mit gezückten Schwertern, bereit, jeden Angriff auf ihren Herrn abzuwehren. Augustus und Tiberius hüllten sich enger in ihre weißen, weichen Bademäntel.

„Wer ist denn das?“, fragte Tiberius leise mit leichtem Schaudern in der Stimme.

„Das ist der siegreiche Feldherr der Digitalisierung“, erklärte Augustus.

„Digitalisierung? Nie gehört“, sinnierte Tiberius. „Sag, wie heißt denn diese Vogelscheuche?“

„Corona“, sagte Augustus.                                              (BM, 3 / 20)