56/wunder/Bericht: Wundern, staunen, entdecken: Die Wiener Wunderkammer 2014 als Kraftfeld der Kreativität

Gertraud Artner

Wundern, staunen, entdecken
Die Wiener Wunderkammer 2014 als Kraftfeld der Kreativität

Ein Publikumsmagnet der besonderen Art führte Anfang April in den  Prechtl-Saal der Technischen Universität Wien: die Wiener Wunderkammer 2014, ein Konzeptkunstwerk von Christoph Überhuber, Initiator und Kurator der Ausstellung. Höchst unterschiedliche Künstler/innen und Wissenschaftler/innen verwandelten mittels 35 Installationen den eher weitläufigen Saal in einen dichten Parcours kurioser Objekte, darunter Maschinen, Instrumente, Schautafeln,allerlei Artefakte und Kunstwerke in zwei und drei Dimensionen. Die Besucher/innen tauchten in einen Erlebnis-Garten des Wunderns und Staunens, voller Bewegungsabläufe und audiovisueller Impulse ein, die vielfach zur Interaktion einluden.

 Über das zugrundeliegende Konzept dieser innovativen Ausstellung sagt Überhuber: „Durch ein Nebeneinander von Exponaten aus sehr unterschiedlichen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft entsteht die Basis für neue Assoziationen und Akte der Kreativität. Es wird damit eine alte Form der Kunstpräsentation, das Wunderkammer-Prinzip, zu neuem Leben erweckt und mit neuen Bedeutungen versehen. Dadurch können gewohnte Sichtweisen, Begriffe und Zusammenhänge hinterfragt und neue Regeln gefunden werden. Ziel ist es, durch das Arbeiten mit Kontexten, Bedeutungen und Assoziationen die Fantasie zu bewegen und kreative Handlungen anzuregen.“

 

 Das Datum der Präsentation entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, schließlich jährte sich zum ersten Mal die lang erwartete und viel beachtete Neueröffnung der Kunst- und Wunderkammer im Kunsthistorischen Museum Wien, der weltweit wohl bedeutendsten Sammlung auf diesem Gebiet. Dank der engagierten Bemühungen von Generaldirektorin Sabine Haag sind die einzigartigen Kostbarkeiten der Habsburger wieder allgemein zugänglich.

 

Früher waren Wunderkammern eine allseits beliebte Attraktion.„Staunen, entdecken, verstehen“ lautete das Credo dieser kuriosen Sammlungen, die sich Fürsten und Adelige von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts einrichteten und deren zur Schau gestellte Schätze vor allem die Interessen und Vorlieben, kurz die individuelle Weltsicht ihrer Eigentümer widerspiegelten. Als Keimzelle moderner Museen umfassten die Wunderkammern sowohl von Menschen geschaffene Gegenstände (Artificialia) als auch Objekte aus der Natur (Naturalia), wissenschaftliche Geräte (Scientifica) und allerlei Kuriositäten und Exotika. In ihrer Gesamtheit sollten die Wunderkammern als „Welt im Kleinen“ die Schöpferkraft Gottes repräsentieren. Vor allem aber symbolisierten sie die Macht und die Beherrschung der Welt durch deren Besitzer.

 

Natürlich geht es in der Wiener Wunderkammer 2014 nicht um die Fortführung oder Wiederbelebung überkommener Weltbilder. Ebenso wenig will Überhuber ein nostalgisches Universaldenken der Romantik oder gar ein Ausufern in die Esoterik unterstützen.  Im Vordergrund steht die ganzheitliche Sicht von Kunst und Wissenschaft als wichtigste Kreativfelder des Menschen, die bereits in der Antike in einer spannenden und spannungsvollen Beziehung zueinander wahrgenommen wurden, sich gegenseitig inspirierend und beflügelnd. Erst seit dem 19. Jahrhundert traten Kunst und Wissenschaft in ein Konkurrenzverhältnis. Gleichzeitig entwickelte sich ein Objektivitätsideal, das scheinbar keinen Platz für künstlerisches Denken in der Wissenschaft zuließ.

 

Demgegenüber beobachten wir seit wenigen Jahren eine neuerliche Annäherung beider Bereiche. Eine verwissenschaftliche Welt drängt die Kunst zur Auseinandersetzung mit der Wissenschaft, und die Frage nach dem eigenen Status bringt die Wissenschaft zumindest punktuell dazu, sich mit der Kunst auseinanderzusetzen. Aktionen wie die Förderung der künstlerischen Forschung im Programm PEEK (Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste) durch den österreichischen Wissenschaftsfonds dienen einer zunehmenden Auflösung der Gegensätze.

 

Einen bemerkenswerten Impuls zur Annäherung von Kunst und Wissenschaft gab es 2012 mit der Präsentation physikalischer Experimente durch den Quantenphysiker Anton Zeilinger auf der documenta in Kassel. Ein Jahr später, auf der zentralen Ausstellung der Biennale 2013 in Venedig versuchte Massimiliano Gioni mit dem „Enzyklopädischen Palast“ das Wissen der Menschheit in visueller Form zu strukturieren. Kunst sollte nicht Selbstzweck sein, sondern zurückgeführt werden auf das, was sie einmal war: ein Schlüssel zum Verständnis der Welt.

 

Folgerichtig wurde die Wiener Kunstkammer 2014 mit einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Wiener Vorlesungen eröffnet, quasi zur Einstimmung diente ein Zitat Albert Einsteins: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Unter dem Titel „Geheimnis und Entzauberung“ diskutierten die Generaldirektorin Sabine Haag und Christoph Überhuber, selbst Wissenschaftler und Künstler, über das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst. Völlig verfehlt wäre es, so Überhuber, wissenschaftliche Tätigkeit auf die lineare Komposition von Fakten und Daten zu reduzieren. Vielmehr ist jeder Paradigmenwechsel Ergebnis und Beweis des oft unterschätzten kreativen Potentials in der Wissenschaft. Wenig überraschend unterstrich Sabine Haag das Primat der Kunst in ihrem Tätigkeitsbereich, in dem der Wissenschaft eine eher dienende Funktion zukomme. Gleichwohl räumte sie gerne ein, dass Kunst- und Wunderkammern auch heute möglich und sinnvoll wären.

 

Bei der Wunderkammer 2014 handelt es sich allerdings nicht um eine Sammlung, sondern um eine Ausstellung mit Event-Charakter. Zur Teilnahme wurden Wissenschaftler/innen aller Disziplinen und Künstler/innen aller Genres eingeladen, der Öffentlichkeit Einblick in die Besonderheiten ihrer wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Arbeiten zu geben. Aus 125 eingelangten Einreichungen wählte eine Jury aus Vertretern der Wissenschaft, Kunst und Medien (Valie Export, Elisabeth von Samsonow, Renée Schröder, Martin Bernhofer) jene 35 Beiträge aus, die schließlich in der Ausstellung präsentiert wurden:  ein Ensemble an künstlerischen und wissenschaftlichen Wunderdingen, die mit ihrer ästhetischen wie materiellen Präsenz jenen Moment der Neugierde wachrufen, den die Wahrnehmungstheorie als Voraussetzung für Forschen und Erkenntnis sieht.

 

Christoph Überhuber versteht die Wiener Wunderkammer 2014 als ein Werk der Konzeptkunst. Entscheidend ist die Idee. Ihre Art der Ausführung bleibt von untergeordneter Bedeutung und es muss auch nicht der Künstler selbst sein, der sie realisiert. Teil des Konzepts ist eine jährliche Präsentation, und demnach wird sich die Wunderkammer 2015 so wie die Wunderkammer 2016 etc. jeweils signifikant unterscheiden in ihrer konkreten Realisierung, in der Wahl der Exponate und ihrer Anordnung. Bestehen bleibt die Idee, nämlich die assoziative Auseinandersetzung mit den beiden wichtigsten Kreativbereichen: Kunst und Wissenschaft. 

 

Erschienen im etcetera Nr. 56 / wunder / Mai 2014