56/wunder/Bericht: Jubel & Elend: Leben mit dem Großen Krieg 1914-1918

Ernst Punz

JUBEL & ELEND

Leben mit dem Großen Krieg 1914-1918
RENAISSANCESCHLOSS SCHALLABURG, 29.3.-09.11.2014

Am Fußboden ist eine überdimensionale Stiege aufgebaut mit Stufenlänge von einem Meter. Diese räumlich erfahrbare Darstellung der sogenannten Spirale der Gewalt verdeutlicht, ab Kriegsbeginn sind die Möglichkeiten einer gewaltfreien Konfliktlösung bereits überschritten, der tödliche letzte Schritt in den Abgrund steht beinahe unmittelbar bevor. Gleich zu Beginn wird die innerste Aussage der Ausstellung vorweggenommen.

Auf 1.300 Quadratmetern zeigen zahlreiche Exponate die vordergründigen tragischen Ereignisse dieses Krieges, aber auch hinter die Kulissen wird geblickt. Anhand von Sitzungsprotokollen wird gezeigt, das Kronfolgerattentat in Sarajewo hätte nicht zwingend zum Krieg führen müssen. Die damit neuerlich aufflammende Frage nach den Schuldigen wird komplex behandelt. Den Veranstaltern ist eine sehr gute Ausstellung gelungen, die auch Nachhaltigkeitswert haben kann. Bei Eintritt bekommen die Besucher eine kleine Mappe angeboten, in die sie in den Ausstellungsräumen Blätter einlegen können. In kurzen Texten, Sprüchen, Gedichten und Bildern sowie durch Zahlen und Fakten wird das in der Ausstellung Dargebotene nochmals vertieft.

Die Gegenüberstellung von Kriegstechnik und die damit erzielten katastrophalen Folgen für die Menschen, bekommt im Museums-Shop leider eine Schieflage. Handgranaten und Soldatenhelme vermitteln den Eindruck, dass hier Ewiggestrige ihren Bedarf decken können. Die Buchausstellung im Shop ist hingegen gut sortiert und kann ein wenig über den makaberen Eindruck hinweg helfen.

Der begleitende Ausstellungskatalog ist mit seinen Kapiteln „Welt von 1914“, „Krieg und Alltag“, „Hinterland“ und „Kriegsende“, in denen sich zahlreiche Artikel, Fotos und Objektdarstellungen finden, eine umfassende Grundlage für Vorbereitung und Nacharbeit eines Ausstellungsbesuches.

Erschienen im etcetera Nr. 56 / wunder / Mai 2014 mehr...

55/verloren/Bericht: Philosophicum Lech: Der Weg des Verlustes

Eva Riebler-Übleis

Der Weg des Verlustes

Philosophikum Lech 2013, Bericht Teil 2, 28. 9.2013

Für die LitGes war dabei: Eva Riebler-Übleis. Von der Identität (Meckel) zur postmodernen Selbstauflösung (Pfaller) zur Duldsamkeit gegenüber anderen (Demand), bis zur eigenen Ich-AG (Wiesing) und schließlich zum Selbstverlust (Reuß).

Miriam Meckel/St. Gallen iDENTITY. Das Ich im Netz. Anhand einer fast poetischen Erzählung eines Internetdiskurses zweier Männer, der eine jung und der andere alt, zeigt Miriam Meckel, dass die Welt im Internet offen steht, jedoch eine allgegenwärtige Transparenz und somit Kontrolle lauert. Ihrer Meinung nach hat das Internet die Welt zu einem großen Exhibitionistencamp gemacht. Und trotzdem gilt: Will man etwas oder sich vor der Öffentlichkeit gut verstecken, tut man es im dichten Netz, denn jeder starrt auf den Vordergrund und hat kein Auge für das, was dahinter liegt. Ist man auf der Suche nach der Identität, so fragen wir heutzutage das Internet. Es könnte eine Gruppe im Sinne Charles Taylors „identity politics“, die auf die Wiederbetonung der inneren Stimme des Menschen und seiner Authentizität angelegt ist. Dann geht es wieder um Echtheit und nicht totale Offenlegung. Die Mitglieder werden anerkannt, weil sie sich der Logik des digitalen Lebens verweigern und nicht unterwerfen. Somit zeigt sich ihrer Meinung nach: Die Geschichte verläuft nicht linear!

Robert Pfaller/Wien. Die anmaßenden Gesten der Bescheidenheit. Über das Narzisstische postmoderne Selbstauflösungsverfahren. Traurig sind unsere Bestrebungen vernünftig zu sein. Sei es in der Bildungspolitik, wo wir etwas für die Studienmobilität oder gegen hohe Studienabbrecherzahlen tun wollen, jedoch nichts verbessern sondern die Unis als Orte des neugierigen Nachdenkens und kritischer Selbstreflektion zerstören – oder sei es die Gesundheitsvorsorge, die nun oberstes Prinzip ist und die Menschen verpflichtet für die Gesundheit da zu sein. Seine Ethik ist: vernünftig vernünftig zu sein und auch nicht maßlos in der Mäßigung zu sein. Auch höflich muss man auf höfliche Weise sein und auf geschmackvolle und nicht penetrante weise geschmackvoll sein. So verdoppelt sich alles und man muss nicht nur darauf achten, sondern sich auch eingestehen, dass man nicht müssen muss! Wir selbst haben nach Verboten oder Übergriffen, die uns das Leben verderben, gerufen und sind nicht ohnmächtige Ohnmächtige! Mehr moralische individuelle Solidarität ist gefordert und der Abbau von struktureller, politischer, gesellschaftlicher Solidarität! Sein Rat: das Leben mit Humor zu würzen und nicht das Glück dem anderen neidig sein sowie, wenn wir an das Über- Ich Siegmund Freuds glauben, können wir uns selbst aus Distanz betrachten und über uns immer noch lachen.

Christian Demand/Berlin. Unsichtbare Fäden. Wie viel Wir bin ich? Anhand einer biografischen Erzählung über den Geschmack bezüglich Gebrauchsdesign, sprich Wohnzimmersofa, erläutert er die Prägung seines Geschmacks durch den Vater. Den ästhetischen Geschmack wollen wir allerdings auch den anderen aufs Auge drücken, vor allen denen, die mit uns wohnen, denn die Umgebung prägt. Kant muss er widersprechen, der da meinte: Wir seien im spezifischen Gemütszustand ästhetischer Lust, denn: „Schön ist das, was ohne Begriffe allgemein gefällt“. Am Beispiel vom Zweck-Mittel-Kalkül des Aussehens von Dachkonstruktionen erläutert er, dass andere Werte die ästhetischen überlagern können. Zu beachten ist natürlich stets der Wandel des Menschen, seiner Tradition und seines Geschmacks. Siehe Le Corbusiers: der Mensch des technischen Zeitalters sei im Begriff allmählich auch ästhetisch ein anderer zu werden.  Die ästhetische Präferenz ist zugleich Ausdruck der erstrebenswerten inneren Haltung! Sein Ratschlag: Wichtiger als die Schulung des Auges ist es, für die eigenen Vorlieben zu argumentieren und die Duldsamkeit gegenüber anderen Vorlieben zu erlernen oder auszubauen!

Lambert Wiesing/Jena. Vom: Ich zum Mich der Wahrnehmung: eine Verstrickung. Ich bin meine eigene Ich-AG meiner Wahrnehmung, denn mein Verstand, Gehirn, Bewusstsein, mein Ich, mein Geist stellen diese Wahrnehmung her. Allerdings ist der heutige Forschungsauftrag jener, die unbewussten Tätigkeiten und Prozesse zu ergründen, rekonstruieren und zu beschreiben. In seinem Vortrag handelt er den historischen Forschungsstand (18. Jhdt. Thomas Reid, Schottland, 19. Jhdt. Konrad Fiedler Sachsen … ) ab und meint u.a.: Allerdings wählen wir aus, um unsere Wahrnehmung zu entlasten: Wir sehen einen Baum und übersehen unbewusst viele andere – so z.B. Arnold Gehlen. Er setzt fort, dass man streiten kann, ob es einen Geist oder ein Ich gibt oder ob man nicht besser rational sagen soll: Es gibt ein System der Wahrnehmung. Das Nicht-Wahrnehmbare wird mal Empfindung, mal Information, mal Impression oder Sinneseindruck genannt. Jedenfalls wird unsere Zeit von dem Mythos bestimmt, dass wir mit einem unbewussten Prozess die Wirklichkeit machen oder konstruieren. Problematisch ist es, wenn wir den Prozess nicht als Modell sehen, sondern mit dem Wirklichkeitsanspruch versehen. Fazit: Die Relation zwischen Mensch und Wirklichkeit ist anders zu denken, als es die Ich-AG tut! Und: Nicht die Genese der Wahrnehmung ist wichtig, sondern die Kenntnis ein Wahrnehmender zu sein! Ich bin in einer unzweifelbaren realen Wirklichkeit selber persönlich dabei. Die Wirklichkeit zwingt mir die Wahrnehmung auf. Ich bin räumlich, zeitlich ein sichtbares Subjekt, weil ich wahrnehme! Bilder befreien uns von dieser vernetzten Wirkung der Wahrnehmung. Sie lassen uns Zuschauer sein!

Roland Reuß. Selbstbewerbung und Selbstverlust. Da die Universitäten tatsächlich es nötig haben, sich „Kompetenzzentrum“ zu nennen, leuchtet ein idiosynkratisches Warnlämpchen auf. Kritisch betrachtet ist ja seit Fr. August Hayeks Vorstellung „alles sei ein Unternehmen und wie ein solches zu führen“ auch auf den Einzelnen die Wirkung sichtbar geworden. Heute im PC-Zeitalter wird das „Sichtbare“ als Wert propagiert und nicht Leistung, z-B. einer Publikation. Hier entstehen Probleme, der Ego-Googler bemerkt, dass sein Eigenempfinden nur nach innen gestülpte Außenwelt ist. Dazu kommt nicht nur seit Hegel die bekannte Tatsache, dass das Ich seine Meinung durch die Sprache nicht ausdrücken kann. (Die Sprache drückt überhaupt nur Allgemeines aus und Ich ist ein absoluter Ausdruck, den sagen alle von/ zu sich. Das Wort „Meinen“ ist außerdem zweideutig, es heißt im Sinne von „Meineid“ auch Täuschung. Dies ist der Startschuss der Sprachkritik Wittgensteins.) Außerdem ist es jedem Staat eigen, zu lenken. Laut Patrick Schnur werden „wir von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken. Doch das ist nicht überraschend, dieser Zustand ist nur eine logische Folge der Struktur unserer Demokratie. Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.“ Die neue Situation, die durch die Selbstvermarktungsplattformen im Internet eingetreten ist (vor allem Facebook und Twitter) verschärft die Entfremdungserscheinungen des Waren-Selbst auf eine historisch bislang einzigartige Weise – so Reuß – nämlich durch den allgegenwärtigen Einsatz von Schrift. Der Markt und seine Advertising-Gesetze fordern vom Unmündigen, der sich unterworfen hat, Tribut. Reuß spricht vom „Durchschuss durch den Ich-Panzer“. „Die scheinbar widerstandslose Ausdehnung des Selbst in der öffentlichen Wahrnehmung findet sich nach Durchlaufen der Such- und Posting-History als Verlust desselben wieder.“ Fazit: Der wahre Status eines Selbst markiert den eigenen und öffentlichen Durchhänger und kommt immer weniger zu Rande!

Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014 mehr...

51/viel-leicht/Bericht-16. Phil-Lech: Ingrid Reichel - Die Krone der Schöpfung

 
Der Hund, ein Besucher des Philosophicums Lech
Foto: Ingrid Reichel
 

Ingrid Reichel
Die Krone der Schöpfung

Über das 16. Philosophicum Lech zum Thema „Tiere. Der Mensch und seine Natur.“ vom 20.09.-23.09.2012 in der neuen Kirche Lech am Arlberg.

Laut Genesis haben die christlich geprägten Menschen einen besonderen Auftrag zu erfüllen:
Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde,
unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres,
über die Vögel des Himmels und über alle Tiere,
die sich auf dem Land regen.

Der theologische Begriff des dominus terrae hat sich weltweit verbreitet und den Menschen zur Krone der Schöpfung auserkoren. Dass die Menschheit hierbei einem katastrophalen Irrtum unterlegen ist, wissen wir seit Darwins Evolutionstheorie, allerspätestens seit Freuds Kränkungsbegriff.

Beginnend mit den Erkenntnissen von Copernicus, Kepler und Galilei, dass unser Blauer Planet, den wir Menschen stetig versuchen uns untertan zu machen, nicht Mittelpunkt des Universums ist, wurde unser heliozentrischen Weltbild zerstört. Der damaligen Menschheit Stolz und Selbstwertgefühl war tief verletzt, noch heute haben wir unsere liebe Not uns damit zurechtzufinden, dass der Mensch aus dem Tierreich kommt und nicht Herr über seinen Willen ist, zumindest nicht so, wie wir es uns gerne vorstellen. So tief verwurzelt ist unser Glaube, die Krönung der Schöpfung zu sein, dass religiöse Institutionen immer noch gegen wissenschaftliche Tatbestände eifern und nicht davor zurückschrecken, das Bildungsniveau maßgeblich negativ zu beeinflussen. Auch in Österreich gibt es erschreckend viele Maturanten, die mit einem vorsintflutlichen Wissensstand gesegnet sind.

Umso begrüßenswerter war das 16. Philosophicum mit seinem Thema „Tiere. Der Mensch und seine Natur“, welches genau dort ansetzt, wo es am meisten schmerzt: Wir sind Tiere, die keinen guten Umgang mit unseren Artgenossen haben.

Zunächst gilt es einen Test zu bestehen, den Markus Wild mit dem Publikum durchführte: Wenn Sie in den Spiegel sehen, wen oder was sehen Sie? Richtig, Sie sehen sich, den Menschen! Doch sehen Sie auch das Tier? Wenn nicht, dann haben Sie die Erkenntnis über sich selbst gewonnen, dass Sie, auch wenn es schwerfällt, noch immer mit alten Wissensständen sympathisieren. Im besten Fall denken Sie, ein Tier plus X zu sehen. Doch Sie sehen, und das ist für den theoretischen Philosophen Wild ein Fakt, nichts anderes als ein Tier!

Shooting-Star des 16. Philosophicums war niemand Geringerer als der kath. Theologe, Psychotherapeut und Autor Eugen Drewermann. Sein Einsatz für Umweltschutz und Tierschutz hat u.a. auch zu seiner Suspendierung als Priester beigetragen, als er der Katholischen Kirche festgeschriebene biblische Naturfremdheit vorwarf und darin die Begründung auch sieht, dass das Christentum unfähig zum Frieden und zur Aussöhnung mit der Natur ist. Mit Drewermanns Vortrag gleich zu Beginn des Philosophicums wurde schnell klar, dass sich die gesamte Weltbevölkerung, kurzum über sieben Milliarden Menschen, unmöglich karnivor ernähren kann. Zuviel nimmt die Tiernahrung zur Tierzucht der Welternährung weg. Wenn wir noch auf die Tierhaltung zu sprechen kommen, die Drewermanns Schwerpunkt war, dann ist der Absurdität und dem Schrecken kein Ende gesetzt. Es ist längst an der Zeit umzudenken!

Einen weiteren Gesichtspunkt zeigte der Kulturhistoriker Thomas Macho mit seinem ausgezeichneten Vortrag über die Beziehung Tiere-Menschen-Maschinen für einen inklusiven Humanismus. Als Einführung in seine Materie diente ihm der revolutionäre Cyber-Punk-Film „Blade Runner“ (1982) von Ridley Scott, basierend auf dem Roman von Philip K. Dick aus dem Jahr 1968, der in einer Welt mit Androiden auf die Problematik der Unterscheidung von Mensch und Maschine hinwies. Wer glaubt, angesichts der Genforschung und der faszinierenden rapiden Evolution von Computernetzwerken, da noch an eine unstrittige Sonderstellung menschlicher Intelligenz?, fragt Macho. Bereits seit der Antike gab es Debatten um Tiervernunft und Vegetarismus, später waren sogar der Theologe Erasmus (1469-1536) und sein britischer Freund Thomas Morus (1478-1535) gegen Tiertötung und Jagd. Auch der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) polemisierte gegen den exklusiven Rang des Menschen gegenüber den Tieren. „[…] theoretische Rangordnungen und Ambivalenzen wurden durch vielfältige Techniken und Praktiken relativiert, in deren Horizont die Frage nach einer prinzipiellen Differenz zwischen Tieren und Menschen ebenso sinnlos erschienen wäre wie die neuere Frage nach dem Unterschied zwischen Menschen und Maschinen.“ (Zitat: Macho). Erst seit der Industriellen Revolution und ihren Erfindungen ist der Mensch fähig, ohne Leistungen von Tieren, Maschinen zu betreiben. Macho vertritt die These, dass der Paradigmenwechsel von den agrarischen zu den industriellen Maschinen, dem wir zwar den wirtschaftlichen Reichtum und den technischen Triumph der letzten 200 Jahre verdanken, gerade jener Siegeszug sei, der den Menschen vom Tier getrennt und damit erst Mensch und Maschine eine theoretische Legitimation gegeben hatte. Mit dieser Wissenschaft wurde ein Humanismus bekämpft, der lange Zeit als „inklusive Humanismus“ praktiziert wurde, in dem es eine Solidarität unter allen sterblichen Wesen gab. Natürlich galt es auch René Descartes (1596-1650) Ansichten zum Thema zu durchleuchten, der das Tier als göttliche Maschine ansah, die der Mensch nicht besser hätte konstruieren können.

Ursula Pier-Jauch, die für den kurzfristig erkrankten Kollegen Jean-Claude Wolf einsprang, durchleuchtete die wechselnden Perspektiven in der Philosophie und die schwimmenden Grenzen zwischen der Anthropologie und dem Tierreich anhand Descartes Maschinalisierung des Tieres, wiewohl letzterer sich keine Freunde damit schuf, war doch das Tier zurzeit Descartes in seiner Kreatürlichkeit mit dem Menschen verbunden. Das Tier frei von der Erbsünde war auch Anstoß zur Verklärung und Dämonisierung.

Der Philosoph Reinhard Brandt hingegen wollte den Begriff des Denkens näher bestimmen, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu verdeutlichen. Da die Wissenschaft bei Tieren generell noch keinen Nachweis eines Denkprozesses erbracht hat, wie Brandt glaubt, begab sich dieser zwar in amüsante, doch sehr gewagte Spekulationen. Laut seiner These seien Tiere nicht in der Lage, einfachster Strukturen zu bilden, wie einen Satz mit Prädikat und Subjekt zu bejahen oder zu verneinen. Auch könnten sie weder räumliche noch zeitliche Vorstellungen anhäufen, Begriffe erstellen, Schlüsse ziehen bzw. Urteile fällen. Vielmehr habe der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte irgendwann das Denken erfunden und mit der Sprache einen Faktor der Universalisierbarkeit erschaffen, doch aus den Lauten der Tiere könne sich nun mal, seiner Ansicht nach, keine Sprache entwickeln.

Für den Tierethiker Herwig Grimm steht dies jedoch nicht zur Diskussion. Es ginge nicht darum, ob Tiere denken oder sprechen können, vielmehr darum, den Anthropozentrismus zu überwinden, dessen moralische Schutzwürdigkeit von Wesen aufgrund bestimmter Eigenschaften mutmaßlich nur mit Menschen zu tun hat. Der daraus resultierende Speziesismus sei eine moralische Diskriminierung der Individuen einer Spezies gegenüber anderen. Grimm, der u.a. in der Privatstiftung zur Erforschung der Beziehung zwischen Mensch und Tier in Wien arbeitet und ausgebildeten Landwirt ist, sieht ein evolutionstheoretisches Problem, da man Tiere nie in ihrer Eigenart darstellt, ihre Anliegen somit im Tierschutz nicht vorkommen.

Wirklich spannend wird es in der Judikatur bezüglich der Tierrechte, wenn man sich überlegt, dass der Mensch als Tier ein eigenes Recht für Tiere erfunden hat, um diese zu schützen. Nur vor wem oder was? Dass Tierrechte mit Menschenrechten nicht konform gehen können, liegt klar auf der Hand und macht die Rechtslage um einiges komplizierter. Man stelle sich nur vor, ein Löwe in der Savanne wird verhaftet, weil er eine Gazelle gerissen hat. Nach den Menschenrechten wäre dies ein eindeutiger Mord mit Vorsatz, worauf in vielen Ländern dieser Welt noch die Todesstrafe steht. Dieter Birnbacher, Philosoph und Mitglied mehrerer medizinischen Ethikkommissionen konnte eindrucksvoll die Zwiespältigkeit erläutern. Einfach gesagt, das Recht der Tiere beruht auf (negativen) Anspruchsrechten, die vom Menschen bestimmte Unterlassungs- und Handlungspflichten fordern.

Schon bei der einleitenden Podiumsdiskussion des Philosophicums wurde man mit dieser schwierigen Haltung des Menschen gegenüber Tieren konfrontiert. Kurzum, man kann es bereits am Begriff Tierhaltung ausmachen, in welche pervertierte Richtung wir Menschen agieren, wenn es um Profitmaximierung geht und pflanzenfressenden Tieren wie Rindern infizierte tierische Produkte zum Fraß unterjubeln, welche u.a. das letale BSE vor Jahren als Konsequenz nach sich trug. Im Vergleich schrecken aber auch gewisse Tierschützer nicht davor zurück, fleischfressende Tiere zum Vegetarismus zu domestizieren. Lautet das Lebensmotto an sich „Fressen und gefressen zu werden“, dann hat das Tier Mensch in seiner Evolution jeden natürlichen Feind verloren. Mit Ausnahme der Insekten vielleicht, die ja bekanntlich unverwüstlich sind. Doch der Mensch ist sich selbst oft nicht genug und sucht in einem Tier einen Freund und Mitbewohner.

Der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal begeisterte das Lecher Publikum mit seinem Vortrag, der der Frage nachging: Warum Menschen mit anderen Tieren sozial sein wollen und auch können. Kotrschal leitet seit 1990 die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie in Grünau und seit 2008 das Wolf-Science-Center in Ernstbrunn. Sein Buch Wolf, Hund, Mensch. Die Geschichte einer jahrtausendalten Beziehung (Brandstätter Verlag) wurde als österreichisches Wissenschaftsbuch des Jahres 2013 in der Kategorie Medizin/ Biologie ausgezeichnet. Wenn Sie also das Wort Haustier lesen, geben Sie es zu, denken Sie zunächst an einen Hund. Und tatsächlich ist der Hund historisch gesehen auch das erste domestizierte Tier. Die ältesten Funde datieren 14-16 tausend Jahre zurück, genau zu jenem Zeitpunkt als Menschen sesshaft und zu Jägern und Sammlern wurden und der Hund ihnen große Dienste bei der Jagd erwies. Das erste Haustier könnte somit ein gezähmter Wolf gewesen sein.

Über die Erfindung des Haustieres referierte die bekannte Autorin und Biologin Andrea Grill und räumte damit mit so manchem Klischee auf. Haustiere gibt es in jeder Art und sie leben nicht nur im Haus, sondern gehören schlichtweg zum Haus, um ihm zu dienen. Das vom Lateinischen herrührende Begriffsfeld der Domestikation ist hierbei selbsterklärend. Doch wer glaubt, dass nur Menschen Tiere sind, die andere Tiere züchten, hat sich getäuscht. Grill führt als Beispiel Ameisenarten an, die Schmetterlinge und Blattläuse zu ihren Diensten züchten. Doch Grill vertiefte sich weiter in die Materie und stellt anhand Franz Kafkas Käfer aus Die Verwandlung und Pico della Mirandolas Rede über die Würde des Menschen (1496-1504) fest, dass zu den größten Faszinationen der Menschheit wohl die Metamorphose der Lebewesen gehört. Wenn wir also mit dem survival-of-the-fittest des Darwinismus eine faschistoide Gefahr sehen und damit eine Unvereinbarkeit mit dem Humanismus entdecken, erläuterte Grill weiter, so liegt das wohl daran, dass wir die Evolutionstheorie noch nicht wirklich verstanden haben. Evolution ist nicht zielgerichtet und hat nicht den Auftrag, das perfekte Wesen zu erschaffen. Vielmehr ist sie Zufall einer Umwelt mit großzügiger und flexibler Vielfalt. Was also gibt es Humaneres und Bescheideneres, als sich vorzustellen, wir seien alle miteinander verwandt?, fragt Grill und unterbreitet den Vorschlag, den Menschen nicht als das Tier, das Werkzeuge, sondern als das Tier, das Sinn herstellt, zu betrachten.

Neben all den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien, kamen im Mittelfeld dieses Philosophicums mehr zur Entspannung als zur Aufregung diesmal auch die Literatur und die bildende Kunst nicht zu kurz. Die Literaturkritikerin Daniela Strigl berichtete vom allseits bekannten Krambambuli bis Bambi und dem 2012 erschienen Film Die Wand, der auf den gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer basiert, über Tiere als literarische Protagonisten. Und der Direktor der Albertina, Klaus Albrecht Schröder vergas in seinen Erläuterungen über das Tier in der Kunst nicht, Dürers Feldhasen hervorzuzaubern.

Dem philosophischen Leiter des Philosophicums Lech Konrad Paul Liessmann ist jedenfalls ein aufregendes und aufwühlendes Philosophicum zum Thema Tier und Mensch gelungen. Vielleicht spenden seine Worte aus seinem Einführungsvortrag zum Abschluss etwas Hoffnung und Trost: „Der Aufruf, dem Tier endlich angemessen zu begegnen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, kann nur von einem Tier kommen, das zumindest tendenziell aufgehört hat, ein Tier zu sein und deshalb sein Verhältnis zur Tierwelt nach anderen Gesichtspunkten gestalten kann als nach denen seiner Natur.“

Ankündigung: 17. Philosophicum 25.-29. September 2013, Lech am Arlberg, Neue Kirche.
Thema: „ICH. Der Einzelne in seinen Netzen.“
Anmeldungen sind ab 01. April 2013 möglich: www.philosophicum.com

LitGes, etcetera 51/viel-leicht/ März 2013 mehr...

51/viel-leicht/Bericht-16. Phil-Lech: Ingrid Reichel - Die Krone der Schöpfung