55/verloren/Essay: Jakob Helmut Deibl - Aspekte einer Poetik des Verlorenen

Jakob Helmut Deibl

Aspekte einer Poetik des Verlorenen

Überlegungen zu Hölderlins Dichtung 1) Vorbemerkung. Es gibt einen kurzen Text Heideggers aus dem Jahr 1954, der den Titel: „Was heißt Lesen?“ trägt. In seiner Antwort auf diese Frage setzt Heidegger Lesen und Sammlung in Beziehung: „Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung.“1 Hinter dieser Verbindung steht Heideggers Etymologie der Worte lógos und légein: Ersteres wird meist mit Wort, Vernunft oder Begründungszusammenhang wiedergegeben; zweiteres mit Lesen. Darüber hinaus führen aber, worauf Heidegger insistiert, beide Worte die Bedeutung der Sammlung mit sich. Lesen wäre demnach ein Vorgang, welcher danach trachtet, das Verstreute der Buchstaben, Wörter, Sätze, Gedanken und Motive in einem Fokuspunkt zu versammeln. Wie lässt sich Hölderlins Dichtung lesen, worin ließe sie sich sammeln, zumal sie sich doch gerade jeder Einordnung versagt und kein geschlossenes Oeuvre darstellt? Sie erscheint gebrochen in eine Fülle an Fragmenten, immer neuen Überarbeitungen von Texten, späteren Hinzufügungen, Abbrüchen und Neuansätzen. Eine gesicherte Endgestalt der Texte lässt sich oft nicht ermitteln. Gäbe es ein Wort, das Hölderlins Dichtung zu sammeln vermöge, ohne ihr gleichwohl den gärend unfertigen Charakter zu nehmen und ihre Offenheit zu schließen? Wäre das Verlorene dafür geeignet, das auf einen beständig suchenden Gestus, der nie in ein endgültiges Finden einmündet, hinweisen könnte? 2) Bilder des Verlorenen. Hölderlins Dichtung durchläuft keinen Weg zu abgeklärter Reife, sondern kann als ein Weg des Verlustes gelesen werden. In den Gedichten aus seiner Studienzeit und den darauffolgenden Jahren (von 1788 bis etwa 1800) werden sämtliche Leitmotive, die Hölderlins Zeit prägen, fraglich und gehen als sichere Fundamente verloren: Die utopische Hoffnung auf ein kommendes freies Jahrhundert erlebt in den auf die französische Revolution folgenden Jahren eine Ernüchterung. Sie kann auch nicht im Kontext Deutschlands Fuß fassen, um dessen Erneuerung aus dem Gedanken eines freien Bürgertums zu fördern. Die Sehnsucht nach dem antiken Griechenland, die mit dem griechischen Freiheitskampf 1770 viele Schriftsteller und Dichter in Europa erfasste führt nicht in eine lebendige Er innerung der Vergangenheit, sondern stellt im Gegenteil den Verlust der antiken Welt vor Augen. Die dritte Strophe von Mnemosyne  spricht vom Tod sämtlicher griechischer Helden:

35 Am Feigenbaum ist mein Achilles mir gestorben, Und Ajax liegt An den Grotten der See, An Bächen, benachbart dem Skamandros. (Mnemosyne , VV 35-39)

Auch die Hoffnung auf eine neue Lebendigkeit des Menschen durch eine Angleichung an die Prozesse des ewig sich erneuernden Werdens der Natur entschwindet. Sie lässt einen Menschen zurück, der sich darin nicht mehr repräsentiert sieht: Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied, Aber hin ist meines Lebens Morgen, 55 Meines Herzens Frühling ist verblüht. (An die Natur, VV 53-56)

Die Lehrer, die man sich zum Vorbild genommen hatte, wollen nicht die freie Entwicklung des Schülers, sondern erscheinen als deren Totengräber, die keine Zukunft eröffnen: 45 Begrabt sie nur, ihr Toten, eure Toten, Und preist das Menschenwerk und scheltet nur! (Der Jüngling an die klugen Ratgeber , V 45f)

Beinahe jedes Gedicht Hölderlins aus dieser Zeit kann gelesen werden als ein Abschied, welcher eine der leitenden Ideen seiner Epoche vorstellt, um dann schließlich ihren Verlust zur Sprache zu bringen. Zurück bleibt die Zerrissenheit einer Gesellschaft ohne lebendige Erinnerung und Utopie, was Hölderlin auf eindringliche Weise in seinem Briefroman Hyperion  (1796/98) zum Ausdruck bringt: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“2 Als letztes Refugium vor der Zerrissenheit der Gesellschaft wird im Gedicht Da ich ein Knabe war, das ebenfalls zur selben Zeit entstanden ist, die Anrufung des Göttlichen beschrieben. Von den „Göttern“ sagt Hölderlin: Doch kannt’ich euch besser, 25Als ich je die Menschen gekannt, Ich verstand die Stille des Äthers Der Menschen Worte verstand ich nie.

Für Hölderlin eröffnet sich hier ein Raum des Verstehens, der ihm von seiner Epoche versagt bleibt – allerdings stellt das Gedicht als Ganzes einen Blick in die Vergangenheit dar. Klingt hier schon der Abschied auch von der Sphäre des Göttlichen an? 3) Der Verlust des Göttlichen und das Offenhalten der Leere. Die unterschiedlichen Erfahrungen des Verlustes hinterlassen eine Lücke, die in Gefahr steht, entweder in eine Perspektiven- und Visionslosigkeit des Verstummens zu münden oder durch andere Sujets sofort wieder gefüllt zu werden. Hölderlin sucht dagegen nach einem Punkt ihrer Sammlung, um jene Erfahrungen des Verlorenen darin zu bewahren, ohne jedoch die Härte der Abschiede zu verdecken. So spricht er von einem Verlust des Göttlichen, was eine Radikalisierung bedeutet, insofern der Verlust nicht partiellen Charakter hat, sondern das Absolute selbst betrifft und es deshalb keine davon unberührten Bereiche mehr gibt. In Hyperion verwendet Hölderlin dafür das Bild von der Flucht aller Götter: „Wo aber so belaidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust hinweg, und jeder andre Stern ist besser, denn die Erde. Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Muth, der Rausch wächst mit den Sorgen, und mit der Üppigkeit der Hunger und die Nahrungsangst; zum Fluche wird der Seegen jedes Jahrs und alle Götter fliehn.“3 Die Rede von „Göttern“ und deren Entschwinden hat nichts mit einer polytheistischen Remythologisierung der Welt zu tun, sondern ist Ausdruck jener geschilderten Verlusterfahrungen. Es handelt sich dabei nicht um ein partielles Entfliehen, sodass neue „Götter“ an die Stelle der alten treten könnten, sondern um eine Flucht, die das gesamte Götterpantheon betrifft: „und alle Götter fliehn“. Für diesen Verlust kann es keinen Ersatz geben. Das Bild des Entschwindens des Absoluten kann den von Hölderlin in seinen Gedichten begangenen Verlust-Weg rekapitulieren und verweist auf all die bisher aufgetretenen einzelnen Verlust-Gestalten zurück, indem es verhindert, dass die dabei entstandene Leere wieder ausgefüllt und somit die verlorengegangenen Leitmotive durch neue substituiert würden. Heutige Formen eines derartigen Ersatzes könnten sein: An die Stelle lebendiger Erinnerung an die Vergangenheit treten nationalistische Konstrukte der Zusammengehörigkeit seit unvordenklichen Zeiten, an die Stelle verlorener Zugehörigkeit zu den Kreisläufen der Natur tritt die vollständige Eingliederung in den unaufhörlichen Kreislauf kapitalistischer Warenwirtschaft. Das Vakuum an geistigen Vorbildern wird durch die beliebige Inthronisierung und das anschließende Stürzen des bisher unauffälligen Mannes / der bisher unauffälligen Frau in den unzähligen Casting-Shows ausgefüllt. Der Verlust an Utopie wird zynisch durch eine aktive Vernichtung der Lebensweltgrößtmöglicher Knappheit ausgesagt: „Und Not die Treue.“ (V 14) Das Gedicht trägt den Titel Mnemosyne, was Erinnerung bedeutet und auf die Mutter der Musen, d.h. auch der Dichtung, anspielt. Den Verlust nicht nur zu konstatieren, sondern dem Verlorenen die Treue zu halten, es zu erinnern und ihm eine Sprache zu geben, wäre gerade die Aufgabe der Dichtung, die dann zu einer Poetik des Verlordieses Gedichtes – und das sind wir, die Menschen unserer Epoche – auf nichts mehr. Er ist deutungsloses und mithin gänzlich entleertes Zeichen (V 1). Der Mensch in seiner deutungslosen Leere begegnet hier in der größten Ausgesetztheit und steht gleichzeitig vor der Figur einer umfassenden Substitution, die seine deutungslose Leere durch virtuelle Bilder und Identitäten, die ihn gänzlich unberührbar machten, ersetzt. Hölderlin drückt dies im Wort „Schmerzlos“ aus, das erratisch am Anfang des zweiten Verses steht. Es bedeutet nicht allein, dass der Schmerz des Verlorenen nicht mehr fühlbar ist, sondern dass auentleerte Zeichen vor den es ausfüllenden Bildern zu „behalten“. Für die Dichtung bedeutet dies, dass sie mithin nicht bloß über das Verlorene zu schreiben und es zu bewahren hat, sondern dass sie selbst an der Schwelle des Zerbrechens und der Neu-Eröffnung von Sprache steht. Die späten Hymnen Hölderlins nehmen genau dies in den Blick, wenn sie in dichterischer Sprache auf ein Enden und ein Neubeginnen des Gesangs (der Dichtung) reflektieren. Man kann sie deshalb als eine Poetik des Verlorenen bezeichnen.4 6) Erzählungen des Verlorenen. Im Hinblick auf die Thematik des Verlorenen gilt es noch einen weiteren Schritt hervorzuheben, den Hölderlin in seinen späten Gedichten geht, als er sich vermehrt der Gestalt Christi zuwendet. Der Verlust des Göttlichen ist ihm nicht mehr allein Chiffre für die Zusammenfassung und das Offenhalten der bisherigen Formen des Verlustes, sondern hat viel enger mit dem christlichen Narrativ selbst zu tun, in dessen Mitte sich eine Gestalt radikalisierten Verlustes findet. Das Zeichen des Kreuzes steht für einen Bruch, der in Gott selbst hineinreicht, und ist Symbol der Erinnerung und Treue allen Verstorbenen gegenüber. Überdies mündet die christliche Erzählung nicht in ein Schweigen, sondern sucht in jenem Bruch eine neue Sprache für den Menschen in seiner Verletzlichkeit zu finden. In der Passionserzählung des Johannes-Evangeliums spricht Jesus selbst dies aus, wenn er am Ende der Verhandlung bei Pilatus, als er bereits geschmäht im Königsgewand und mit Dornenkrone erscheint, über sich sagt: „Seht, da ist der Mensch!“ (Jo 19,5) Wenn nun aber der Bruch oder das Verlorene selbst der Ort ist, an dem sich das Göttliche und Menschliche zeigen können, ist nicht mehr das Motiv umfassenden Findens (Wiedereinbringung alles Verlorenen) das eschatologische Hoffnungsbild schlechthin, sondern gerade das Ablassen von diesem Phantasma. Dies bringt das Gedicht Patmos zum Ausdruck, welches in der Entwicklung des Christentums eine Geschichte des Verlustes benennt. Sie beginnt mit dem Tod Jesu, der den Verlust jedes unmittelbaren Zugangs zum Göttlichen bedeutet. Von der Predigt Jesu und der unmittelbaren Erinnerung an ihn geht vieles verloren und findet keinen Ort in den Erzählungen der Evangelien. Schließlich führt die Aufklärung in der Moderne zu einer Fragwürdigkeit der gesamten christlichen Überlieferung. Patmos antwortet darauf nicht mit dem Motiv der Wiedereinholung alles Verlorenen, sondern stellt dem ein anderes eschatologisches Bild gegenüber: Es ist der Wurf des Säemanns, wenn er faßt Mit der Schaufel den Weizen, Und wirft, dem Klaren zu, ihn schwingend über die Tenne. 155Ihm fällt die Schale vor den Füßen, aber Ans Ende kommet das Korn, Und nicht ein Übel ists, wenn einiges Verloren gehet und von der Rede Verhallet der lebendige Laut, 160Denn göttliches Werk auch gleichet dem unsern, Nicht alles will der Höchste zumal. (Patmos, VV 152-161)

Im biblischen Bild des Sämannes (Mt 13), der Korn (das Wort Gottes) auf die Erde sät, allerdings nur von einem Teil davon die Ernte einbringen kann, bzw. dem Bild der apokalyptischen Ernte (Off 14, 14-16) gibt das Gedicht eine überraschende Antwort auf die Dramatik des Verlorenen: „Und nicht ein Übel ists, wenn einiges / Verloren gehet […] Nicht alles will der Höchste zumal.“ Hier zeichnet sich der Gedanke eines Ablassens vom Phantasma der vollständigen Präsenz und gleichzeitigen Anwesenheit aller Dinge im Ewigen ab: „Nicht alles will der Höchste zumal.“ Es geht um eine Anerkenntnis des Kontingenten, das verloren geht, als Verlorenes, ohne dass dies aber in seine Nihilierung, d.h. in eine gänzliche Zerstörung seiner Bedeutung mündete. Dies verändert unseren Blick, der nicht mehr gebannt ist von der Totalität, sondern lernt, das Unscheinbare wahrzunehmen. Von hier ausgehend ließe sich eine gemeinsame Aufgabe für Kirche und Literatur benennen. Kirche kann als Gemeinschaft, die sich um die Erzählung Jesu herum bildet und diese Erzählung in je neuen Geschichten der Menschen fortschreibt, gesehen werden; Literatur als die Pflege eines Gedächtnisses mannigfaltig verschiedener Erzählungen und Eröffnung neuer Erzähllandschaften. Von einer letzten Erzählung aller Erzählungen, d.h. einem letzten Finden alles Verlorenen gälte es für beide Abschied zu nehmen zugunsten der Hoffnung auf eine je neue Eröffnung kontingenter,unvorhersehbarer Erzählungen des Menschlichen, die uns deshalb zu berühren vermögen, weil sie schwach und vom Verlorengehen bedroht sind. Solche Erzählungen wären heute dort zu finden, wo Menschen ihre Herkunft, Vergangenheit und Heimat verloren haben. Kirche und Literatur müssten eine Aufmerksamkeit für die Erfahrungen und Geschichten von Migrantinnen und Migranten entwickeln und zu einem Ort werden, wo sie in ihren Erzählungen zur Sprache und zur Schrift kommen könnten.

1) M. Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, 111.
2)  F. Hölderlin, Hyperion. Zweiter Band. Zweites Buch, in: F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp (Münchener Ausgabe Band 1), München/Wien 1992, 755.
3)  F. Hölderlin, Hyperion. Zweiter Band. Zweites Buch (Münchener Ausgabe Band 1), 757.
4) Dieser Impuls wurde besonders von der Dichtung ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Dierk Rodewald spricht in der Einleitung einer Zusammenstellung von Gedichten „an und auf Hölderlin“ die Vermutung aus, „dass sich in der produktiven Auseinandersetzung der Lyriker mit dem oeuvre des meist als exemplarische Dichterfigur begriffenen Friedrich Hölderlin so etwas wie eine lyrische Reflexion des jeweiligen Autors auf das dichterische Sprechen überhaupt erkennen lasse“ (D. Rodewald, An Friedrich Hölderlin. Gedichte aus 180 Jahren deutsch- und fremdsprachiger Autoren, Frankfurt am Main 1969, 7). Der umfangreichen Sammlung wäre als ein noch neueres Werk Scardanelli von Friederike Mayröcker (F. Mayröcker, Scardanelli, Frankfurt am Main 2009) hinzuzufügen. Scardanelli ist jener Name, mit dem Hölderlin zahlreiche seiner Turmgedichte unterschrieben hat.

Jakob Helmut Deibl
Ist Assistent am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und unterrichtet Religion am Stiftsgymnasium Melk. Er gehört dem Benediktinerstift Melk an.

Erschienen im etcetera Nr. 55 / verloren / März 2014