95 / Kafkaesk / Essay / Gerhard Strejcek: Kafkas letzte Monate in Berlin und in Niederösterreich

Die letzten drei Monate seines Lebens verbrachte Franz Kafka in den Sanatorien von Ortmann bei Pernitz und, nach einem kurzen Wien-Aufenthalt, in Kierling bei Klosterneuburg. Seine Lebensgefährtin Dora Dymant, mit der der Autor den Winter in Wohngemeinschaft in Berlin-Grunewald verbracht hatte, begleitete ihn zu seinen finalen Lebensstationen. Ihr Einsatz blieb, wie vorwegzunehmen ist, materiell unbedankt, weil das Pensionsrecht damals nur die Ehefrau als versorgungsbrechtigte Witwe anerkannte; so erlitt Dora neben dem Schmerz nach Kafkas Tod in der Nacht des 3. Juni 1924 auch noch die Demütigung, dass das Sterbegeld der öffentlichen Versicherungsanstalt, in der Kafka bis zu seiner Pensionierung 1923 gearbeitet hatte, seinen Eltern und nicht ihr zugeteilt und ausbezahlt wurde und sie auch keine Witwenpension erhielt.
Die ehemalige k.k. Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag war im Jahr 1918 in den neu gegründeten tschechoslowakischen Staat eingegliedert worden. Im Wesentlichen blieb aber der rechtliche Rahmen als öffentlich-rechtlicher Sozialversicherungsträger erhalten, lediglich das leitende Personal wurde durch slawischstämmige und Tschechisch sprechende Experten ersetzt. Tschechisch wurde fortan auch zur Korrespondenzund Amtssprache. Diese Tatsache hatte Kafka bis zu seiner Pensionierung in erheblichen Stress versetzt, obwohl er sich mündlich bestens in der Landessprache verständigen konnte; aber in der Schriftsprache war er mitunter unsicher und so half ihm Schwager „Pepa“ bei allen dienstlichen Schreiben. Zu Kafkas Glück hatten sich die Nachfolger der kooperativen und einfühlsamen Vorgesetzten, Direktor Robert Marschner und Abteilungseiter Eugen Pfohl, als ebenso zivilisierte und seinem Schreiben wie auch seinem Leiden gegenüber aufgeschlossene Beamte, somit als Menschen im qualitativen Sinn, erwiesen. Marschner dichtete auch selbst, wenngleich nicht auf dem Niveau eines Franz Kafka. Aber er war doch ein positives Beispiel eines musischen k.u.k. Beamten, der als treuer Ehemann seine Tochter liebevoll aufzog.
Kafka behielt seinen ungewöhnlich familiären Stil auch im Umgang mit dem neuen Direktor Bedřich (Friedrich) Odstrčil bei, sein letzter Brief an die „Anstalt“ datiert vom November 1923; Kafka berichtet, dass er in Berlin mitten im Grünen wohne, was seiner Gesundheit sehr zuträglich sei. Meist liege er zwar mit leichtem Fieber, aber die Umgebung fördere seine Heilung und er bitte den hochverehrten Ausschuss sowie den höchst löblichen Herrn Direktor, die Pension weiterhin in (harten) Tschechenkronen an die Eltern zu überweisen, da im Deutschen Reich die Inflation die Valuta auffressen würde. Tatsächlich galoppierte die Inflation in Berlin dermaßen, dass selbst eine Tasse Kaffee im Sommer 1923 einen Millionenbetrag in Reichsmark kostete, von Miete oder Steuerschulden nicht zu reden.
Kafkas Zustand war durch die fortschreitende Tbc, die damals nicht effektiv behandelbar war, bereits hoffnungslos. Die Erkrankung, die erstmals im Kriegsjahr 1917 diagnostiziert wurde, hatte auf den Kehlkopf übergegriffen und verursachte schmerzhafte Schluckbeschwerden. Die brachiale, laryngologische Behandlungsmethode mit Benzininjektionen in den befallenen Teil des Kehlkopfs und die umgebenden Schleimhäute war äußerst schmerzhaft und nicht nachhaltig. Dennoch versuchte der Wiener Primarius für Laryngologie, Prof. Marcus Hajek, Schwager von Arthur Schnitzler und von der ganzen Schnitzler-Familie misstrauisch beäugt und seit 1919 Klinikchef, diese einzige, damals bekannte Therapie. Doch schon nach wenigen Tagen empfahl er das Hospiz, Kafka war „austherapiert“, wie man heute sagen würde. Kurzfristig wurden zwar einige Tuberkel durch das höllisch brennende Benzin abgetötet, aber die Infektion nicht von der Wurzel her beseitigt, wie das eine moderne antibiotische Therapie ermöglicht hätte.
So musste Kafka, der im April 1924 nach Kierling in das Sanatorium Hoffmann überführt wurde, weiter leiden und er konnte sich in den letzten Wochen nur mehr mittels Gesprächzetteln mit der opferbereiten Freundin Dora und dem Helfer und Arzt Dr. Robert Klopstock unterhalten. Meist ging es um Handreichungen, aber zwischendurch bat Kafka schriftlich darum, die Pfingstrosen zu wässern. Ihm erging es wie einer dürstenden Pflanze, die nicht genug Wasser erhalten konnte, weil jede Bewegung des Kehlkopfes, vor allem das unwillkürliche Schlucken entsetzliche Schmerzen verursachte; das ließ ihn auch emotional nicht unberührt, Kafka hatte Angst vor dem Ende. Dem Vater, der ihn besuchen kommen wollte, schrieb er, wie gerne er doch ein Pilsener mit ihm leeren würde, wie einst in der Prager Schwimmschule. Keinesfalls wollte Kafka, dass seine Eltern ihm beim Sterben zusahen, doch seine Reminiszenzen waren ganz aufrichtiger Natur und er unterdrückte die vielen Konflikte, die er mit dem Vater, der aus ihm einen geschäftstüchtigen Advokaten und Gesellschafter einer Asbestfirma machen wollte, ausgefochten hatte. Die gemeinsamen Besuche in der Moldau-Schwimmschule zählten zu den ganz seltenen Ereignissen, in denen Vater und Sohn einander verstanden und auch einige Zeit ohne Streit oder die autoritären Anweisungen seitens des Fleischhauersohnes Hermann Kafka miteinander verbrachten. Ansonsten aber war der Vater ständig auf Achse gewesen, was in seinem Fall bedeutete, dass er mit dem Ein- und Verkauf, der Buchhaltung und der Kostenberechnung seiner Galanteriewaren beschäftigt war; zudem fühlte er sich stets von seinen Angestellten hintergangen, die er mit einem bemerkenswerten Bonmot „bezahlte Feinde“ nannte.
Nun aber, zu Pfingsten 1924, lag Kafka, der immer noch Texte korrigierte, wie jenen der gesangskundigen Maus Josefine, die sich für etwas Besseres hält, hilflos wie das von ihm in der „Verwandlung“ geschilderte Insekt in seinem Bett im Sanatorium Hoffmann in Kierling. Sein Blick schweifte aus dem Fenster in den Garten, wo die Pfingstrosen blühten; gleich dahinter begann der sagenumwobene Naturpark Eichenhain, in dem der Gendarm Adolf Robl von einem Wegelagerer erschossen worden war. Was mochte sich hinter dem Hügel jenseits des Baches verbergen?
Kafka kannte den Höhenweg nicht, der sich vom Oberen Klosterneuburger Stadtfriedhof über das Schwarze Kreuz und den Haschhof bis zur Hohenauer Wiese erstreckt. Klosterneuburg selbst hatte er mehrfach bei seinen Bahnfahrten vom Prager Franz-Josephs-Bahnhof zum Wiener Franz-Josephs-Bahnhof passiert. Als seine Schwester Ottla einen landwirtschaftlichen Betrieb gründen wollte, empfahl Kafka ihr zwecks Ausbildung die Pomologisch-Önologische Anstalt in Klosterneuburg, sie sei die beste in der k.u.k. Monarchie, so Kafka. Damals konnte er weder ahnen noch wissen, dass er nur einige Kilometer vom Stift und der im typischen k.u.k. Baustil errichteten Anstalt, in dem sich alle Amtsgebäude, Gerichte Schulen und Kasernen der schwarzgelben Monarchie ähnelten, sterben würde. Kafka verstand Einiges vom Gärtnern und vom Obstbau, hatte er sich doch in Nušle, einem Prager Vorort, als Helfer in einer Gärtnerei verdingt. Zwar musste er sich dort Gruselgeschichten aus der Familie anhören, aber die Arbeit an der frischen Luft ging im leicht von der Hand. Wie schade, dass diese auch therapeutisch sinnvolle Maßnahme ihm nicht zu dauernder Gesundheit und Heilung verhalf! Zeitgenossen, wie sein Freund, der Arzt und Autor Ernst Weiss, der sich als Schiffsarzt anstellen ließ und Katia Mann, der Gattin des Lübecker Autors, die im Graubündener Kurort Arosa unweit des „Zauberbergs“ kurte, vermochten die Tbc zu besiegen, aber Kafkas Körper erwies sich als zu schwach, wie er selbst frühzeitig ahnte.
Kafka hat sich in Wien zumindest einen Tag lang in denselben Räumen aufgehalten wie mein Urgroßvater Robert Scholtze. Sie stehen beide auf der Teilnehmerliste eines Kongresses zum Thema „Unfallverhütung“. Kafka reiste damals im Jahr 1911 mit seinen Vorgesetzten Direktor Robert Marschner und dem Abteilungsleiter Eugen Pfohl nach Wien und hielt auch ein Referat; im Bericht der Arbeiter- Unfallversicherungsanstalt für das Kgr. Böhmen in Prag äußerte er sich kundig über Hobelwellen und garnierte seinen Aufsatz auch mit Skizzen und Fotografien. Der Urgroßvater Robert, zugleich Vater meiner Großmutter Louise Scholtze, verehelichte Strejcek, sowie zweier weiterer Töchter (Mia und Eva) nahm an dem Kongress im Parlamentsgebäude, das damals noch Reichsratsgebäude hieß, als Direktor der Wiener Bezirkskrankenkasse teil. Auch ihm lag daran, Neues zum Thema Unfallverhütung und Prävention zu erfahren, weil die Verstümmelungen in der Arbeit damals in erschreckender Weise zunahmen. Schuld daran waren die zahlreichen, von Wasserkraft- oder Dampf betriebenen Schaufelräder oder Turbinen, die mittels Transmissionsriemen, die oft scharfkantigen Hobelwellen, Hämmer, Sägen und Messer in den Werkstätten und Fabriken antrieben. Oft fehlte es an Abdeckungen oder Notschaltern, und das Uglück nahm seinen Lauf. Der andere Urgroßvater, ein gewisser Heinrich Strejcek, Tischler in Wien-Sechshaus, Clementinengasse 10, wusste um die Gefahr dieser automatischen Hobeln und Sägen und ließ meinen Vater, seinen Enkelsohn, nie in seine Werkstatt ins Souterrain unweit des Sechshauser Turnvereins und des Turnertempels hinabsteigen. So hatten beide Vorfahren ihre spezifische „kafkaeske“ Umgebung.
Als Kafka in Kierling verstorben war, wohl nach unsäglichen Qualen, gelindert durch das Morphium, das Dr. Klopstock wie versprochen als Sedativum einsetzte, ging alles sehr schnell. Schon am nächsten Tag brachte ein Karren die sterblichen Überreste zum Kierlinger Bahnhof, denn der pensionierte Beamte der AUVA sollte in Straschnitz am neuen Jüdischen Friedhof beerdigt werden. Kafkas Freund Max Brod trauerte um seinen Studien- und Reisegefährten, aber selbst im Nachruf auf den Freund, den er 1902 in der Lesehalle kennen gelernt hatte, musste der zum Testamentsvollstrecker bestimmte Brod pietätloser Weise Werbung für ein Werk von ihm selbst machen, er konnte einfach nicht anders und fand nichts dabei. Milena Jesenská widmete ihrem Gefährten des Jahres 1920, als sie mit Kafka quer durch den Neuwaldegger Park und den Wienerwald wanderte und ihn dann in ihre Wohnung in der Lerchenfelderstraße einlud, einen berührenden Nachruf. Und der erst 28jährige Johannes Urzidil, der Kafka dann fiktiv untertauchen und als Gärtner in New York anonym weiter leben ließ – eine schöne Vision – nahm ebenfalls Abschied von seinem literarischen Vorbild. All dies ist wohlbekannt und bis auf die hier unauffällig in den Essay hinein geschmuggelte, aber wahre Begebenheit mit dem eigenen Urgroßvater Robert Scholtze, der beim Kongress vielleicht unabsichtlich an Kafka am Ausgang des Abgeordnetenhauses am Franzensring angestreift war, in zahlreichen biografischen Beiträgen nachlesbar.

 

Gerhard Strejcek
Geb.1963 in Wien, ao. Professor für Staatsrecht, Kulturpublizist und Kafka-Leser. Autor des kleinen Buches „Franz Kafka und die Unfallversicherung“, WUV/Facultas 2005. Zuletzt erschienen: „Ein Dresdener Pfarrer in Wien. Paul Zimmermann und die evangelische Gemeinde 1875—1925“, Frank&Timme, Berlin 2023