95 / Kafkaesk / Essay / Janko Ferk: Kafkaesque

Für Gerhard Strejcek, der diese Geschichte angeregt hat.

Ich weiß nicht, wer, das heißt, welcher jemand, aber es muss entweder die Verwaltung oder gar Redaktion der Weltliteraturzeitschrift Undsoweiter gewesen sein, die in den – schon jetzt unendlichen und dennoch unverzagt weiterwachsenden – Weiten des zusammengeschalteten Netzwerks beziehungsweise körperlosen Netzes meine digitale Anschrift gefunden hat.
Der Fund meiner digitalen Adresse im sogenannten Netz, und ein solcher ist es, mag daran gelegen sein, dass mich meine Frau, eine mit großem Enthusiasmus praktizierende Germanistin, im Sommer 2019 vor dem Grab Doktor Franz Kafkas in Prag fotografiert und mein Verlag aus Graz die Aufnahme noch am selben Tag, eigentlich in der Sekunde, netzgerecht weltweit publiziert hat oder mögen es sogar meine Bücher über den Meister gewesen sein, die Undsoweiter und ihre Redaktionsoderverwaltungsmenschen auf mich aufmerksam gemacht haben. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute noch irgendjemand meine rechtsphilosophische Dissertation über das Romanfragment „Der Prozess“ aus grauer Vorzeit bewusst beziehungsweise mit Wissbegierde zur Kenntnis nimmt.) Es würde mich keineswegs stören, wenn das Grabporträt die angesehene Literaturzeitschrift dazu angeregt hätte, mich als den Kafkologen wahrzunehmen und mich zur schriftlich-literarischen Mitarbeit für ein sogenanntes Schwerpunktheft ein- und im Netz hochzuladen. Wie auch immer.
Aus den zitierten Weiten habe ich, der – von mir aus eigener Machtvollkommenheit – zertifizierte Kafkologe, also am 1. November 2023 eine digitale Nachricht Undsoweiters
erhalten. Kurz und gut, ich wurde eingeladen, nicht freundlich oder sonst irgendwie, sondern einfach eingeladen, einen Kafkaesk-Aufsatz zu verfassen, was ich seit ungefähr fünfundvierzig Jahren grundsätzlich und gern, meist ohne einen Honoraranspruch, mache. Ich kann und will die freundliche Einladung an dieser Stelle schwarz auf weiß, andere farbliche Möglichkeiten, gemeiniglich auch Nuancen beziehungsweise Abschattungen genannt, stehen mir in diesem Augenblick nicht zur Verfügung, festhalten.
Die Stelle geht so:

Zum Thema: KAFKAESK
100 Jahre ohne Kafka!
Einsendeschluss: 15.03.2024
Redaktion: Stefan H. und Eva R.
Heftkünstler: Josef E.

Naturgemäß habe ich mich über die Einladung gefreut. Und wie. Sehr. Doch dann ist etwas geschehen. Nebenbei bemerkt, ich kenne weder die Undsoweiter-Redaktion noch -Verwaltung. Wegen der Vollständigkeit gestehe ich, dass ich mich nach den beiden nicht erkundigt habe.
Am 7. November 2023 erhalte ich eine weitere digitale Nachricht, in der von Irrtum und Berichtigung und so weiter die Rede war. Man habe sich geirrt, ohne Arglist und so weiter, aber doch, nämlich im Datum und so weiter.
Jetzt und auf einmal hieß es in der zitierten Stelle folgend – und man beachte nicht die Namen, sondern ausschließlich das Datum, wobei die ganze Aufmerksamkeit gefordert wird:

Zum Thema: KAFKAESK
100 Jahre ohne Kafka!
Einsendeschluss: 15.12.2023
Redaktion: Stefan H. und Eva R.
Heftkünstler: Josef E.

Und da habe ich mich berechtigt zu fragen begonnen. Gibt es Undsoweiter überhaupt? Ist es nicht nur ein Netzgespinst oder -gewirk beziehungsweise Netznetz? Ich wusste es nicht. Auf einmal, wie gesagt, tauchten Fragen auf.
Ist die Einladung ein Ereignis à la Franz Kafka? Ist es womöglich eine Inszenierung? Werden die eingeladenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, allesamt große Wortkünstler, auch ich, gar im Ungewissen und Unklaren gelassen? Im Halbdunkel? Im Nebel?
Fragen über Fragen …
Ich habe – bei mir und für mich – munter weitergefragt. Gibt es die Undsoweiter-Redaktion überhaupt? Wird sich herausstellen,dass es eine angebliche Redaktion in der Stadt Pö, im Netz Poe genannt, nicht gibt? Dass eine Josef-K.-Gasse, wie ein weiteres Adressendetail (angeblich) lautet, im Stadtplan nicht auffindbar ist? Dass die Dachböden, auf denen die Undsoweiter-Büros allenfalls untergebracht sind, völlig leer sind oder gar einer Gesellschaft nicht nur zur Unterdrückung der Zukunft, sondern der Literatur überhaupt, dienen? Ist alles imaginär, Stadt, Adresse, Büro sowie Undsoweiter?
Dieser Fragenkatalog hat mich dermaßen vor den Kopf gestoßen und zermürbt, dass ich mir gesagt beziehungsweise mich beschworen und mir geschworen habe, an die digitale Undsoweiter-Netzadresse nach meinen unzähligen keinen weiteren Kafka-Aufsatz zu schicken, um nicht letztlich vor irgendwelchen Gesetzeshütern mit der in meinen Quartheften konzipierten – und von meiner Frau, wie zu allen Zeiten, erstgelesener – Geschichte in der Netzwerkwelt zu scheitern, da die Gesetzeshüter meine Schrift ablehnen könnten und würden. Der Meister aus Prag möge mir mein Zögern verzeihen. Ich tue damit nichts Böses und hoffe, nicht eines Morgens auf Betreiben der Zeitschrift verhaftet zu werden, weil ich Undsoweiter nicht getraut habe.
Ich habe mich entschlossen, für das Kafkaesk-Heft keinen Beitrag zu liefern, da er sich allenthalben im digitalen Netz-Nichts verlieren könnte. Und so weiter. …

1 Übersetzung des Worts kafkaesk in verschiedene Sprachen, darunter die englische.

 

Janko Ferk
Schriftsteller, Honorarprofessor an der Universität Klagenfurt/Univerza v Celovcu und Jurist. Er ist ein international renommierter Kafkologe. Für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Zuletzt erschien seine Erzählung „Mein Leben. Meine Bücher“ (2022).

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Janko Ferk am Grab Franz Kafkas Prag, Neuer Jüdischer Friedhof, 26. August 2019.
Janko Ferk am Grab Franz Kafkas Prag, Neuer Jüdischer Friedhof, 26. August 2019.