95 / Kafkaesk / Editorial / Stefan Harm: 100 Jahre ohne Kafka

Es gibt wohl keinen deutschsprachigen Schriftsteller, der lebendiger ist als Franz Kafka – obwohl dieser am 3. Juni 1924, genau einen Monat vor seinem 41. Geburtstag, im Sanatorium Hoffmann in Kierling nach langem Leiden an den Folgen der Tuberkulose gestorben ist. Somit steht in diesem Jahr der 100. Todestag eines Ausnahmeschriftstellers in den Kalendern – und man soll die Feste feiern, wie sie fallen, wenngleich wir selbstverständlich nicht die Tatsache seines viel zu frühen Abgangs zelebrieren, denn abgegangen ist er bloß in seiner physischen Form; seine Texte aber, Seelen aus Papier und Tinte, die sind geblieben und konnten erst später richtiggehend aufleben.

Kafka selbst veröffentlichte nur wenig, dennoch war er bereits zu seinen Lebzeiten ein angesehener Autor. Berühmtheit erlangte der aus einer jüdischen Familie stammende Prager erst viele Jahre nach seinem Tod. Er hinterließ ein Werk, das er, wenn man seinem Testament Glauben schenken wollte, in beträchtlichem Ausmaß am liebsten vernichtet gesehen hätte. Es war Max Brod, enger Freund und Nachlassverwalter Kafkas, der sich diesem Wunsch widersetzte und damit so bedeutende Werke wie das Romanfragment „Der Prozess“ für die Nachwelt erhielt.

Eine breitere Rezeption begann erst ab den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts und sie sollte ungeahnte Dimensionen annehmen, weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus. Tatsächlich begann sie im Ausland, vor allem in den USA, schon früher als in Österreich oder Deutschland. Schließlich waren Kafkas Bücher – wie alle jüdischen Werke – in der NS-Zeit verboten. (Das kommunistische Regime der Tschechoslowakei war auch nicht von ihm angetan, somit dauerte es gerade in seiner Heimat noch länger, bis er unzensuriert gelesen und honoriert werden konnte.) Trotzdem: Über Kafka und seine Texte wurde (und wird) derart viel geschrieben – wahrscheinlich ist dies bei keinem anderen Vertreter der modernen deutschsprachigen Literatur der Fall, sicher aber ist die Masse an Sekundärliteratur bezogen auf Kafka – quantitativ – deutlich größer als sein literarisches Werk.
Infolge der zunehmenden Popularität tauchte alsbald das Wort „kafkaesk“ auf. Wer im Duden sucht, findet dort seit den 1970ern folgende Begriffserläuterung, nämlich, dass darunter „in der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich“ zu verstehen ist.

Zunächst war „kafkaesk“ eine Bezeichnung für Merkmale eines literarischen Textes, die Ähnlichkeiten mit Kafkas Schreiben aufwiesen oder typische Wesenszüge aus seinen Werken nachahmten. Bei Thomas Anz erfahren wir, dass sich dieser Begriff bald auf außerliterarische Sachverhalte bezog. Er stand (und steht) für „Situationen und diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung, des Ausgeliefertseins an unbegreifliche, anonyme, bürokratisch organisierte Mächte, der Konfrontation mit Terror, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit, mit innerer Düsternis, Schuld und Verzweiflung“ (Thomas Anz: Franz Kafka. Leben und Werk. Beck, München, 2009, S. 14).

Diese Flut an – nennen wir es ein wenig beschönigend – nicht sonderlich freudigen Situationsbeschreibungen und Gefühlszuständen trifft auf Kafkas Werke und seine Protagonisten zu. Sie sind geprägt vom erdrückenden Zustand des Ausgeliefertseins, vom Umstand, in unheimliche Konstellationen hineingeworfen zu werden, von Schuld und Verzweiflung angesichts ungleicher und unergründlicher hierarchisch-bürokratischer Beziehungen. Es sind surrealistische, tragisch-komische Geschichten, die sich nie endgültig deuten lassen oder gar zu verstehen sind. „Kafkaesk“ hat sich als Begriff im Laufe der Zeit dahingehend gewandelt, solche Umstände zu charakterisieren. Meist wird damit weit außerhalb der Literatur etwas Absurdes beschreiben, das zudem unheimlich und rätselhaft erscheint. Manche verwenden das Adjektiv allerdings bloß, um etwas zu beurteilen, das sie einfach nicht genau verstehen, aber es dabei belassen möchten. Doch nur, weil sie sich nicht die Mühe machen wollen, etwas zu ergründen, heißt das noch lange nicht, dass es auch „kafkaesk“ ist. Bei „kafkaesk“ handelt es sich auch nicht um ein bildungsbürgerliches Gewürz, das zwecks Aromatisierung bei Bedarf in eigene Texte oder Gespräche gestreut werden kann. Allerdings: Wahrscheinlich haben sich der Bedeutungswandel und die Bedeutungsvielfältigkeit bereits so verselbstständigt, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen sind.

Kafka erlebte massive gesellschaftliche Umbrüche: das Erstarken der Nationalismen, den Ersten Weltkrieg, den Zerfall der Habsburger-Monarchie sowie die Ungewissheit, die Anspannung und den Schrecken in diesen Zeiten. Neben seinen privaten wie beruflichen Turbulenzen fand auch die Grundstimmung dieser Zeit Eingang in sein Schreiben. Wenn wir auf die vergangenen 100 Jahre, diese 100 Jahre ohne Kafka, zurückblicken, stellen wir fest, dass sich die Welt noch drastischer verändert hat. Den Zweiten Weltkrieg und den unverstellbar grausamen Vernichtungskrieg gegen alles Menschliche musste Kafka nicht mehr miterleben, allerdings wurden seine Schwestern Opfer der nationalsozialistischen Ermordungsmaschinerie. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Welt neu geordnet, doch es dauerte nicht lange, bis der nächste Krieg, wenn auch kalt serviert, auf dem Tisch lag. Ungeheurer technischer Fortschritt brachte zwar gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfolge hervor, doch ebenso nukleares Wettrüsten, das als Damoklesschwert über der Menschheit schwebte – und bis heute schwebt es über uns. Wer gedacht hatte, dass nach dem Untergang der Sowjetunion ein neues Zeitalter käme, musste bald feststellen, im Irrtum zu sein. Auch Kriege waren nie vom Antlitz der Erde getilgt, es wurde oft einfach nicht hingeschaut. Jetzt ist es nicht mehr möglich, die Augen zu verschließen. Es ist schon längst da, das Gefühl, dass sich die Welt, die Menschheit, in einem Labyrinth verlaufen hat und darin ständig dieselben düsteren Wege beschreitet. Überwachung, Desinformation und Manipulation haben ein neues Ausmaß erreicht. Technische Möglichkeiten, die so abstrakt und surreal schienen, sind längst Realität geworden und haben sich in unseren Alltag geschlichen. Der Planet erhitzt sich, nicht nur die Atmosphäre. Überall herrscht Unverständnis und gegenseitiges Misstrauen. Seit Kafkas Tod vor 100 Jahren ist viel geschehen. Brauchen wir in diesen Zeiten also noch die Literatur eines Franz Kafkas? Nein. Allerdings braucht es viele Dinge nicht – ebenso wenig diese Fragestellung. Wer in Kafka jemanden mit prophetischen Zügen sehen will, jemanden, der die Verfasstheit der Welt – im Gegenwärtigen wie ins Zukünftige gedacht – vom eigenen Innern heraus beschrieb, kann das gerne machen. Wer ihn als von abartigen Ideen besessenen Gestörten betrachten und sonst nicht weiter beachten will, soll das ebenso dürfen. Kafkas Werk ist vielfältig zu deuten, es verweigert sogar jede Eindeutigkeit. Je mehr man versucht, es einzufangen und auf einem Punkt festzuhalten, umso leichter entwischt es einem und läuft in eine ganz andere Richtung. Es ist ein Fangspiel, das man nicht gewinnen kann. Es ist anziehend und abstoßend zugleich. Das macht wahrscheinlich zu einem beträchtlichen Teil diese ungebrochene Faszination an Kafkas Texten aus. Für viele Menschen begründet das auch die Notwendigkeit Kafkas. Das nur zu erahnende Unheimliche wohnt in jedem und die meisten Dinge sind uns unverständlich. Doch nicht alles ist ausweglos. Das sollten wir bei Kafka belassen. Alles kann sich ändern, sich verwandeln – es muss nicht in ein Ungeziefer sein.
Auch das hat Kafka schon für uns erledigt.

 

Stefan Harm
Geboren in St. Pölten; wohnt und arbeitet ebenda; studiert/e Germanistik und Lehramt (Deutsch/Mathematik) an der Universität Wien; schreibt vor allem Prosa; ist Kassier der LitGes und Redakteur dieses Heftes.