Sonderheft/ St. Pöltner Hyperbeln, Michael Ziegelwagner

etcetera Sonderheft/Juli 06/Stadt.Stimmen
ST. PÖLTNER HYPERBELN

mit Pathos vorzutragen
Michael Ziegelwagner

I.
Wenn ich an St. Pölten denke, denke ich an den Weg zum Bahnhof.
In der Erinnerung ans Gehen ist man immer zu schnell unterwegs, der Kopf will der erinnerten Bewegung vorgreifen, man überspringt, ist schon am Ziel, wo man in der Realität erst drei Schritte gemacht hätte – also langsam. Ich zügle mich. Schulgasse, Schreinergasse, Kremsergasse, sie wollen in gemessenem Tempo durchschritten werden. Aber da: hinterrücks glitzern einzelne Stationen auf, Buchladen, Café, Eisgeschäft – wollen bevorzugt behandelt werden, konkurrieren um einen festen Platz im Gedächtnis. Mit welchem Recht, frage ich? Worauf können sie sich berufen, diese Orte, außer auf die Zufälligkeit meiner Kindheitserlebnisse? Man sollte doch annehmen, renommierte St. Pöltener Betriebe sind nicht auf Präsenz in meinem Gehirn angewiesen – ausgerechnet in meinem. Na, ich bin demokratisch. Jeder kriegt ein paar Zehntelsekunden des Gedenkens. Gesonderte Erinnerung gibt’s nicht, man soll sein Geschäft gefälligst in anderen Gedächtnissen zu Ewigkeitsmomenten erstarren lassen; ich nehme an, die Auswahl an St. Pöltener Kinds-Köpfen ist groß genug.

II.
Also: der Weg von der Schule zum Bahnhof. Ich gehe ihn gedanklich, er ist mir vertraut. Gewöhnung erzeugt bei manchen Menschen Zuneigung. Bei mir nicht.
Hundertmal bin ich stehen geblieben, habe meinem Atem nachgeschaut: er steigt die Mauern hoch, ohne sie zu überwinden. Wo früher der Copy-Shop war, ist jetzt – ja, was denn? Das Restaurant hat einen anderen Besitzer und einen eher blöden Namen, aber nicht blöd genug, um ihn mir zu merken. Die Galerie wechselt ihr Auslagenarrangement. Gut, es verändert sich etwas über die Jahre, zugegeben – aber zu wenig, die Grundfesten bleiben, unverrückbar, begrenzen den Gehenden, halten ihn in der Bahn, sie schlucken ihn an der Schule und spucken ihn am Bahnhof wieder aus, wie eine Flipperkugel – zu oft gegangen, hat dieser Weg einen Sog entwickelt, ihn immer wieder zu gehen, aufwärts, abwärts – und selbst, wenn man es schafft, abzubiegen: in St. Pölten hat man immer das Gefühl: egal, wohin man geht, man kommt nirgends an, in einer Stunde ist man wieder dort, wo man weggegangen ist – Spazierengehen ja, Fortbewegung nein, unabschüttelbar war alles schon einmal da und kommt immer wieder – schon wieder. Heimat, das ist Endlosschleife.

III.
Auch das gebe ich zu: De literarische Verächtlichmachung der Heimat, das ist eine ganz billige Masche – aber was kann ich dafür, wenn es einem St. Pölten so leicht macht?
Für eine mittlere Eisenbahnerstadt ist es ganz in Ordnung. Seinen Reiz entfaltet es als zweiminütiger Bahnaufenthalt zwischen Wien und Linz, nach Ende der zwei Minuten ist der Reiz aufgebraucht. Aber die Stadt drängt unbedingt nach Höherem. Landeshauptstadt St. Pölten – diese zwei Wörter brauchen keine Pointe.
Früher war’s lustiger. Da gab’s wenigstens Bischof Krenn. Barock wie die Altstadt in Lebensart und Ausdrucksweise, im Geiste noch älter, hielt er St. Pölten im Gespräch, ließ medienwirksam gegen sich demonstrieren, holte den Papst und schaffte Schönborn an, das Maul zu halten.
2004 sein Glanzstück: St. Pölten wird Weltstadt, Metropole der Bubendummheiten. Heimatwerbung bizarr! Die Landeshauptstadt in der US-Presse! Doch Krenn musste gehen. Realitätsverweigerung warf man ihm vor. Als wäre es nicht im Gegenteil konsequent, seine ganz spezielle Wahrheit zu kreieren. Wenn das heliozentrische Weltbild ein halbes Jahrtausend braucht, um in der katholischen Kirche anzukommen, wird das Leugnen von schwulen Priestern wohl noch gestattet sein.
Krenns Nachfolger auf dem Bischofsstuhl ist ein Vorarlberger Asket. Seither hat das überregionale Interesse an dieser Stadt stark nachgelassen.

IV.
Inzwischen sickert die Kremsergasse in die Schreinergasse. Hier sieht man zum Rathausplatz – ich sehe ihn in Gedanken, aber ich verlasse den Weg nicht.
Ungefähr auf dieser Höhe, am täglichen Weg zum Bahnhof, habe ich damals den Entschluss gefasst, nie der Schulnostalgie anheim zu fallen. Meine Abscheu habe ich fest in mir konserviert, jederzeit abrufbar. Allzu verdächtig war mir damals das Schwärmen aller Alten gewesen, sie hätten die Schulzeit genossen, so schön sei’s nachher nie mehr gewesen. Ich bin froh, es hinter mir zu haben. Sie beschmeißen einen dort mit Wissen, jeder ist sich selbst der Wichtigste, und schließlich steckt man bis zum Hals drin. Dann die Reifeprüfung: Jetzt lassen die Lehrer locker. Zum ersten Mal beschleicht sie selbst Angst, ihre Schüler könnten durchfallen. Sie, mit denen man immer um Noten gerungen hat, die jahrelang aussortiert, bewertet und verworfen haben, verbrüdern sich plötzlich mit einem. Ganze zwei Professoren darf ich heute mit dem Vornamen ansprechen: den für Bildnerische Erziehung – und den für Religion. Aber genug – auf meinem gedanklichen Wanderweg taucht bereits das Café auf.

V.
Irgendwann habe ich entschieden, es als mein St. Pöltener Stammcafé anzusehen. Ich sitze in der Ecke, immer. Gegenüber sitzen die alten Damen vor ihrem Weißwein, am Vormittag. Aus dem Nebenzimmer höre ich die launigen reaktionären Sprüche und fühle mich wohl. Die Kellnerinnen behandeln mich mit gebremster Geduld. Das ist auch das einzige Café, in dem ich die Niederösterreichischen Nachrichten lese, die übrigens ihren Sitz auch in St. Pölten haben und deren redaktionelle Vorgabe es ist, alle lebenden Niederösterreicher auf Gruppenfotos zu zwängen. Das Blatt ist im Kirchenbesitz und prölltreu, in den Karikaturen kommen stets die Roten schlecht weg. Trotzdem war mir damals, als ich für die NÖN fotografierte, ein Witzchen nicht gestattet, das auf die endlose Amtszeit von Bürgermeister Gruber anspielte. „Gruber (72) führt durch St. Pöltener Rathaus (500)“, schrieb ich anlässlich des Rathausjubiläums. Gruber ist auch schon weg, schade.

VI.
Über St. Pölten zu jammern macht mir keinen Spaß mehr. Ich bin gedanklich am Ende der Kremsergasse angekommen, ich sehe bereits den Bahnhof, diesen Abenteuerpark für Gehbehinderte. Ich mag das Jugendstilhaus an der Ecke: trotzdem verfalle ich, wenn ich hier vorbeikomme, in meine alte Phantasie, die Zerstörung St. Pöltens. Wie der kleine Waisenknabe, der einen Blick in seine Zukunft als Milliardär machen darf, sehe ich mich selbst am Steuer eines wunderschönen Seilbaggers, vor mir schaukelt die Abrissbirne, und dann fahre ich mit Schwung den ganzen Weg vom Bahnhof zur Schule zurück und reiße die Mauern ein. Am Ende stehe ich am Dach des Bahnhofs und sehe bis in den Südpark, und es gibt keine Gebäude mehr, die mir den Blick verstellen.
Das wird ein Traum bleiben, aber träumen darf man ja. Ein destruktiver Traum, das schon – ein sehr persönlicher Traum, und vielleicht können ihn manche nicht nachvollziehen oder sind betroffen davon, und darum höre ich an dieser Stelle auf mit dem ewigen Thomas-Bernhard-Scheiß. Ganz abrupt.

Biographie: Michael Ziegelwagner

Geb. 1983 in St. Pölten; dzt. Student an der FH Wien (Journalismus). 2. Preis beim Satirewettbewerb der Akademie Graz für die Ballade „Poulet-Vous, Madame?“, 2002. 2004 Uraufführung des Stücks „Die Fahrt“ im Rahmen der Reihe FührDichAuf auf der Bühne des Cinemagic Wien (Ziegelwagner spielt zugleich eine der beiden Rollen selber). Veröffentlichungen in etcetera und Lichtungen sowie in der Anthologie „Fantastisches Österreich“ (2006).