92/LitArena XI/Siegertext 3. Platz: Leonie Groihofer: Zwischenstoff

Leonie Groihofer
Zwischenstoff

Fingerrücken an Baumwollstoff. Härchen an Härchen, Faser an Faser. Ich streiche behutsam über Faltenrundungen, schreite auf Mokassinfüßen durch Kleiderwälder. Halte probeweise meine Wange hin, warmes Rieseln bis in meinen Bauch hinunter. Ich kenne mich aus. Weiß, dass ich Vorsicht walten lassen muss. Wer zudrückt, den Stoff dingfest macht, zarte Falten verkleben lässt, der zerstört den Zauber, der gräbt mit dem Stock im Ameisenhaufen, der macht Wunder zunichte. Stickig ist es im Kleiderwald, überwarm in meinen Schneestiefeln. Mama schaut sich nach mir um, holt mich aus dem Wald heraus, sagt zur Verkäuferin, wir müssten gehen, ich hätte Hunger. Diskreter Abschied vom rotgescheckten Blumenkleid.
Schulter an Schulter, nur ein bisschen Luft dazwischen. Sie reicht aus, um das Kitzeln zu spüren, wenn mein Unterarmseinen berührt. Ganz kurz nur, sodass man gar nicht weiß, ob es wirklich passiert ist, ob es bloß ein blondes Härchen war, das ein anderes gestreift hat. Wir schauen beide auf den kleinen Bildschirm, den er in seinem Schoß hält, und nur er ist es, der spielt. Längst habe ich die bequeme Bescheidenheit der Zuschauerin angelegt, das Zappeln abgelegt, mit dem die Jüngere darauf wartet, zum Zug zu kommen. Wer nur zuschaut, bleibt unangreifbar. Bleibt schön. Bleibt auf verquere Weise überlegen, er meinem Blick ausgesetzt. Er scheut ihn nicht, muss ihn nicht scheuen, auch nicht bei seinen Niederlagen, warm bleibt die Luftschicht zwischen unseren Armen. Wir sitzen im sonnengetränkten Zimmer, es riecht nach Frühlingsabendluft. Schwarze Pixel zeichnen das Monster, das er bekämpfen muss. Ich hoffe, er möge noch nicht so bald gewinnen.
Meine Spaghettiträgerarme streifen wie zufällig, so zufällig, dass es auch für mich nur Zufall sein kann, an den weiten kurzen Buben-Ärmeln entlang, in den vertrubelten Gängen des Schulgebäudes, dunkelgefliest, abwaschbar. Ich lasse mich nicht erwischen. Ich kann es nicht lassen. Bin auf der Suche nach dem Ärmelgefühl, nach dem kleinen Glück, das mich durchströmt, wohliger noch als bei ergiebigem Nasenbohren oder beim ersten Schluck vom heißen Kakao, der den Mund mit Samt auskleidet. Bringe es nicht in Verbindung mit den plötzlich aufgetauchten Worten, die die Buben einander wie Trophäen reichen, die man verstehen muss, nicht erfragen darf. Die auch die anderen Mädchen zu verstehen scheinen, zu durchschauen vermögen, und sogar ich sehe die Grenze, die gezogen wird, den Spalt, der sich auftut.
Einstweilen lasse ich meine Handfläche noch sanft, so sanft über den weichen Stoff meines Rocks gleiten, meines weiten, zu weiten, bald wird er kürzer, bald wird er enger werden. Bald werden Ärmel an meiner Nasenspitze, auf meiner Augenhöhe sein. Bald werde ich die Luft dazwischen nicht mehr achten, werde sie einatmen, wegatmen, beiseite schieben. Werde unter Ärmeln Schultern finden, Höhlen suchen. An leeren langen Sonntagen werden sich meine Wangen in meinen Kopfpolster wühlen, werden kalten Rauch und geröstete Zwiebel in den Poren spüren. Werden hoffen, dass der ungebügelte, weich gelegene Stoff sie umschließt, umhüllt, umarmt. Ärmelgefühl simulieren.
Winterraue Hände streichen über Norwegerstrick. Zurückgelassener Wollpullover, an dem meine rissigen Handflächen hängen bleiben. Will wieder streifen, manches Mal, ein Test, ein schwester-, ein geschwisterlicher, ob da etwas dazwischen ist, zwischen uns, eine Wärme für den anderen, für seine Art zu sprechen, für jeden Moment, in dem er etwas preisgibt, mich etwas von ihm sehen lässt, mich einlädt, es ihm gleichzutun, für seinen ganzen Körper auch, der mich nichts angeht, den ich nicht verkläre, nicht aufessen will, an dem mir trotzdem etwas liegt, dem ich Essen Wärme schulterdrückende Hände geben will, um den ich mich kümmern will, dem es gut gehen soll, bei mir, mit mir.

Leonie Groihofer
Geb. 1996, aufgewachsen in Kleinzell, Niederösterreich, lebt in Graz. Ist bewegt von Klimagerechtigkeit und Literatur. 2022 auf der Longlist des FM4-Wortlaut-Schreibwettbewerbs, aktuell Teilnehmerin des Lehrgangs Schreibpädagogik des BÖS.
l.groilhofer@gmx.at

3. Platz: LEONIE GROIHOFER
Zwischenstoff

Ein Stoff aus Geheimnissen. Das Sehnen nach dem Knistern zarter Berührungen, ob Haut, Härchen, Kleidungsstücke, Bubenarme oder das Berühren der Ahnung, wie es sein mag, in eine andere Zeit überzutreten, zwar etwas zu verlassen, im Wissen aber stattdessen viel mehr zu bekommen, an Welt und natürlich an Berührungen verschiedenster Art.
Der Text ist ein Ort der Geborgenheit, obwohl sehr kurz oder gerade weil er so kurz ist, wünsche ich mir mehr davon. Leonie Groihofer hat Vertrauen zu ihren Worten, sie hetzen nicht, nehme sich die Zeit, die sie benötigen, aber sind dennoch im Fluss. In wenigen Absätzen durchschreitet Groihofer Kindheit, Beziehung, Annäherungen, Alleinsein bis zum Alter, ein ganzes Leben anhand von Stoffen und Berührungen.
Zum Beispiel: „Schulter an Schulter, nur ein bisschen Luft dazwischen. Sie reicht aus, um das Kitzeln zu spüren, wenn mein Unterarm seinen berührt. Ganz kurz nur, sodass man gar nicht weiß, ob es wirklich passiert ist …“
Der Text handelt von dem Zauber aus der Kindheit zu treten, einer Welt aus Kleidern, alten wie neuen, gewohnten wie vielversprechenden, und vorsichtig und verwegen in eine Welt zu treten, die sich einer Person öffnet, bis ihre „… rissigen Handflächen an zurückgelassenen Wollpullovern hängen bleiben …”
Der Zauber macht hier aber auch den genauen Blick aus und ein Beschreiben, das weit über den Stoff hinausgeht: „Wer zudrückt, den Stoff dingfest macht, zarte Falten verkleben lässt, der zerstört den Zauber“.
Literatur als eine zärtliche Bestandsaufnahme und als ein Suchen und Nachspüren nach dem, was die Welt für einen oder einer darstellt und bereithält: „Bin auf der Suche nach dem Ärmelgefühl, nach dem kleinen Glück, das mich durchströmt …“
Und vielleicht ist es ja der Text, der hier Subjekt sein will: „… dem ich Essen Wärme schulterdrückende Hände geben will, um den ich mich kümmern will, dem es gut gehen soll, bei mir, mit mir.“
In der Hoffnung auf viel mehr solcher Texte, herzliche Gratulation!
Hermann Niklas