LitArena XI / Etcetera 92 / Lyrik / Laura Schröder: sternfrucht

noch nicht geboren,
noch geborgen im bauch,
spitz ich schon gespannt
die ohren und lausch
den sanften worten,
die du zu mir sprichst,
all den kleinigkeiten,
die du mir flüsternd versprichst.
während die hand auf deiner haut,
auf deinem bauch,
auf ein zeichen von mir wartet,
auf einen tritt oder einen laut,
bringst du mir geduldig deine sprache bei,
die ich mir nur wenige zeit später schon nehme,
sorgfältig verpacke und luftdicht verstau.

irgendwann bin ich endlich da,
du legst mir von anfang an
deine worte in die wiege.
ich klammere mich an jedes einzelne
wie an mein lieblingskuscheltier.
und jahre später,
wenn der mond aufgeht
und hell oben zu mir spricht,
zu mir als kind, gerade mal vier,
wählt er die gleichen worte wie du.
ich greife nach ihnen, als wären sie sterne,
lausche auch nach einunzwanzig jahren noch gerne
und sie drehen sich über mir im mobilee,
bunt und schön.
ich, wie ich noch nicht sehr viel alleine kann
und mich schon früh an ihren klang gewöhn.
sie ziehen mich in ihren bann,
sodass ich nicht anders kann,
als mir ihre farben zu merken,
ihre formen und klänge.
ausdrücke, eingebrannt und nie vergessen.
worte, die dich zu dir machen
und mich jetzt auch zu mir.

eine elster klopft an meinem fenster,
in ihrem schnabel noch eine vokabel,
angelockt von dem glanz jener silben,
glänzend ergänzen sie mich,
mein wortschatz mit silbernen schätzen bestückt,
mit worten und orten,
mit sprüchen und gerüchen
einer kultur, die durch meine adern fließt.
samen aus einem anderen land,
die du in unserem garten säst
und mit warmen regenwasser
und unbekannten namen gießt,
siehst wie sie sprießen und
schließlich ernte ich die früchte deiner heimat.
eine heimat, in der ich in meiner erinnerung,
in sepia tönen und schon lange verstaubt,
krebse aus dem sand ausgrabe,
eissorten teste, die ich vorher nicht kannte
und nie wieder nicht kennen will,
in dem garten umherlaufe,
in dem du aufgewachsen bist
und aus dem du jetzt
eine sternfrucht für mich pflückst.

die sternfrucht
ist ein immergrüner, langsamwachsender baum
mit kurzem stamm,
der meist wuchshöhen von fünf bis zehn metern erreicht,
in ausnahmefällen bis zu fünfzehn metern.
er kann sich stark verzweigen,
die borke ist glatt,
die blätter licht- und bewegungssensitiv,
und seine wurzeln, die reichen tief.

wurzeln
reichen
tief.

ich drehe einen stern in meiner hand,
dann noch einen,
frisch und süß,
lege leuchtende konstellationen,
andromeda und den großen wagen
auf meinen teller,
hier in vietnam vergeht die zeit
ein bisschen schneller.
ich blinzel einmal, zweimal
und sitze schon seit sechs stunden im flugzeug
auf dem weg zurück.
wurzeln
reichen
tief.

du bist seit über 30 jahren in einem land,
in dem du nicht geboren wurdest
und das du dein zuhause nennst,
in einer stadt, in der du jede straße kennst.
mittlerweile bist du schon
den größten teil deines lebens hier.
hier hast du deinen führerschein gemacht,
geheiratet,
hier hast du deine zwei kinder zur welt gebracht,
gearbeitet.

du redest nach dem essen von der raupe nimmersatt
und von vietnamesischen sprichworten, die zu kompliziert sind,
um sie mir zu merken.
du bittest mich drum, ein wort zu buchstabieren
und das tu ich.
du wiederholst es
und in der luft fährt dein finger
unsichtbare buchstaben nach.
während du dir die schreibweise einprägst,
vergeht ein kurzer moment.

du bist seit über 30 jahren in einem land,
in dem du immer noch witze
über deinen akzent ertragen musst,
ein akzent, der dich mit stolz erfüllen sollte.
ein akzent, der mich an unsere wurzeln erinnert
und dich niemals auch nur ansatzweise
als mensch verringert.
rechts von mir hör ich eine schlechte imitation,
eine spöttische nachahmung
eines asiatischen klischees,
links von mir gelächter
von gleich auf jetzt wird mir ein bisschen schlechter
und mein herz klopft schneller,
ich werd nervös, auch ein bisschen wütend
und das gefühl färbt meine wangen rosa
wie fallende kirschbaumblüten.
in der siebten klasse fragt mich ein junge,
ob er mir seine finger in den mund stecken darf,
weil er schon immer mal nach asien wollte.
über mir zieht etwas auf,
eine dunkle gewitterwolke.
in der achten klasse werde ich gefragt,
ob ich aus meinen augen
schlechter sehen kann
von einer person, die lachend mit den fingern
ihre augenwinkel nach hinten zieht.

du bist seit über 30 jahren in einem land,
dessen sprache du schnell gelernt hast
mit einem wortschatz,
den du immer noch jeden tag füllst,
täglich in ihm wühlst,
um den passenden ausdruck zu finden,
was nicht immer gelingt,
aber oft genug.
deine silben gleiten manchmal
holprig über deine lippen,
aber niemand kann sie dir nehmen.
und wenn wir nachmittags um halb vier
zügigen schrittes spazieren gehen,
springen wir von einer sprache zur nächsten,
manchmal sogar innerhalb eines wohlgeformten, l
angsam in seine saftigen
einzelteile zersetzten satzes.

die sternfrucht
ist ein immergrüner, langsamwachsender baum
mit kurzem stamm,
der meist wuchshöhen von fünf bis zehn metern erreicht,
in ausnahmefällen bis zu fünfzehn metern.
er kann sich stark verzweigen,
die borke ist glatt,
die blätter licht- und bewegungssensitiv,
und seine wurzeln, die reichen tief.

 

Laura Schröder
geb. 2001 in sachsen-anhalt. bilingual aufgewachsen. studiert bildende künste an der hfbk in hamburg. schreibt lyrik und prosa.
lauraschroeder14@gmx.de