91 / Hirn mit Ei / Prosa / Elena Jolkver: Verarztet

Schon beim Betreten der Wohnung spürte David eine Spannung in der Luft. Obwohl das Licht aus war und das Zimmer nur durch das Glühen der abendlichen Großstadt erhellt wurde, erkannte er einen Schatten auf dem Sofa. Julia kam normalerweise erst nach ihm aus dem Büro.
“Bist du schon da, Schatz?”, rief er betont heiter in den Raum rein, wagte es aber nicht, das Licht anzumachen. Ein leises Schluchzen zerstörte die letzte Hoffnung, dass der Befund positiv war. Die Heuschrecken hatten noch eine Schonfrist bekommen, bis David sich um das Abendessen kümmern konnte. Er stellte die Tüte ab, setzte sich zu Julia aufs Sofa und nahm sie in den Arm. Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust und schluchzte erneut. David spürte die Nässe ihrer Wange, küsste sie sanft auf den Scheitel und ließ sie sich ausweinen. Dann saßen sie nur noch wortlos vor dem Panoramafenster und ließen sich durch das Lichtermeer der Großstadt hypnotisieren. Schließlich unterbrach David die Stille.
“Was ist rausgekommen?”, fragte er sanft. Er hatte noch Hoffnung, dass nicht alles verloren war, dass man mit etwas Gene Editing nachhelfen könnte.
“Es ist zu viel”, Julia schien diesen Gedanken bereits verworfen zu haben. “Über 85% Wahrscheinlichkeit für Schizophrenie gleich auf sieben Loci, über 90% für Diabetes, Arthrose und Bluthochdruck. Dann kamen noch ein paar mit geringerer Wahrscheinlichkeit, die sich aber in Kombination mit deinem Genom bemerkbar machen könnten. Jedenfalls war das Urteil eindeutig: ich bin nicht zeugungswürdig.” Bei dem letzten Wort verkrampfte Julia erneut.
“Und wenn wir es doch tun?” Es war der Trotz des Neubürgers, der noch eine Welt von früher kannte, noch bevor die Gesetze drastisch verschärft wurden.
“Du weißt doch so gut wie ich, dass es uns in den Ruin treibt.
Wo sollen wir denn so viel Geld für die Strafe auftreiben?”
Das stimmte leider und David wusste es. Bei ihren Gehältern müssten sie bis zur Rente alles zurücklegen, um die horrende Strafe für die Zeugung eines potentiell kranken Kindes abbezahlen zu können. Bei Vierzehn Milliarden sahen sich alle Länder gezwungen, eine Geburtenkontrolle einzuführen und prognostizierbare Risiken auszuschließen.
Jemand, der durch seine vorhersehbare Diabetes das Gesundheitssystem belastete, musste die Überbelastung mitfinanzieren.
So herzlos und durchkalkuliert es wirkte, so notwendig und erwartbar war dieser Schritt auch. Es nützte auch nichts mehr, sich an die “Stop Growth” Bewegung zu erinnern, die bereits bei acht Milliarden Alarm schlug und ebenjene Entwicklung vorzeichnete. Sie stießen auf ebenso taube Ohren, wie vor ihnen Greenpeace, die “Last Generation” und die Neoluditten. Sie alle zeichneten die Welt in düsteren Farben, die man seinerzeit nicht sehen wollte, nur um Jahrzehnte später Recht zu behalten. Die Generation ihrer Urgroßeltern war wahrscheinlich die letzte glückliche, da weitestgehend ahnungslose.
“Die Dame am Empfang hat mir noch eine Broschüre eingesteckt. Wahrscheinlich eine Sekte, die sich mit Spiritualität von den Problemen wegzuträumen versucht.”
David griff nach dem Flyer, der zusammen mit dem Befund auf dem Journaltisch lag. Im fahlen Licht erkannte er nur einen gelben Kreis, der großflächig die Titelseite einnahm.
Er knipste die Stehlampe an und beeilte sich sie zu dimmen, doch die Intimität der Schatten war bereits dem kalten nüchternen Licht gewichen.
Der gelbe Kreis entpuppte sich als eine große Eizelle, deren Inneres in Anlehnung an ein Hühnerei gelb gezeichnet war.
Ein milchiges Halo franste leicht gegen den dunklen Hintergrund aus. Man hätte es tatsächlich für das Bild einer Sonne halten können.
“Ne, es geht um Eizellspenden”, sagte David , nachdem er den Innenteil des Flyers überflogen hatte. “Beziehungsweise, um Kerne von Eizellen. Sie schreiben, dass sie die Mitochondrien der Patienten lassen und nur den Kern ersetzen.
Damit wird ein Teil der Mutter weitergegeben, sodass die weibliche Ahnenfolge bestehen bleibt. Hundertprozentige Reinheitsgarantie...damit meinen sie wahrscheinlich, dass das Erbgut frei von Krankheiten ist. Und für einen Bruchteil des Strafpreises, den man fürs kranke Kind zahlen müsste.” Julia schüttelte den Kopf. “Ich will doch kein fremdes Kind aufziehen!”
“Aber es ist nicht fremd, es wäre deins, unseres”, widersprach David, legte aber das Prospekt wieder auf den Beistelltisch.
Sie musste die Information erst verdauen, doch wenn die Emotionen abgeklungen waren, das wusste David, so würde seine Julia wieder rational entscheiden.

Der Hauptsitz der Firma “Das Gelbe vom Ei” war im medizinischen Viertel der Metropole. Hier reihte sich ein Krankenhaus an das andere, private Kliniken wechselten sich mit staatlichen Bettenhochburgen ab, Polikliniken mit glasfassadigen Versorgungszentren mit dutzenden Privatpraxen.
Das verschlungene Gassen- und Hofsystem machte die Orientierung für jeden Neuankömmling geradezu unmöglich, der einzige Verlass war auf die IQlass, die den Weg vorzeichnete, dafür aber immer wieder Werbung verschiedener Praxen anzeigte. Schließlich vibrierte die Brille leicht, womit die Navigation abgeschlossen wurde. David stand vor einer Glastür, auf der die übergroße gelbe Eizelle die Sicht auf das Innere nahm. An der Rezeption imitierte ein humanoider Roboter ein freundliches Lächeln.
“Herzlich willkommen beim ‘Gelben vom Ei’. Haben Sie schon einen Termin bei uns?”, fragte die KI und für einen kurzen Moment hatte David sogar gezweifelt, ob es nicht doch ein Mensch war. Er bestätigte, nannte seinen Namen und ließ sich die Netzhaut zur Identifizierung abscannen.
“Vielen Dank. Der Direktor wird sie jetzt empfangen.” Der Roboter streckte den Arm aus und zeigte auf eine milchige Glastür neben der Rezeption. Ein weißer Schriftzug erinnerte den Besucher an den Namen des Gegenübers und machte Hoffnung, dass es sich diesmal um einen Menschen handelte. Leemour Schablowski saß hinter einem großen Stahltisch mit einem verschlungenen Muster aus Holz- und Steinintarsien, in dem David Chromosomen erkannte.
“Ah, Herr Altmann, angenehm, angenehm. Bitte nehmen Sie Platz”, Schablowski erhob sich leicht und deutete auf einen weichen Sessel gegenüber. “Normalerweise kommen die Frauen direkt zu uns, das macht das weitere Vorgehen etwas einfacher”, begann Schablowski seine Rede, nachdem er David eine Teetasse aus dem Automaten in der Schrankwand reichte. “Der Erfolg unseres Unternehmens beruht darauf, dass wir die für ihre Frau passende Spenderin finden. Sehen Sie”, er schaltete ein Glaspad an, das David zunächst auf dem Tisch übersehen hatte. “Hier sind Fotos einiger unserer Patientinnen mit ihren Kindern. Sehen Sie die Ähnlichkeit?”, Schablowski wischte auf der Oberfläche und David sah eine Reihe von Frauen, deren Kinder wie ihre Miniaturausgabe wirkten. Der Partnerlook in der Kleidung und Frisur verstärkte den gruseligen Effekt. “Selbst die Mütter vergessen irgendwann, dass ihr Kind das Ergebnis einer technologischen Meisterleistung ist. Haben Sie ein Foto ihrer Partnerin dabei? Ich bin sicher, wir werden eine passende Spenderin finden.”
Nachdem David gegangen war, füllte Schablowski das Spezifikationsdokument aus und schickte es an seinen Partner in der Frauenklinik. Für gewöhnlich dauerte es nur wenige Stunden, bis dieser die Datenbank der Patientinnen durchgegangen war und eine oder mehrere passende Kandidatinnen für eine Eizellspende ausfindig machte. Die schiere Größe und Diversität der Metropole und der Klinik bedingte eine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich eine der Kinderwunschpatientin ähnliche Frau bei Kramer bereits behandeln ließ. Tatsächlich klingelte bereits gegen Mittag Schablowskis Telefon.
“Leamur, ich hab was für dich”, meldete sich sein Partner und kam gleich zur Sache. “Von den bereits eingefrorenen ist nichts passendes dabei, aber hier war gerade gestern eine Patientin wegen Regelschmerzen da, die sah deiner Kundin sehr ähnlich. Ich werde sie zu einer Nachuntersuchung einladen und sie auf Hormone setzen, sobald ihr Zyklus wieder anfängt. Wir können die Eizellentnahme als Endometriosebehandlung abwickeln und die Krankenkasse bezahlt sogar alles. Dann sind wir doppelt im Plus.” Die Zufriedenheit in Kramers Stimme ließ sich nicht überhören.
“Sind denn die Papiere bereits unterschrieben?” Schablowski verneinte.
“Ach, egal”, redete Kramer unbeirrt weiter. “Weiß, blond, mittelgroß, leicht längliches Gesicht mit blauen Augen und schmalen Lippen - das ist so ein weitverbreiteter Typus, dass wir ihre Eizellen früher oder später sicher gebrauchen können. Eigentlich ein Wunder, dass wir sie noch nicht haben.
Und die Donorin ist tipptopp, was ihre Genetik angeht.
Endometriose ist ja noch nicht im Ausschlusskatalog. Mit ihr könnten wir mehrere Runden drehen. Vielleicht kann ich sie nach dem Eingriff überzeugen, an den eigenen Kinderwunsch zu denken und Eizellen einfrieren zu lassen. Die ist noch jung, noch keine fünfundzwanzig, und mit der Endometriose können wir immer sagen, dass ein-zwei Zykle nicht genug Eizellen produziert haben. Was meinst du?” Schablowski grinste. Mit Kramer, seinem ehemaligen Gynäkologieprofessor, hatte er genau die richtige Wahl getroffen.
Er hatte gleich verstanden, welche Möglichkeiten sich ihm als Oberarzt einer der größten staatlichen Kliniken boten und welche Summen sich aus den eingefrorenen Eizellen ziehen ließen. Mit den Gewinnen konnten sie inzwischen über Investitionen nachdenken. Mehr Werbung oder noch eine Partnerklinik außerhalb Europas, um die Diversität zu erhöhen. Schablowski rückte aufgeregt nach vorne. “Ja, wunderbar, machen wir so. Sag mal, was ist denn eigentlich aus deinem chinesischen Doktoranden von damals geworden, dem Wan Long? Ist er nicht inzwischen Oberarzt an der New Hill Klinik in Singapur?”, fragte er Kramer und wusste gleich, dass er auch hier ins Schwarze getroffen hatte. “Oder ins Gelbe”, schoss es ihm durch den Kopf und er musste über den eigenen Kalauer lachen.

Elena Jolkver
Geb. 1980 in Moskau. Studierte Biologie und Informatik, promovierte in Biochemie. Erarbeitet Vorhersagemodelle für Erkrankungen und Zellvorgänge.
Betreibt Wissenschaftspopularisierung.