91 / Hirn mit Ei / Prosa / Karin Seidner: Garten für alle

I
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem die Dinge sich in unserer Zimmer-Küche-Wohnung von mir trennten und ich ihre Außengestalt erblickte.
Ich war etwa vier Jahre alt, da stieg ich, als ich alleine in unserer kleinen Küche war, auf einen Schemel und sah mein Gesicht zum ersten Mal im Spiegel und erschrak ich hatte mir mich ganz anders vorgestellt.

II
Meinen ersten Garten besaß ich im Alter von fünf Jahren. Ich hatte ihn selbst angelegt. In einer leeren Quartettschachtel, die ich mit Gras und Gänseblümchen gefüllt hatte, hielt ich eine Made, die ich in einem Apfel gefunden hatte. Ich fütterte sie täglich und führte sie in diesem Gärtchen spazieren. Manchmal holte ich eine Assel aus den Ritzen unseres Parkettbodens und lud sie als Gast für Hansi ein. Ich servierte den beiden die Brösel, die ich unter dem Küchentisch gefunden hatte. Zumeist interessierten sie sich nicht besonders dafür oder füreinander, nichtsdestotrotz ließ ich sie angeregte Unterhaltungen führen. Mein Gärtchen hielt ich unterm Bett versteckt, niemand sollte davon wissen. Ich führte Hansi jeden Tag an die frische Luft, indem ich ihn mit in den Lichthof nahm. Dort stellte ich ihn samt Gärtchen auf die Mülltonne oder die Ziegelmauer bevor ich mich kopfüber zu Doris auf die Klopfstange hängte.
Sie war die einzige, mit der ich - unter dem Siegel der Verschwiegenheit - mein Geheimnis teilte. Sie unterhielt sich wie ich mit Hansi und erzählte ihm aus ihrem Leben.
Im Nebenhof stand eines Tages ein grünes Lieferauto mit der Aufschrift Blumengeist. Ich hatte kürzlich lesen gelernt, indem ich meine Mutter gelöchert hatte, mir alles zu buchstabieren, was ich entziffern wollte. Kapsch stand auf dem Radio, Eskimo auf der Eistafel der Greislerin, Molkerei auf dem Haus gegenüber, Gaitzenauer über dem Handarbeitsgeschäft und KINO auf dem gelben Haus in der Nebenstraße, Chat Noir auf der Parfumflasche mit der schwarzen Katze in der Auslage der Drogerie, Hausbesorger über der Tür der Nachbarin, Asche ausleeren verboten an der Wand im Lichthof. Blumengeist hatte ich erst im dritten Anlauf verstehen können. Meine Freundin bewunderte mich für dieses geheimnisvolle Wort, das unsere Phantasie augenblicklich anregte. Neben dem Wort in schwarzen Buchstaben prangten drei Blüten in Gelb, Orange und Rot, die Geheimzeichen von Blumengeist. Wir waren Detektivinnen, die ihm auf der Spur waren. Blumengeist erlebte nicht nur unglaubliche Abenteuer, er konnte auch zaubern und besaß einen unterirdischen Garten, den man nur nach Nennen des Losungswortes, das wir mühsam ausgeforscht hatten, betreten konnte. Sprach man es laut aus, öffnete sich der Kanaldeckel im Lichthof und wir stiegen in die Tiefe, wo sich plötzliche ein riesiger Park eröffnete, in dem es Paradiesvögel gab und Hansi einen eigenen Apfelbaum hatte.

III
Die Macht des Wortes habe ich früh verstanden. Daheim rasten sie oft wie scharfe Messer durch die Luft und ich musste aufpassen, nicht in die Schusslinie zu geraten. Worte konnten aber auch trösten, behüten, stärken, wärmen, heilen. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund . Wenn ich mit meiner Großmutter die Katholische Messe besuchte, wartete ich stets auf diesen Satz, der tiefe Sehnsucht in mir weckte und mich zu Tränen rührte. Worte berührten mich, gesprochen, gesungen, gelesen. Es ist wahr, dass im Gedicht, wie in aller Kunst, etwas Heilendes ist. Eben weil es den Menschen befreit: vom Objektsein, vom Stummsein, vom Alleinesein, abgeschnitten von der Menschheit. Im Gedicht, noch im negativen Gedicht, ist ein letzter Glaube an den Menschen, an seine Anrufbarkeit.
(Hilde Domin)

IV
schreiben schreiben schreiben
schreiben schreiben schreiben
hinschreiben herschreiben wegschreiben
anschreiben abschreiben umschreiben...
Schreiben war Leben. Überleben. (Rose Ausländer) Lange Zeit floss es aus meiner Hand. Auf jegliches Papier. Es floss direkt in Hefte, auf Notizblöcke, Servietten, Verpackungen, einzelne Papierbögen. Es floss direkt aus mir. Ich konnte nicht unterscheiden zwischen meinen Gedanken und den Wörtern auf Papier. Papier ist Papier/aber es ist auch/Ein Weg zu den Sternen... (Rose Ausländer) Als ich begriffen hatte, wie Buchstaben aneinandergereiht werden, wuchs mir ein sechster Finger an der rechten Hand: Daumen, Schreibefinger, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger und kleiner Finger. Den Schreibefinger nannte ich auch Stift, Feder oder Kuli. Ich war zugleich andere und begegnete mir selbst. Die im Gedicht benannte Erfahrung tritt dem Menschen gegenüber als etwas Objektives und wird auf eine neue Weise vollzogen: als sein Eigenstes, das aber doch auch andern widerfährt, ihn mit der Menschheit verbindet, statt ihn auszusondern. Er ist einbezogen und mitgemeint. Das erregt und befreit zugleich. (Hilde Domin) Ich wurde Stammgästin der öffentlichen Bücherei. Ich verschlang Bücher, verleibte mir Literatur ein, Worte als tägliches Brot. Sie gingen durch mich hindurch und aus meinem Schreibefinger flossen neue Worte heraus. Das Beste und Intimste, das einem Text widerfahren kann, ist, ihn sich einzuverleiben (was freilich einen kannibalischen Aspekt hat) und die Energie zu mobilisieren, aus ihm etwas Verwandtes und doch Neues zu machen. (Elfriede Gerstl)  Lesend/schreibend/hörend in ein neues Universum eintauchen, Kunstwerken/Menschen und ihren Leben begegnen.

V
Ich begann Menschen wie Gedichten zu begegnen. Menschen und ihre Lebensgeschichten zu lesen wie Gedichte. Poetisiert euch! wollte ich ihnen zurufen, wagt die Reise durch das eigene Ich. Begegnet euch selbst und begegnet euch in anderen und begegnet anderen in euch. Überrascht euch selbst, setzt euch mit euch selbst auseinander, probiert euch aus! Seid mutig und unerschrocken, denkt euch aus, was ihr wollt! Verleiht euch selbst Sprache, bringt euch zur Sprache, bringt euch denkend, sprechend, schreibend immer wieder neu auf die Welt. Wir leben, als wäre die Seele oder der Geist, die Individualität oder die Persönlichkeit ein identifizierbares und lokalisierbares Gebilde und keine Geschichte, die das Gehirn sich selbst erzählt. (Julian Barnes)  Erhebt die Stimme, übernehmt Autor*innenschaft für das eigene Leben! Eignet euch das Leben wieder an, gestaltet es! Erschaffend konnte ich genesen, erschaffend wurde ich gesund. (Panozza) Schreiben als Rettung. Literatur ist für mich lange Zeit das Mittel gewesen, über mich selber, wenn nicht klar, so doch klarer zu werden. Sie hat mir geholfen zu erkennen, dass ich da war, dass ich auf der Welt war. (Peter Handke) Von der Einsamkeit des Denkens zum Dialog am Papier vom Chaos im Kopf zur gestalteten Form. Freiheit. Sie liegt in der Form. In der Form selbst muß die Freiheit gegeben sein. Dann aber. Und darin. Die Literatur ist die einzige Möglichkeit der Allmacht der Bürokratie und der Medien zu entkommen. Literatur ist die einzige Möglichkeit, den Überlebenswillen und die Lebensnot in der inneren Welt einer Figur wahrzunehmen und damit der Wahrnehmung des oder der anderen nahezukommen. So nahe wie das nur irgend möglich ist. Und so wahr eine Wahrheit sein kann. (Marlene Streeruwitz)

VI
Und diese Begegnung wie sie uns Menschen in der Kunst möglich ist, ist alles, so viel habe ich erst viel später verstanden, gefühlt habe ich es von Anfang an. Die Wichtigkeit von Begegnungen mit sich selbst, mit anderen, mit der Welt, die uns umgibt. Die Begegnungen, die Beziehungen und der Dialog, der sich daraus entspinnt und der uns weiterbringt.
Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa nennt sie Resonanzerfahrungen, die aus einer Haltung aus Neugierde und Offenheit gegenüber Menschen und Dingen entstehen: Momente, in denen man spürt: Hier kann ich ganz sein, wie ich bin; man fühlt sich in seinem innersten Wesen angesprochen, wir schwingen sozusagen auf derselben Wellenlänge.
Carl Rogers, Begründer der personzentrierten Psychotherapie erkannte, dass Menschen nach Dialog und Begegnung mit anderen und mit der Welt suchen und dass sie ihre Persönlichkeit in Beziehungen und Gesprächen, die von Empathie, Wertschätzung und Kongruenz getragen sind, entwickeln. Empathie und Wertschätzung und ein Gefühl der Verantwortung für sich, für andere, für unsere Umwelt. Menschen als selbstverantwortlich und in Beziehung stehend. Im Dialog geben die Beteiligten offen über ihre Positionen Auskunft. Sie müssen ihre jeweiligen Sichtweisen rückhaltlos artikulieren ohne Verteidigungsreflexe, denn es geht hier nicht um Gewinnen und Verlieren, wenn wir über die Dinge sprechen, wird die Welt nicht einfach , sondern vielfacher, und am Ende steht nicht das eindeutige und richtige Ergebnis, sondern die Erkenntnis, dass man, um weiterzukommen, immer wieder von vorn anfangen muss. (Thürmer-Rohr) Die Philosophin Isabella Guanzini sieht eine Haltung der Zärtlichkeit sich selbst, anderen, der Welt gegenüber, als etwas, das wir heute tun und die Welt morgen verbessert. In unserer Gesellschaft, in der Coolness verlangt wird, Härte, Tough-Sein, Sich-Diktaten- Unterwerfen, Sich -gegen-andere-Durchsetzen ist schon die Verwendung von Worten wie Selbst- und Nähstenliebe, (Selbst-)Mitgefühl, Sanftheit und Menschlichkeit, Bewusstsein der gegenseitigen Verletzlichkeit schambesetzt.
Die Philosophion Judith Butler sieht die Menschheit sozial verfasst und auf die Anerkennung anderer angewiesen. So betrachtet, ist die Idee, dass sich Leben gänzlich schützen liesse, nichts anderes als eine Allmachtsphantasie. Diese Verletzlichkeit ist zwar ontologisch, aber nicht unabhängig von sozialen und politischen Bedingungen zu denken. Sie ist ein existenzielles Gemeinsames, aber sie ist zugleich relational, historisch und geografisch unterschiedlich. Die ungleich verteilte Verletzlichkeit hat damit etwas sowohl Trennendes als auch etwas Verbindendes. (Moser) Wir müssen beharrlich bleiben bei unserem Pochen auf Verbesserung von strukturellen Verhältnissen zugunsten von Menschlichkeit und Solidarität, auf das Recht, ein gutes und gelingendes Leben nach eigenen Vorstellungen führen, liebevoll mit sich und den Mitmenschen umgehen zu dürfen. Vertrauen ins Leben haben zu dürfen ohne ständige Angst, etwas falsch zu machen. Im Gegenteil, Fehler machen zu dürfen, sie sich und anderen nachsehen können und auf diese Weise das eigentliche Potential menschlichen Lebens freizusetzen.

VII
Ich schrieb ein halbes Jahrhundert nach der Begegnung mit dem Blumengeist den Text, den ich gerne auf meinem Grabstein lesen würde: S ie war eine Frau wie eine Landschaft, durch die man gerne ging oder die gerne durch einen hindurchging. Ihr träumte von einem Park, der sich für die Augen der jeweiligen Betrachterin so gestaltete wie diese sich es wünschte. Ein halbes Jahrhundert und einige Gärten und auch Freundinnen später, begleitet mich der Blumengeist noch immer auf unserer gemeinsamen Mission, die Welt zu einem Garten für alle zu machen. Einem Garten, den alle miteinander bestellen, friedlich miteinander bewohnen, benützen, genießen, pflegen und für den sie gemeinsam verantwortlich und dankbar sind. Frieden ist kein Zustand, das habe ich in dem halben Jahrhundert gelernt, der erlangt/geschenkt wird, sondern ein Prozess, ein ständiges Ringen, seltenes Gelingen. Doch es ist der einzige Weg, denn Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht. 1

VIII
Rette dich nach vorn ins geöffnete Reich von unbekannten Grenzen! Rette dich, rette die Sprache, rette die Poesie! Sie griff nach den Sternen und wollte die Welt begreifen. Vielleicht wird von ihr nicht mehr bleiben als ein Wort, ein Satz, eine Farbe, eine Form, ein Zeichen. Doch das ist vielleicht alles, was eine vom Leben verlangen kann.

1 Als ich diesen Text zu schreiben begann, hatte ich noch keine Ahnung, dass Russland die Ukraine angreifen würde und der Satz von Marie von Ebner-Eschenbach noch eine neue Dimension erlangen würde.

Karin Seidner
Geb. 1963 in Wien, freie Schriftstellerin und Performance-Künstlerin, Psychotherapeutin, 1/4 der literarischen Performance- Gruppe „grauenfruppe“ www. grauenfruppe.at Leitet Kreative Schreibworkshops www. sprachraum.at Zahlreiche Veröffentlichungen im In- und Ausland. Literaturpreise: zuletzt Forum Land Literaturpreis Prosa 2016.