91 / Hirn mit Ei / Prosa / Kourosh Ghorbani: Der weise Vagabund

Aus Spaß versperrten einige Leute einem Vagabund den Weg, um ihm ein paar Fragen zu stellen. Der erste war ein dicker Mann, der durch seinen fetten Leib nur mit Mühe an den Vagabund herankam.
»Oh, verrückter Mann! Gib mir Ratschläge, was ich essen soll, das mich fit macht und mein Übergewicht reduziert«, fragte er grinsend.
»Es geht nicht ums Essen, sondern darum, nicht zu essen«, antwortete der Vagabund ruhig.
Als der dicke Mann seine Antwort erhalten hatte, blickte er hinter sich und dachte bei sich, dass er einen langen und schwierigen Weg zurückgelegt hatte, um den Vagabund zu erreichen. Daher hätte er sich eine umfassendere Antwort gewünscht.
»Was soll ich nicht essen?«, fragte er diesmal.
»Was du isst, nachdem du satt bist«, erwiderte der Vagabund.
Der dicke Mann, der dieses Mal dem Gelächter seiner Begleitenden ausgesetzt war, wusste, dass es besser war, nicht noch einmal zu fragen. Mit den Händen auf dem Bauch betrachtete er den Vagabund und ging.
Der nächste war ein Geschäftsmann mit reichlich verzierter Kleidung und mehreren Dienern, die ihn trugen. Die Diener brachten ihn zu dem Vagabund.
»Was sind deine Ratschläge für mich?«, fragte der Geschäftsmann.
»Ratschläge wofür?«, fragte der Vagabund zurück.
»Um Reichtum anzuhäufen«, antwortete der Geschäftsmann.
»Geh auf deinen eigenen Beinen!«, sagte der Vagabund.
»Wenn ich auf meinen zwei Beinen gehe, woher bekommen diese armen Leute dann etwas Brot zu essen?«, fragte der Geschäftsmann, wobei er die Diener ansah.
»Es ist der alte Generationenkonflikt, in dem Kinder ihre Väter enttäuschen und diese sie dafür verfluchen. In der persischen Tradition verwünschen die enttäuschten Väter ihre Kinder zu Fuß gehen zu müssen, während das Brot auf dem Pferd transportiert wird. Jetzt bist du stolz darauf, dass du ihr Brot mit deinem Körpergewicht auf ihnen getragen hast und sie zu Fuß gehen! Ich glaube nicht, dass diese armen Leute so arm geboren wurden«, erwiderte der Vagabund.
Nachdem die Diener diese Worte gehört hatten, sahen sich sie gegenseitig an und verließen gemeinsam die Arbeit. Der Geschäftsmann fiel stöhnend zu Boden. Er konnte nicht vom Boden aufstehen. Er sah den Vagabund an.
»Du bist wirklich verrückt! Ich bat um Rat für mich, nicht für meine Diener. Du hast sie mir genommen. Komm wenigstens und hebe mich vom Boden hoch!«, sagte der Geschäftsmann stöhnend.
»Was nützt dir mein Rat?! Was bist du für ein Geschäftsmann, der nicht auf eigenen Beinen stehen kann! Du wurdest seit Jahren auf den Händen anderer getragen; Versuch erst einmal, auf eigenen Beinen zu stehen!«, sagte der Vagabund.
Ein Krieger in Rüstung und mit einem um die Taille geschnallten Schwert näherte sich dem Vagabund und zog sein Schwert aus der Scheide.
»Du Verrückter! Komm, ich fordere dich als meinen Rivalen zum Kampf heraus!«, sagte er und schrie laut.
»Seit wann suchen sich Krieger Verrückte als Rivalen aus?«, erwiderte der Vagabund.
»Versuche nicht, dich herauszureden! Wenn du kein Schwert hast, lege ich auch mein Schwert beiseite. Lass uns gegeneinander kämpfen. Mann gegen Mann!«, sagte der Krieger.
»Behalte dein Schwert für deine Kämpfe! Du nennst mich verrückt. Also lass mich verrückt und glücklich sein«, erwiderte wieder der Vagabund.
»Vielleicht hast du die Lobgesänge anderer Leute über mich noch nicht gehört! Oder vielleicht hast du sie schon gehört und stellst dich nur dumm!«, sagte der Krieger.
»Was haben Verrückte mit Kampf- und Kriegsliedern zu tun! Warum soll ich mich dumm stellen?! Ich bin ein Verrückter, der seinen Weg gehen wollte, und du hast mir den Weg versperrt!«, antwortete der Vagabund.
»Willst du nicht gegen mich kämpfen?«, fragte der Krieger.
Der Krieger sah den Vagabund an und bekam seine Antwort aus dessen Schweigen und Lächeln.
»Also gib mir wenigstens Ratschläge, die mir nützlich sein werden«, sagte der Krieger.
»Bahne dir den Weg nicht mit einem Schwert, wenn du ihn mit einem Gespräch öffnen kannst. Auf diese Weise wird kein Blut vergossen. Deine Autorität und dein Kampfgeist werden dennoch nicht geschmälert«, sagte der Vagabund.
Der Krieger erhielt seine Antwort und wollte gerade gehen, als er den Geschäftsmann am Boden liegend fand.
»Ein Kavalier! Gib mir die Hand und hilf mir aufzustehen«, sagte der Geschäftsmann.
Nachdem er aufgestanden war, versuchte der Geschäftsmann stolpernd auf die Schultern des Kriegers zu klettern.
Der Krieger ging zur Seite und der Geschäftsmann fiel wieder zu Boden.
»Was tust du da?! Ich habe dich einen Kavalier genannt!«, sagte der Geschäftsmann frustriert.
»Ja, Kavalier. Aber es scheint, dass du Großherzigkeit mit Dummheit gleichsetzt! Ich half dir aufzustehen. Nicht, dass du auf mir reitest!«, sagte der Krieger.
Nachdem der Krieger dies gesagt hatte, ging er. Der Geschäftsmann blieb am Boden liegen und stöhnte. Der Vagabund ging zum Geschäftsmann, nahm dessen Hand und half ihm vom Boden auf. Der Geschäftsmann, der sich der Freundlichkeit des Vagabunds schämte, versuchte, alleine zu gehen. Der Vagabund und der Geschäftsmann erreichten eine Stelle, wo der Weg für den Vagabund gesperrt war. Sie trafen einen gut gekleideten und gutaussehenden Mann. Der Geschäftsmann sah den gut gekleideten Mann an und dann den Vagabund.
»Verrückter Mann! Jetzt kannst du gehen! Du hast mir deinen Rat gegeben und deinen Weg geöffnet!«, sagte der Geschäftsmann.
»Ich wollte dir keinen Rat geben. Du hast mich darum gebeten«, sagte der Vagabund.
»Genug geredet. Wir haben deinen Rat gehört. Der große Mann, den du vor dir siehst, ist der König. Er bittet dich weder um Rat, noch um irgendetwas, was du ihm geben kannst! Lebe wohl mit deiner Torheit!«, sagte der Geschäftsmann.
Der Vagabund wollte gehen, als der König, der derselbe gut gekleidete und gutaussehende Mann war, sagte: »Ich bitte ihn nicht um Rat. Aber ich will etwas von ihm, das wirklich in seiner Macht steht und er mir geben kann.«
»Eure Hoheit! Aber dieser Verrückte ist ein Tor«, sagte der Geschäftsmann.
»Ich werde seine Torheit kaufen«, erwiderte der König lächelnd.
»Wenn ich etwas besitze, was dem König gefällt, dann werde ich es ihm von Herzen geben«, sagte der Vagabund ebenfalls lächelnd.
»Habe ich nicht gesagt, dass er verrückt ist? Er gibt sich dem König gegenüber großzügig!«, sagte der Geschäftsmann wütend.
»Was er hat, ist der Großzügigkeit würdig«, sagte der König.
Der Geschäftsmann: »Eure Hoheit ...«
»Ich will keinen Rat, sondern den Ratgeber. Ich suche seit Jahren nach einem weisen Minister. Als ich heute seine Worte und Ratschläge hörte, wusste ich, dass er derjenige ist, nach dem ich gesucht habe«, unterbrach König den Geschäftsmann.
Der König sah seine Gefährten an.
»Bringt die Robe des ehemaligen Ministers für diesen Mann. Wenn ihn von nun an jemand verrückt nennt, schicke ich den zu den Verrückten, damit er weiß, wer verrückt und wer weise ist«, sagte der König in einem sehr ernsten Ton.

Kourosh Ghorbani
Geb.1986 aufgewachsen in Ghazvin, lebt heute mit seiner großen Liebe in Köln. 2012 Abschluss in Darstellender Kunst/Schwerpunkt Dramatische Literatur. 2015 1. Roman »Verbotenes Buch« Aufführung seiner Theaterstücke im Iran. Schrieb mehrere Drehbücher und Gedichte sowie persische Lieder. Außerdem Karriere als Fernseh- und Theaterschauspieler.
E-Mail: kouroshghorbani46@gmail.com