91 / Hirn mit Ei / Prosa / Olaf Lahayne: Das siebte Ei

Sorry, dass Sie warten mussten, aber es ist ja eh recht gemütlich hier im Café, nicht wahr? Danke jedenfalls für den Cappuccino! Und danke, dass Sie mich vorhin nicht gleich an der Kasse angesprochen haben wegen dieser … dieser Sache, Frau Neuer.
Ja, natürlich habe ich Sie erkannt. ›Neuer-Dings‹, Ihr Magazin, das schaue ich freilich nur selten – leider. Ihre Sozialreportagen – kann man das so nennen? –, also, die finde ich sehr interessant, sehr bewegend. Aber meistens sitze ich zur Sendezeit an der Kassa; als Alleinerziehende, da nehme ich möglichst die Frühschicht bis 14 Uhr.
Nun gut, wenn Sie also über diese Sache mit den sieben Maxi-Vanille-Eiern am Karsamstag eine Story machen wollen – und eben über … Novak heißt die Frau, sagen Sie? Seit Monaten sehe ich sie zwei-, dreimal die Woche bei uns in der Filiale, aber ihren Namen, den wusste ich nicht. Sie hat Ihnen also berichtet, dass es letztendlich um sieben Cent ging?
Stimmt; die Eier waren im Prospekt zu 2,98 Euro ausgezeichnet, in der Filiale dann aber zu 2,99. Ärgerlich, aber so was kommt vor. Es hat sich auch kaum ein Kunde beschwert; solang’s eben nur ein Cent ist … Die meisten, die dürften’s gar nicht gemerkt haben. Aber bei Frau Novak, da war das anders: Sie kam mit 20,86 in den Markt, legte sieben Eier ins Einkaufswagerl und schob es zu meiner Kassa. Die zeigte aber 20,93 an! Frau Novak kommt immer mit genau abgezählten Scheinen und Münzen in den Laden; ich nehme an, das hat sie Ihnen erzählt? Vermutlich will sie nicht in Versuchung kommen, mehr zu kaufen, als sie wirklich braucht; das machen tatsächlich einige Kunden bei uns so. Jedenfalls hatte sie eben sieben Cent zu wenig, und nach einigem Hin und Her – sie erzählte, dass sie sieben Kinder hat; daher sieben Vanille-Eier zu Ostern; eh klar –, da musste sie mit sechs Stück gehen. Eine Stunde später, kurz vor Ladenschluss, kam sie wieder, nun mit 2,99 für das fehlende Ei, aber da waren die schon ausverkauft. Sie kaufte dann einige kleine Eier, aber, klar, ich kann mir unschwer die Szene vorstellen, wenn sechs Kinder zu Ostern die Maxi-Eier mit der cremigen, dottergelben Füllung bekommen, die so lecker nach Vanille schmecken, das siebte aber nur simple Schoko-Eier. So ein Osterfest, das wäre sicher nicht das Gelbe vom Ei. Sorry für den Kalauer! Sieben Kinder; liebe Güte … Ich habe nur einen Sohn, und schon den durchzubringen mit meinem Gehalt …
Ich weiß ja nicht, was Frau Novak so werkelt, aber-
In einer Putzerei? Na, da wird sie finanziell auch nicht auf Rosen gebettet sein. Freilich, für die Wäsche, da könnte der Job hilfreich sein. Sorry; noch ein schlechter Scherz! Wie auch immer: Die Eier waren also aus, aber wir Mitarbeiter, wir haben alle am Morgen – weil’s der letzte Arbeitstag vor den Feiertagen war – vom Chef je auch eins bekommen. Meines lag noch im Spind; ich wollte es eigentlich meinem Sohn mitbringen, aber der kriegt von seiner Oma genug Zuckerln.
Frau Novak hatte es echt nötiger! Also holte ich mir eine Grußkarte und schrieb drauf: ›Frohe Ostern wünscht Ihnen Ihr freundlicher Nahversorger!‹ Okay, sicher etwas unpersönlich, aber es sollte ja auch nach einer Art Werbegeschenk aussehen. Ich band die Karte also an das Ei, steckte es ein, ging zu ihrem Haus und-
Woher ich die Adresse habe? Nun, ich sah Frau Novak ein paarmal just von diesem Tisch aus; ich wohne um die Ecke, und sie gleich da gegenüber. Drin im Haus war ich vorher nicht, aber da ist ja nur eine Stiege mit zwölf Wohnungen.
Wo dann drei Kinderwagen vor der Tür standen, da war ich richtig. Dort hängte ich das Ei an die Tür; übrigens die einzige Tür ohne Namen; seltsam eigentlich.
Das ist Absicht? Und was … Wieso Datenschutz? Vermutet Frau Novak, dass wir ihre Adresse von der Firma her gespeichert haben und so das Geschenk geliefert werden konnte?
Ehrlich gesagt, daran habe ich gar nicht gedacht: Sie zahlt ja immer bar, hat keine Kundenkarte …
Sicher bin ich sicher! Ich sitze erst seit letztem Jahr an der Kassa; vorher arbeitete ich im Hotel unserer Familie. Vielleicht schon mal gehört; Hotel Mondo, das zweitälteste Hotel in Wien in Familienbesitz? Tja, letztes Jahr, da wurde es zum Corona-Opfer. Wäre auch mal eine Story für ›Neuer-Dings‹ gewesen … Wie auch immer; jedenfalls haben wir alle in der Familie ein klasse Personengedächtnis, können Gäste auch noch nach Jahren mit Namen begrüßen … Konnten, heißt das. Aber schauen Sie sich doch mal hier im Café um: Der Herr dort hinten kauft stets so gegen sechs Uhr abends bei uns ein, zahlt mit Karte und Kundenkarte. Die Pensionistin da drüben kommt immer am Samstagmorgen, gleich nach der Öffnung. Der Student dort unter der Woche kurz vor-
Reicht das? Gut! Also, ich muss sicher in keiner Datenbank stöbern, um … Ist das die Story, hinter der Sie eigentlich her sind? Datenschutz beim Diskonter? Also, ich hätte gedacht, da gibt’s wichtigere-Wieso sensibel? Wie meinen Sie das, Frau Novak heißt gar nicht Novak? Sie sagten doch … Muss das sein, dass Sie gerade jetzt eine SMS schreiben!? Also wirklich!
Ihr Ehemann? Also wegen des Vaters der Kinder? Und wenn der sich mit Computern auskennt … Okay; das ist freilich ein guter Grund, um mit der Weitergabe der eigenen Daten vorsichtig zu sein. Falls der Ex sie findet … Femizide gibt’s eh viel zu viele! Dann nehme ich an, Sie wollen Frau Novak in Ihrer Reportage anonymisieren? Und der Titel? ›Diskonter liefert siebenfache Mutter an ihren gewalttätigen Ex aus‹? Nein, wohl etwas lang – und arg reißerisch! Also, jedenfalls kann ich Ihnen versichern: Daten habe ich keine missbraucht. Tut mir leid, wenn ich Frau Novak – oder wie immer sie nun heißen mag – einen Schreck eingejagt habe.
Ich wollte nur … Tja, gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht! Und von Ihrer Story bleibt da ja auch nicht mehr viel übrig, nicht wahr? Täte mir leid; ist in dem Fall aber wohl besser so!
Wer kommt denn da? Frau Novak!? Also, Sie habe ich ja noch nie hier drin- Dann hat Frau Neuer hier also Ihnen vorhin die SMS geschickt? Aber bitte doch; natürlich; setzen Sie sich!
Nicht doch; ich muss mich entschuldigen: Wäre ich nicht so pingelig gewesen, dann hätte ich mich beim Zählen Ihres Geldes einfach vertan; so was passiert ja ab und an.
Ja, Sie haben natürlich recht; mir ist das noch nie passiert; freut mich, dass Sie das bemerkt haben. Ist leider nicht selbstverständlich! Gibt deswegen immer wieder Zores an der Kassa; fragen Sie bloß nicht!
Was haben Sie denn da? Ach, das sind doch die Eier, die Sie letzte Woche gekauft haben – statt dem siebten Maxi-Vanille-Ei …
Freut mich, wenn sich Ihre Kinder gefreut haben! Alle sieben also … Und die Eier hier?
Für mich? Wie nett; danke! Tja, normalerweise ist der Verzehr von mitgebrachten Sachen hier im Café nicht gern gesehen, aber in dem Fall … Nehmen Sie auch eines, Frau Neuer; Sie können’s vertragen! Also, damit noch nachträglich frohe Ostern – hoffentlich für uns alle!

Olaf Lahayne
Geb. und aufgewachsen in Niedersachsen, lebt der Autor seit 1997 in Wien, wo er als Wissenschaftler an der Technischen Universität tätig ist. Seit 2008 veröffentlichte er Zeitungsartikel, ein Sachbuch sowie ca. 100 Kurzgeschichten aus so ziemlich allen Genres in Anthologien und Zeitschriften. Fünf Sammlungen wurden auch gesondert als E-Books oder Print-Bücher veröffentlicht.