95 / Kafkaesk / Prosa / Alexandra Braunecker: Der Faden

Knospendes Licht platzt auf hohe Fensterfronten. Das Blau eines wolkenlosen Himmels gähnt zum Stakkato eilender Schritte, die routiniert über frischen Asphalt stöckeln. Das Singen von Großstadtglocken scheucht die letzten Reste morgendlicher Stille über die Abraumhaufen eines aufgerissenen Platzes. Janka K. löst die ramponierte Kordel ihres Tabakbeutels, sucht Straßen, sucht Gehwege ab, mustert namenlose Gesichter, Aktentaschen, Menschen in Cargo-Hosen, Bauhelme. Sie inhaliert stechenden Rauch, während fremde Gestalten an ihr vorüberfließen, vorbei an Hotels, vorbei an Luxuskarossen, Juwelierläden und Kaffeehäusern. Schweiß, der Vorbote des Baustellentags, klebt unter ihren Achseln. Sie lehnt sich rauchend gegen den Büro-Container. In benachbarten Baracken knarren Spind-Türen. Arbeiter hüllen sich murrend in Warnwesten, greifen nach Helmen. Janka K. zündet die nächste Zigarette an, weiß, drückende Schwüle wird salzige Rinnsale über Schläfen treiben, weiß, dass sich sommerliche Sonne in Körper fressen wird, während noch, gerade jetzt, außerhalb des Baustellenareals, ihre Strahlen harmlos eine einsame Gestalt umfließen. Eine distinguierte Aureole strömt um hagere Glieder. Er lächelt viel, der ältere Herr. Sakko und Hose ist nicht sofort anzusehen, dass das Gewebe in Auflösung begriffen ist, dass Schuss und Faden verblichen, spröde sind. Er zieht den speckigen Hut, nimmt seinen Platz vor den Schiebetüren ein, schrumpft in ihrem mächtigen Schatten, wirkt klein, fast winzig. Das Lebensmittelgeschäft betritt er nie. Janka K. nickt ihm zu. Eine Bewegung, die er über die umgeleiteten Fußgängerwege hinweg, und im Schatten der Türen, kaum ausmachen wird. Janka K. starrt. Starrt über graue Bauzäune die Fortschritt plakatieren und stählern von komfortablem Leben säuseln, direkt in zwei strahlende Augen, bis beißender Schmerz an ihr zieht, sie zurück katapultiert. Sie stopft die abgebrannte Zigarette schnaufend in den überfüllten Aschenbecher, bläst kühlend über ihre nikotingelben Finger. Eine neue Selbstgedrehte landet zwischen ihren Lippen. Aus Gewohnheit, aus Langeweile. Der Rauch zerfließt, zieht fransig über aufgestemmten Asphalt. Sie sucht ihre Reflexion im dunklen Container-Fenster, fasst mattes Braun zu einem Pferdeschwanz. Ein Schemen, dicht neben ihr, überlagert sie flirrend. Eine immerweiße Strähne geht unter in alterndem Haar. Staub von Bauschutt und Jahrhunderten schiebt sich in die Nase. Jahrhunderte, denen Janka K. zwischen Baggerschaufeln und Pölzungen in die Gegenwart helfen wird, die sie aneinanderreiht wie Perlen auf eine Schnur.

Staub kratzt in trockenen Kehlen. Schweiß bildet sich in der Schwüle unter Achseln, frisst sich durch T-Shirts, zeichnet dunkle Flecken ins Blau der Arbeitsmäntel. Eine Palette mit akkurat aufgetürmter Ware schirmt Janka K. und den Neuen ab. Ihre geschwollenen Hände greifen, kontrollieren, jeder Handgriff sitzt, sie arbeiten wortlos. Draußen feixt die Sonne, drinnen gähnt die Luft. Silbriges Haar löst sich unter Janka K.s schlapper Haube aus dem satten Braun, wird gebündelt, zurückgeschoben. Der Stapler bringt frische Ware, die Hände greifen, schlichten bunte Papierpacken, kontrollieren. Ein Gespräch kommt in Gang. Janka K. spricht vom Studium, von archäologischen Ausgrabungen, von Zukunft. Der Neue spricht von Erlebtem, von Wegen, von Vergangenheit. Sein sanfter Bariton malt tönende Bilder, die sich überlagern. Janka K. nickt, starrt. Starrt in zwei strahlende Augen. Leben werden entworfen, verschmelzen, dröseln sich auf. Metropolen wachsen aus dem Beton unter ihren Füßen. Janka K. schwindelt unter dem Anprall der Worte, schrumpft, wird klein, fast winzig. Ihr Blick verschwimmt, hält sich fest an der hageren Gestalt vor ihr. Ein Lächeln hebt sie hoch, hoch empor zu säuselnden Schimären. Sie singen Lieder. Erst leise, kaum wahrnehmbar. Dann lauter, immer lauter weben sie ein Netz aus schillernden Lauten. Ein Netz, das sich mit jedem Schrei aus faltigen Kehlen stetig verdichtet, immer enger wird. Das Kreischen schmerzt in den Ohren, explodiert. Janka K. fällt, fällt zurück. Die Zerrbilder lösen sich auf, zerfasern beim durchdringenden Hupen des Staplerfahrers. Es wird still. Der Neue schweigt, fixiert die Arbeitsfläche vor Janka K. Ein langer Faden windet sich um säuberliche Etikettenstapel. Er streckt die Hand aus, trennt ihn murmelnd von Janka K.s Ärmel. Papier- und Klebergeruch schieben sich trocken in ihre Nase.

Das Drehkreuz dreht sich, lässt sie kalt passieren. Der Morgen gähnt scharfen Atem über den stummen Platz. Das Weiß der Berggipfel sticht in sternenbespuckten Himmel. In der Halle schiebt sich Geruch von Kleber und Papier in Janka K.s Nase. Die Zeit zischt zäh zwischen ruckelnden Fließbändern und Kartonagen, zählt Handgriffe, Faltschachteln, zählt Stehzeiten und Pauseneinheiten. Pause. Beißen, kauen, schlucken – abgezählt. Zu aufwändig für zehn Minuten. Die Zigaretten – abgezählt. Zwei kann sie rauchen, in diesen sechshundert Sekunden. Manche schaffen drei. Sie sitzt, den neuen Tabakbeutel vor sich auf dem zerkratzten Tisch, in der verglasten Kabine. Die gegenüberliegende Wand spiegelt ihren Kopf. Groß und seltsam verschwommen, sieht er aus. Unter dem Zucken der grellen Beleuchtung bricht zwischen blonden Strähnen eine weiße hervor. Janka K. zieht lustlos Qualm in ihre Lungen. Sie raucht noch nicht lange, es schmeckt nicht. Der Tabak knistert, bleiche Kringel schweben zur Decke, wirbeln zuckend auseinander als die Tür aufgerissen wird. Eine ehemalige Schulkollegin. Janka K. wappnet sich gegen unvermeidlichen Small-Talk. Die näselnde Stimme der Eintretenden zieht schabend an ihr vorüber. Janka K. nickt lächelnd, immer wieder, starrt in den Rauch. Vergessene Gesichter schälen sich aus dem beißenden Nebel, stürmen mit offenen Mäulern auf sie zu. In Schlünden blitzt Gewesenes. Schulglocken schrillen aus knurrenden Mägen, laut, immer lauter, zerplatzen in gleißende Helle, die über schartige Werktische bricht. Kleine Finger formen überdimensionierte Kugeln aus buntem Fimo, werden kleiner, immer kleiner, Holzperlen rollen zu Boden. Janka K.s Augen folgen ohnmächtig dem richtungslosen Kreiseln, sie taumelt über unebenen Grund, sucht die Perlen, versucht sie auf geflochtene Schnüre zu reihen. Doch die losen Enden wachsen ineinander, winden sich immer fester um ihre Handgelenke. Ihre Finger schmerzen, stehen in Flammen. Ätzender Rauch schiebt sich in ihre Kehle, ein Fenster schlägt zu. Janka K. ist alleine. Die Tür der Raucherkabine vibriert noch sachte unter dem vehementen Stoß. Janka K. schnippt Asche von der heruntergebrannten Zigarette, hält den Stummel zwischen leicht verfärbten Fingern. Flüchtig blickt sie auf die Zeiger einer überdimensionierten Uhr, drückt den angesengten Filter in einen überfüllten Aschenbecher und macht sich auf den Weg, zurück zur Maschine, zurück zur kommenden Pause.

Die Temperatur ist während der Mittagspause stark gefallen. Kälte klirrt zwischen Baggern und Lastkraftwägen, schlägt Wellen über erstarktem Teer. In gläsernen Restaurants überlagern Bauhelm-Reflexionen reifbedeckte Esser. Vermummte Touristen schieben einander über umgeleitete Fußgängerwege. Ihre Pelz bebrämten Stiefel zermahlen patrouillierend einen verschlissenen Hut. Janka K. kniet am tauben Boden. Staub von Bauschutt und Jahrhunderten friert in ihrer Nase. Ihre klammen Finger wühlen in Vergangenheit. Die vertraute Tätigkeit wärmt, zieht sie in ihren Bann, sie arbeitet stumm vor sich hin, vergisst das Hier und Jetzt. Doch Zeit ist überall, der Gegenwart entkommt man nicht. Ein Schatten verdeckt die bleiche Sonne. Fremde Atemwolken stoßen zu ihr in die Grube, winden sich um ihre Gelenke, versickern im freigelegten Sediment. Janka K. entfernt beklommen angetaute Erde von den Fragmenten einer Glasperlenkette, hebt träge den Kopf. Was ist da, was machst du da, wird sie gefragt. Der Small-Talk beginnt. Sie nickt, lächelt automatisch, starrt auf eisige Flocken, die winzig aus einem bleigrauen Himmel fallen, sich immer dichter aneinanderdrängen, eine weiße, fluktuierende Mauer bilden. Im Schneegestöber wirbeln verzerrte Gesichter, kringeln wortlos auf sie zu. Die verwobenen Züge sind nicht zu trennen, im Sturm unmöglich voneinander zu lösen. Im Netz hohler Augen schnuppen verglühende Sterne, vergeht Leben. Janka K. schwindelt unter dem Anprall gewobenen Lichts, wird immer kleiner, ihr Blick verschwimmt. Sie hält sich fest an einer spröden Schnur, widersteht dem fluoreszierenden Sog stummer Fratzen, Perle um verblichener Perle hantelt sie sich zurück, klammert sich an den Schemen einer hageren Gestalt, die am Grubenrand erscheint, zerrissen im Jetzt. Ein schmaler Mund klafft auf, kreischt als Bedeutungslosigkeit ihn verschlingt. Der Schrei schmerzt in den Ohren, explodiert. Janka K. ist wieder alleine, blinzelt, zieht die Haube tiefer, reibt über brennende Lider, versucht das Stechen hinter der Nasenwurzel zu bremsen. Fröstelnd setzt sie ihre Arbeit fort. Eine fahle Sonne tröpfelt monoton auf Alltäglichkeit.

Janka K. schreckt hoch. Im Fenster vor ihr trübt sich der Tag. Zwischen hohen Häuserfronten kriechen Nebelfetzen. In der Ferne macht sie das schmutzige Gelb eines Krans aus, dessen Arm reglos über Dächern schwebt. Sie atmet rasselnd, knotige Finger streichen zaudernd eine weiße Strähne, die einzige die ihr geblieben ist, zurück hinters Ohr. Orientierungslos schwenkt ihr Blick zu den Fotografien an den Wohnzimmerwänden. Sie starrt dumpf auf winzige Gestalten, weiß, sie war eingenickt. Hat vergilbte Personen, längst vergessene Orte besucht. Janka K. nestelt an einem losen Faden am Hausanzug. Sie ahnt, nein, sie weiß, dass der Faden spröde geworden ist, bald reißt. Sie weiß, dass er das Gewebe nicht mehr lange an seinem Platz halten wird. Es dunkelt im Zimmer, Heizungswärme lullt sie ein. Ihre Lider werden von Minute zu Minute schwerer, fallen zu. Sie zählt. Sucht in der Dämmerung nach Perlen. Versucht sie neu zu ordnen. Immer wieder. Immer noch.

 

Alexandra Braunecker
Geb. 1981 in Niederösterreich. Beschäftigung im Produktions- und Dienstleistungssektor. Studium der Ernährungswissenschaften, Studium der Ur- und Frühgeschichte. Mitwirkung an Forschungsgrabungen. Archäologin in Wien. Schreibt in Reichenau. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften.