95 / Kafkaesk / Prosa / Friederike Zelesko: Der Fersengeher

Eines Tages treffen sie ihn das erste Mal. Woher er kommt und wer er ist, wissen sie nicht. Vielleicht ahnen sie es. Er muss aus der Stadt gekommen sein. Das Institut liegt auf einer Anhöhe und wurde in den Siebzigern gebaut. Purer Beton. Es sieht von der Stadt unten aus wie eine Trutzburg. Weithin sichtbar. Er muss also die Wendeltreppe der Straßenbrücke mit ihren flachen Stufen hinaufgestiegen sein. Oben angekommen, wirft er einen Blick auf die Stadt, die ein Morgennebel noch in den Fingern hält. Alles ist frisch und unverbraucht, ein leichter Wind schiebt die Luft vor sich her. Er stellt erstaunt fest, wie üppig das Grün nachgewachsen ist. Auch der gemeine Efeu, das Multitalent. Der immergrüne Fassadenkletterer bedeckt die Mauer entlang des Weges zum Institut. Die Mauer ist aus den alten Pflastersteinen einer Straße der Stadt gebaut, wie er weiß. Jetzt legt der Efeu seine Blattfinger auf die Steine. Jetzt werden sie nicht mehr getreten. Er ist froh darüber. Wer getreten wird, gewöhnt sich irgendwann an den Schmerz. Immer wieder hat er seine Arbeit verloren. Er mag den langgestreckten Teich gegenüber der Mauer mit den vielen Pflanzen. Sie spiegeln sich zusammen mit dem Blau des Himmels im Wasser. Er beobachtet die roten Fische. Sie halten sich meist da auf, wo eine unsichtbare Kraft das Wasser hochsprudeln lässt. Da schwimmen sie gegen die Strömung, bewegen das Maul auf und zu, unermüdlich auf und zu. Rot Fischlein, Fischlein rot, stech‘ dich mit dem dreischneidigen Messer tot, reiß dich mit meinen Fingern entzwei, dass dem stummen Kreisen ein Ende sei …
Er wird ihnen kein Leid zufügen, obwohl sein Gedanke manchmal gewaltsam ist, weil sie so stumm sind. Leid und Unglück kennt er. Das stumme Kreisen ist kaum mehr zu ertragen.
Was geschieht mit ihm.
Er rollt seine Füße beim Gehen nicht mehr ab. Er bewegt sich auf den Fersen vorwärts wie ein Pinguin. Seine Arme schwingt er mit. Sein weißes Haar ist streng zurückgekämmt und scheint immer feucht. Sein Gesicht hat große, wässrige Augen. In seinem Blick hängt immer ein Tropfen Nass. Das Nass verschüttet er nach innen.Über seine Schulter hängt eine ungebleichte Leinentasche. Sie ist fleckig vom Hinstellen seiner, wie es scheint, einzigen Habe. Ihre Kostbarkeit demonstriert er, wie er die Tasche trägt. Seine gestreifte Jacke ist nicht gewaschen, der Stoff bauscht sich in Wellen. An der schwarzen Hose sind die Hosenbeinränder dick wie Schlangen. Sie ringeln sich über die Joggingschuhe, klammern wie Parasiten auf der Suche nach Nahrung und Wärme. Die Absätze der Schuhe werden vom Fersengehen schief. Pinguine sind Meister der Anpassung. Jemand, der im Eis leben muss, dem dampft der Atem. Der packt sich warm ein in ein Federkleid oder Fellkleid, denn die Starre ist rundum. Der braucht die Nähe seiner Art und wir sehen die Pinguine, wie sie eng beieinander auf den Inseln stehen, sich kaum bewegen, sich wärmen. Nur die See bewegt sich auch bei Windstille, streicht mit großer Anstrengung die Wasseroberfläche glatt. Die Wolken spiegeln sich darin. Die Welt steht auf dem Kopf, zittert. Ihr Spiegelbild ist unscharf.
Sie treffen den Fersengeher, diesen aus der Stadt gefallenen Pinguinmann nun jeden Tag. Sein scharfer Geruch setzt sich an seinen Wegen fest. Sie drehen die Gesichter weg, um dem unangenehmen Geruch auszuweichen.
Oft sitzt der Mann auf der Bank im Gebäude vor der Cafeteria und hält den gerillten, braunen Plastikkaffeebecher am schmalen, oberen Ende. Er hält ihn stets in Brusthöhe, so als müsse er sich vor dem Inhalt schützen und ihn nicht trinken. Er sitzt ohne Regung, ohne den Kopf in die Richtung eines plötzlichen Personenauflaufs zu wenden. Er wird gesehen und übersehen. Er hat kein Verlangen mit jemanden zu sprechen. Jeden Tag geht er auch in den Waschraum mit dem langen Spiegel. Er ist untergetaucht, denken alle und sind irgendwie froh.
Bald ist er aber wieder da. Wohin sollte er auch gehen mit dem starken Verlangen nach Wärme und Zugehörigkeit. Es hat den Anschein, als hätte man ihn versorgt. Seine Stofftasche ist prall gefüllt. Sein Gesicht frisch gewaschen, sein Hemd neu, seine Hose gebügelt. Nur auf den Fersen geht er wie eh und je. Wie einer, der keine Zehen mehr hat. Ein Amputierter, ein Mutant. Er ist kein Mensch mehr in einem solchen Zustand. Sie trifft keine Schuld, empören sie sich, dulden seine Anwesenheit, aber der Geruch, der in seiner Widerwärtigkeit jeden bedrängt, sich in die Gänge des Instituts einnistet, hat sich offensichtlich nicht verflüchtigt.
Dann finden sie ihn. Er hat wie immer die Fische sehen wollen. Er sitzt auf der Steinplatte oberhalb eines Rinnsals. Regungslos.

 

Friederike Zelesko
Geb. in NÖ, lebte in London, u. a. als Übersetzerin, 1969–2018 in DL, arbeitete an der Bergischen Universität Wuppertal im Fachbereich Physik. Schreibt seit 1984 Lyrik und Prosa. Heute lebt sie wieder in Böheimkirchen, NÖ.