95 / Kafkaesk / Prosa / Jürgen Heimlich: Kafka lebt

Blumfeld schreckte aus dem Schlaf auf. Er glaubte, ein Klopfen gehört zu haben. „Drei Uhr morgens“, sagte er zu sich selbst und starrte den Wecker an, als hätte dieser Schuld auf sich geladen. „Das kommt von dieser verdammten Leuchtanzeige.“ Er streckte sich in seinem Bett, bevor er aufstand. Dafür musste auch jetzt Zeit sein. Der nächtliche Gast sollte sich in Geduld üben. Dann setzte er sich auf und schlüpfte in seine Hausschuhe. Schließlich wankte er noch etwas schlaftrunken zur Haustür und öffnete diese. Niemand da. „Ein Lausbubenstreich“, sagte er ärgerlich. Er senkte den Blick und bemerkte ein blaues Kuvert auf der Fußmatte. Wenige Sekunden später war er hellwach. Die im Kuvert liegende Botschaft ließ ihn für diese Nacht nicht mehr an Schlaf denken.

PERSÖNLICHE EINLADUNG FÜR BLUMFELD. KOMMEN SIE AM 3. JUNI 2024 NACH PRAG ZUM GRAB VON FRANZ KAFKA.

Kein Absender und keine konkrete Zeitangabe. Blumfeld hatte lange nicht mehr an Kafka gedacht. Sein Tod hatte ihn schockiert. Er konnte sein gewohntes Leben nicht mehr führen und verlagerte seinen Lebensmittelpunkt nach Wien. In eine Stadt, an der Kafka keinen Gefallen finden konnte. Kafka hatte immer wieder überlegt, Prag zu verlassen. Auch eine Emigration nach Palästina hatte er erwogen. Am Ende seines Lebens verbrachte er ein knappes halbes Jahr in Berlin mit Dora Diamant. Dort hatte er die berühmte Begegnung mit dem Mädchen, das seine Puppe verlor und darüber sehr traurig war. Und so schrieb Kafka im Namen der Puppe Briefe an das Mädchen. Blumfeld aber wagte den Sprung nach Wien und das führte dazu, den Kontakt zu Kafka zu verlieren. Kafka schuf Blumfeld als Figur, die in einer Kanzlei brav seinen Pflichten nachging und eines Tages durch Bälle, die in seiner Wohnung ein hüpfendes Eigenleben führten, völlig aus der Bahn geworfen wurde. Nach dem Tod von Kafka beschloss Blumfeld, jegliche Erinnerung an sein Vorleben zu tilgen und ein eigenes Leben zu führen.

Blumfeld überlegte nicht lange. Ja, er würde mit dem Zug nach Prag fahren und am 100. Todestag von Franz Kafka – dieser Tag konnte seitens des Einladenden nicht zufällig gewählt worden sein – an dessen Grab erscheinen. Er empfand es nicht als unangenehm, aus seiner Komfortzone gedrängt zu werden. Und da der 3. Juni nicht mehr weit war, beeilte er sich mit dem Anziehen und nach einem schnellen Frühstück, das aus einem Glas Milch und einem Butterbrot bestand, verließ er seine Wohnung. Er strebte dem Bahnhof zu und kaufte dort gegen sechs Uhr früh ein Ticket nach Prag.

Blumfeld saß einige Tage später im Zug und hatte nichts bei sich außer einem kleinen Koffer. Dem Anlass seines Besuches entsprechend steckte er in einem schwarzen Anzug, trug ein weißes Hemd, elegante schwarze Schuhe und hatte eine schwarze Krawatte um den Hals gebunden. „Wünschen der Herr etwas zu speisen?“, fragte ihn ein junger Mann, der nicht dem Zugpersonal zuzuordnen war. Blumfeld schüttelte den Kopf und schlief bald darauf ein. „Wachen Sie auf“, flüsterte ihm eine dickleibige Frau ins Ohr und rüttelte ihn an der Schulter. Blumfeld rieb sich die Augen und stand wie von der Tarantel gestochen auf. „Prag!“, rief er aus. „Ich bin in Prag!“

Am späten Nachmittag führte ihn sein Weg zum neuen jüdischen Friedhof in Prag-Straschnitz. Schon aus der Entfernung sah er, dass sich Besucher rund um ein Grab scharten. Er ging betont langsam auf das Familiengrab der Kafkas zu, in dem auch Kafkas Eltern Hermann und Julie beerdigt worden waren und an dem eine Gedenktafel für seine im Holocaust ermordeten Schwestern Gabriele, Valerie und Ottilie angebracht ist. Dort angelangt schnürte es ihm die Kehle zu. Alle waren gekommen! Der junge Mann im Zug war, wie er vermutet hatte, Karl Roßmann gewesen und die beleibte Frau Brunelda. Ein Affe machte es sich vor dem Grab im Schneidersitz gemütlich. Er hatte sich zu diesem festlichen Anlass besonders in Schale geworfen. Ja, und da vergoss ein hässlicher Käfer Tränen, in dessen Panzer ein halb verfaulter Apfel steckte. „Wir sind hier, um Franz Kafka zu gedenken“, begann ein Mann mittleren Alters zu sprechen. „Dafür habe ich euch, so wahr ich K. heiße, hierher eingeladen. Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid, so weit ich es überblicken kann. Ihr alle seid Figuren aus der Feder von Franz Kafka. Ihr alle habt in den letzten 100 Jahren euer eigenes Leben gelebt. Aber heute wird es Zeit, euch an jenen Mann zu erinnern, ohne den ihr nie existiert hättet. Er hat euch geschaffen aus vollem Herzen und mit großer Liebe. Er hat euch Abenteuer bestehen lassen, die tief in eure Seelen blicken ließen.“ Jeder von uns war dazu aufgerufen, eine Rose auf die Grabstätte zu legen. Schnell war die Gedenkstätte für die Familie Kafka mit Rosen übersät. Und da sah ich plötzlich einen Schatten, der über dem Grab zu schweben schien. Ich hörte Ausrufe des Staunens und sah ausgestreckte Finger, die nach oben zeigten. Wir glaubten wohl alle, in diesem Schatten Franz Kafka zu erkennen. So plötzlich der Schatten erschienen war, so plötzlich verschwand er auch wieder, und eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Ich fühlte mich wie neu geboren und bereit, ein neues Kapitel meines Lebens zu schreiben.

Und ich sagte laut und voller Inbrunst:

„Dass wir nach wie vor da sind, belegt eindrucksvoll, dass Kafka lebt. Er hat einmal gesagt, dass er Literatur ist. Und damit hat er sich, ohne es zu wollen, unsterblich gemacht.“

Ich entschied, in Prag zu bleiben. Dort, wo buchstäblich meine Wiege stand. Wer weiß; vielleicht konnte ich herausfinden, ob ich eine Halluzination gehabt hatte oder aber Teil eines Schauspiels gewesen war, das Kafka zu unseren Ehren aufgeführt hatte. Sein Geschenk an uns als seine Geschöpfe.
Wie schön wäre das ...
Dieser 3. Juni 2024 wird mir unvergessen bleiben.

 

Jürgen Heimlich
Geb.1971 in Wien. Verlagsausbildung, seit 1989 literarisch aktiv. Franz Kafka ist sein Lieblingsschriftsteller. 2018 wurde „Blumfeld“ bei Saga Egmont als Hörbuch veröffentlicht. 2019 Uraufführung seines Theaterstücks für Kinder „Dialog mit meinem Schatten“ im Theater 7ieben&7iebzig in Innsbruck. 2020 folgte „Die Rückkehrvon K.“ bei Twentysix. 2024 erwacht Blumfeld zu Ehren von Franz Kafka nochmals zum Leben.