95 / Kafkaesk / Prosa / Kathrin Thenhausen: Verlochung

Je länger wir zögern, desto fremder werden wir uns, vielleicht ist das etwas Gutes. Wir haben beide den Zeitpunkt verpasst, auszuziehen, nun teilen wir das Gefühl zweier Menschen, die einander auf dem Bürgersteig entgegenkommen. Wir wissen nicht, in welche Richtung wir ausweichen könnten, es hängt an dem anderen, der andere an uns, wir aneinander. Stehen in der untergehenden Abendsonne und machen Schritte nach links, nach rechts, wie ein Pendel, das niemals ankommt. Wir glauben nur noch bedingt an die Gravitation. Am meisten glauben wir an den Tod. Ich starre ein Loch in die Zukunft und wünsche einen von uns dort hinein.
Sitzen am Frühstückstisch, zwischen uns Zeitung und bereits verjährte Gesprächsthemen, an den Rändern ausgefranst, wir benutzen sie trotzdem.

Draußen schneit es bald, sagst du, du weißt es, du spürst es in deinem linken Zeh. Das habe ich früher einmal für komisch gehalten, dann hast du es öfters gesagt, da habe ich einen Holzscheit auf deinen linken Fuß fallen lassen.
Im Krankenhaus haben wir beide von einem Versehen gesprochen und ich habe es bereut, weniger deines Fußes wegen, als aufgrund der Gänge hier, deren Geruch mir die Luft weg atmet. Zu diesem Zeitpunkt waren mir die hellblau gefliesten Böden und die Stühle, deren Beine quietschten, sobald man aufstand, noch so fremd wie die Gesichter der Pfleger, die keine Zeit haben.
Ich muss sagen, ich verstehe sie. Würde man stehen bleiben und mit den Wartenden ein Gespräch beginnen, würde man am Ende des Tagcapture.sniff(10)es Selbstmord begehen.
In jedem steckt zu viel an Klage, man hätte früher das Zuhören beginnen sollen, nun kann man die Trauer der Angehörigen nicht mehr ertragen.
Bin ich heute im Krankenhaus, nehme ich Kopfhörer mit und den Gesichtsausdruck, den meine Mutter gehasst hat.

Ob ich nicht Lust hätte, hinauszugehen, fragst du, ein bisschen im Schnee spielen, vielleicht? Wir sitzen am Tisch und starren auf die Zeitung, für dich ist mein Alter zeitlos.
Ich lächle und schenke dir Kaffee nach, obwohl du eigentlich nicht mehr so viel Koffein trinken solltest.

Jemand müsse die Fenster des Autos frei machen, das möge ich doch so sehr.
Die Kindheit erinnern, als wäre sie eine Jacke, die man sich noch immer überziehen kann und wie als Beweis streckst du mir das Messer für die Butter entgegen, die Kanten sind stumpf. Ich nehme es dir vorsichtig aus der Hand, das Messer wäre nur fürs Brot, du sagst „Ach so“ und senkst beschämt deinen Blick.

Dein Auto ist inzwischen meines, wie auch die meisten der Räume hier, dabei will ich das eigentlich gar nicht. Es sitzt zu viel Belag von früher an den Wänden, das bekommt man nicht mehr heraus. Meine Mutter hat ihr Parfüm in der Tapete hinterlassen, manchmal glaube ich, sie sitzt hinter der Wand und beobachtet uns hindurch. Dann höre ich ihr heiseres Lächeln und starre Löcher in das ausgeblichene Blumenmuster, große Löcher, lauter Türen, durch die sie endlich entweichen könnte. Der Unterschied zwischen Fenster und Tür ist eine Glaubensfrage und Mutter ist nie gegangen, wenn man es sich gewünscht hatte. Erst ganz am Schluss. Die Anzahl der Löcher, die es braucht, ein Loch zu füllen, lässt sich schwer bestimmen.
Hätte die Wand genügend Löcher, würde das Haus vielleicht einstürzen, aber sobald ich den Blick abwende, ist die Tapete wieder glatt. Ich werde des Starrens nicht müde, kann nicht aufhören, es ist eine Sucht.

Du bewegst dich in deinem Stuhl und der Kasten mit dir. In deiner Nase steckt ein Kabel, das in eines der Löcher führt, der Kasten ist schwer und wenn du die Treppe hoch willst, muss ich dir dabei helfen.
Du atmest Kasten ein und der Kasten dich aus, das soll deine Verringerung verlangsamen, es wäre viel schneller, nähme man eine Schere.
Den Kasten hast du erst seit einem Dreivierteljahr. Er sitzt auf winzigen Rädern, die sich schon mit dem Asphalt schwertun und du sitzt in deinem Haus, das zu groß ist für dich.
Wenn du spazieren gehen willst, schiebe ich den Kasten, die Nachbarn grüßen und sind stolz.

Auf der linken Seite hat früher Lisa gewohnt, ihre blonden Haare haben sich die Farbe erhalten, zumindest sieht es auf den Bildern so aus.
Die Lisa war in meiner Klasse, genauso wie Johannes, sie sind die Einzigen, mit denen ich Kontakt gehalten habe, dabei kommen sie kaum mehr zurück. Ich hätte es mehr wie sie machen sollen, stattdessen lese ich zuhause ihre Postkarten und hänge den Kühlschrank voller Bilder. Du zuckst jedes Mal zusammen, als könntest du Gedanken lesen. Einladungen für Klassentreffen werfe ich demonstrativ in den Mülleimer.
Ich male ein Loch in den Deckel, bevor ich ihn öffne. In das Loch werfe ich die Grüße und das, was hinter den Zeilen steckt. Wenn unser Haus explodiert, wüssten die Nachbarn alles. Man stelle sich vor, wie sich meine Löcher über die ganze Stadt verteilen. Pro Loch ein Verzicht, von stummer Anklage gefüllt.

Magst du denn jetzt nicht rausgehen, in den Schnee? Du bist ungeduldig.
In jeder Frage höre ich zwei, die nach mir und die nach dir, du magst raus, in den Schnee, aber da liegt keiner. Es ist gerade einmal November,
Ich muss noch arbeiten.
In jeder Antwort liegen zwei, ich brauche Zeit für mich, ich kann heute nicht.
Du nickst und nennst mich fleißig.
Ich hatte früher gute Noten und bin trotzdem geblieben, wurde gebraucht, verbraucht.
Den ironischen Kommentar, ob du nicht raus magst, spare ich mir. Ich habe den Verdacht, dass mir als Kind die Zunge amputiert wurde und so verändert, dass mir nichts Böses aus der Kehle kommt.
Wenn dem so sei, wurden mir auch die Beine amputiert, oder sie stecken zu fest in den Löchern.

Vielleicht war ich der Mutter ähnlicher als ich glaubte, sie hatte eine wehe Hüfte, hielt den Ellbogen stets so abgeknickt, dass ihre Finger auf das Gelenk zeigten. Manchmal habe ich Löcher in das Gelenk gestarrt, dann zeigten ihre Finger auf nichts und ihre Mundwinkel waren besonders schmerzverzerrt. Sie rief mich, die Einkäufe aus dem Auto zu tragen.

Dir muss ich keine Körbe tragen, du besitzt keine Körbe, ich kaufe auf dem Weg nachhause ein. Ich koche dir Kaffee mit gesüßter Milch und starre Löcher in die Oberfläche, das ist der Schaum. Du liebst ihn.
Manchmal beneide ich dich, um das Sieb in deinem Kopf und starre mir selbst im Spiegel Kopflöcher, eine Freundin meinte, ich solle es mit Meditation versuchen.

Du deutest auf die braune Brühe, Kekse, fragst du, denn nachmittags hat der Arzt dir einen Keks erlaubt, manchmal auch zwei. Ich nicke und hole die Packung aus dem Regal, steinharte Hafertaler, du tauchst sie in die Tasse, bis sie beginnen, sich aufzulösen.
Wenn alles im Begriff ist, sich aufzulösen, wieso nicht die eigene Person.
Bemerkt man den eigenen Schwund, ich sehe im Spiegel die Gesichtszüge gleiten und meine Zunge, wie sie taub und tauber wird. Manchmal beiße ich darauf und erschrecke über den Schmerz, dann reiße ich mich zusammen.
Meistens reiße ich mich auseinander.
Ich stopfe die einzelnen Stückchen in die Tapetenlöcher und dein Sieb, mische sie unter den Kaffee, lauter kleine Hautfetzen, die das Ichsein verlieren, noch bevor sie meinen Körper verlassen.

In deiner Tasse schwimmt eine Fliege, beschwerst du dich nun, jetzt bist du trotzig, weil du nicht nach draußen in den Schnee kannst. Du fischst das Insekt mit dem Keks heraus und zeigst mir die durchtränkten Flügel. Die Fliege fliegt nicht mehr, ich meine ihr Bein ein letztes Mal zucken zu sehen, aber sicher bin ich mir nicht.
Ich starre ein Loch in den Keks, dann hole ich einen Lappen, um den vertropften Kaffee vom Tisch zu wischen und werfe den Keks in den Abfalleimer. Einen neuen bekommst du nicht.

Du klopfst Musik auf den Kasten, Schneeflocken fallen leise, du schweigst Aufmerksamkeit. Keuchst dann, einmal, zweimal, redest von Druck auf der Lunge.
Ich hole die Schlüssel, wir fahren ins Krankenhaus. Draußen scheint die Sonne, starre Löcher in ihre Umrisse, bis ich in allen Richtungen helle Punkte sehe.
Der Arzt sagt, es gehe dir gut. Große Widerstandsfähigkeit, ein paar Spaziergänge draußen würden dir guttun, die frische Luft sei wichtig.
Wir nicken.
Auf dem Weg nach draußen greifst du meine Hand, das hast du das letzte Mal bei Mutters Beerdigung gemacht und das vorletzte, als ich noch ein Kind war.
Du hältst sie so fest, dass ich sie nicht abschütteln kann, sie ist schwitzig und warm. Ich reiße mich los, als ich dir die Autotür öffne, ich sehe dich nicht an.
Heute bin ich wütend, wollte nicht ins Krankenhaus fahren, musste, mehr und mehr Löcher, die zwischen uns entstehen, du spürst meine Nicht-zu-dir-Blicke und senkst den Kopf mit einer schamvollen Aufrichtigkeit, die mich nur noch wütender macht.
Du bedankst dich sogar, das tust du selten, danke, dass du mich gefahren hast, als hätte ich eine Wahl gehabt.
Heute nicke ich nicht, ich schweige bloß und lasse dich spüren, wie sehr du mir Last bist.

Den ganzen Nachmittag rede ich nicht mehr mit dir, sondern löchre meine Arbeit, Alltagspflichten.
Du bist in dein Zimmer gegangen, und ich bin froh über den Raum.
Erst abends will ich dich wieder herunterholen, ich habe dein Brot dünner geschnitten als üblich.
Das Radio läuft, um unser Schweigen zu füllen, heute werde ich nicht reden, ich bin ein Loch.
Als ich deine Tür öffne, sitzt du auf dem Bett, du hast das Messer für die Butter mitgenommen.
Deine Finger sind nervös, gedankenverloren wickelst du das Kabel in Runden um dein Handgelenk.
Du bemerkst mich nicht und ich mache mich nicht merkbar, bin nur noch Loch, Loch, Loch, wer in mich fällt, versinkt.
Unten redet der Moderator von kommendem Schnee, es wird sich etwas ändern, bald.

 

Kathrin Thenhausen
Geb. 2000 in München, 2019 Abitur, seitdem Studentin der Informatik in Potsdam sowie Uppsala, Schweden. Liebt das Schreiben. Preisträgerin unter anderem des Treffens junger Autoren 2021, des Literaturbewerbs zeilen-lauf 2022, Nachwuchspreis Schwäbischer Literaturpreis 2023, Finalistin des Open Mikes 2023 und Veröffentlichung in einigen Anthologien. Gerne auch unterwegs im Poetry Slam oder beim Wandern, gedankenordnend, ideensuchend.