95 / Kafkaesk / Prosa / Martin Foszczynski: Der Finger

Erst als er zum Wasserkocher greift, bemerkt Yousif C., dass ihm der rechte Ringfinger fehlt. Eine scharfe Klinge musste ihn unterhalb des zweiten Gelenks abgetrennt haben. Das offene Fleisch blutet nicht mehr – ein gefaltetes Stück Papier, bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als Serviette, hat sich in der Wunde halb aufgelöst. Jemand hat es, durchaus sorgfältig, mit einem dicken Gummiring am Stumpf befestigt.
Yousif nimmt den bebenden Kocher mit der linken Hand ab und gießt siedendes Wasser über den Löskaffee. Vor seinen Augen setzte sich ein dampfender Strudel in Bewegung, wie flüssige Nacht, und es scheint ihm, als kreisten Fluten desselben trägen Stroms auch durch seinen benebelten Kopf, der wie nach einem heftigen Aufprall schmerzt.
Er setz sich und mustert das Formular mit dem Rückführungs-Angebot, das immer noch unausgefüllt auf dem Tisch liegt – 3.000 Euro inkl. Flugspesen bei Verzicht des Asylantrags – , dann die kleine Unebenheit am Tassenrand. Schon am ersten Tag hat er sich über die abgesplitterte Stelle gewundert… alle anderen Gegenstände, die er in seiner schmucklosen, aber geradezu steril sauberen Unterkunft – einem fensterlosen Zimmer mit nackten Wänden, Linoleumboden, Liege, Tisch, Klappstuhl und Kochplatte – vorfand, wirkten auf fast groteske Weise neu. Sogar das Welcome Tablet wartete noch in Kunststoffeingeschweißt auf einer penibel zusammengelegten grauen Decke am Fußende des Betts.
Yousif hat jetzt andere Sorgen. Sein Blick wandert zum zerwühlten Bettzeug, erst jetzt fällt ihm auf, dass es mit blutroten Schlieren und Flecken übersät ist, wie eine überdimensionale Mullbinde. Dann wieder auf das Gemetzel an seiner Hand. Jemand musste mit perfiden Absichten gehandelt haben. Wie soll er das jemals Nasim erklären? Eigentlich sollte er hier doch Fuß fassen, jetzt hat er kaum angekommen schon einen Finger verloren, und mit ihm den Ehering.

Biiiep. Ein greller, metallischer Ton reißt Yousif aus den Gedanken – das neue Fragen-Paket ist eingegangen. Er greift zum Welcome Tablet und aktiviert den Bildschirm: Bitte fahren Sie fort.
Aufgabe 12: Welche Speise gilt als kulinarisches Erbe Österreichs:
Döner kebab
Chicken tikka masala
Wiener Schnitzel

Eine typische Bei-Laune-Halte-Frage, jedes Kind weiß das, denkt Yousif. Er klickt auf c), der darunterliegende rote Balken zuckt fast unmerklich. Sie haben 8,4 Prozent der Fragen beantwortet. Bitte fahren Sie fort.

Aufgabe 13: Nennen Sie 3 Organe, die von den österr. Gebietskörperschaften autonom gewählt werden.

Es ist aussichtslos. Yousif klickt entmutigt auf den Return- Pfeil, er weiß, dass es auch dieses Mal in eine Sackgasse führen wird.
Der folgende Test dient der Evaluierung Ihres Wissens über das politische System sowie die Grundwerte des Gastlandes. Er ist Voraussetzung für die Bearbeitung Ihres Asylantrags. Bitte fahren Sie fort.
[Return]
Sie befinden sich auf dem Territorium der Europäischen Union. Sie gehören gegenwärtig KEINEM Staat an. Bitte fahren Sie fort.
[Return]
Bitte wählen Sie Ihre Landessprache.

Yousif ist ein wenig schwindelig. Er schiebt das Tablet weg und kramt umständlich das Handy aus der Hosentasche – auch seine Jeans ist voller Blutflecken. Keine Nachricht von Nasim. Er stellt sich vor, wie sie friedlich auf ihrer Matratze schläft. Das Donnern der Einschläge sei ein wenig zurückgewichen, hat sie ihm zuletzt geschrieben – das ist schon einige Tage her. Dafür frieren jetzt bestimmt alle in ihren alten Decken, während er es sich in seiner beheizten Unterkunft gemütlich machen kann. Auch zuhause kehrt der Winter ein und in kaum einer Mauer sitzt noch ein Fenster.
Ein mahlender Schmerz bohrt sich plötzlich durch den Unterarm in seinen Körper, gefolgt von einem fiebrigen Pumpen. Yousif scheint, als hätte ihn derselbe Schmerz oder ebendieses Pumpen in der vergangenen Nacht mehrmals aus einem tiefen Schlaf oder aus wirren Träumen geholt. Was ihn in diesen Zustand versetzt hat, kann er nicht sagen. Überhaupt hat er keine Erinnerungen an den gestrigen Tag.
Er konnte sich unmöglich betrunken haben, Alkohol ist im Lager strengstens verboten – hätte er das wirklich riskiert? Mit ziemlicher Sicherheit hat er sich mittags, wie jeden Tag seit seiner Ankunft, zur Meldungsstelle aufgemacht – so wurde es ihm aufgetragen. Vermutlich hat er danach mit gutem Grund auf die Essensausgabe verzichtet und ist zum Scharfen Hannes an der Straßenkreuzung gegangen. Yousif blickt auf die Wanduhr über der Tür. Es ist 11 Uhr 45, er muss los. Eine zweite Hose hat er nicht, seine Jacke – sie liegt zerknüllt neben dem Tisch – war schon davor mit Flecken aller Art übersät. Er rafft sich auf, zieht sie an und drückt die mit geronnenem Blut verschmierte Türklinke nach unten.

Herr Yousif, haben wir einen Finger verloren?
Der Polizeibeamte blickt über den Rand der Schalterluke. Da wird’s aber schwierig mit dem Fingerabdrucknehmen. Das steht nämlich heute bei Ihnen an. Er schreibt etwas auf einen Notizzettel und deutet dem Dolmetscher. Sagen Sie ihm, er soll sich schleunigst im Disziplinar-Magistrat melden. Gebäude D, 2. Stock, Tür 6. Er schiebt das Papier durch den Schlitz. Danach kann er von mir aus zum Sani gehen.
Noch was, Herr Yousif: Wenn ihr euch da drüben gegenseitig abstecht, ist das eure Sache, aber in dem Moment, wo wir einen von euch dabei erwischen, sitzt ihr alle im Flieger. Oder haben wir uns den Griffel selbst amputiert? Er stützt die Ellenbögen auf die Tischplatte. Sie wissen schon, dass Sie sich damit strafbar machen? Na jedenfalls würde ich mich an Ihrer Stelle schnell auf die Suche machen, sonst können’S auf Ihren Antrag warten, bis Ihnen ein neuer Finger nachwächst. Übrigens, Herr Yousif, haben Sie schon über unser Angebot nachgedacht?

Das Disziplinarmagistrat ist unbesetzt. Mo-Di 9h30 bis 12 Uhr steht auf einem Aushang an der Tür. Den Sanitäter, einen pickeligen, kaugummikauenden jungen Mann mit Earpods in den Ohren, findet Yousif eher durch Zufall.

Alle Achtung, er zupft mit einer Pinzette die durchtränkten Papierstücke aus der Wunde. Normal überlebt man sowas nicht ohne Schmerzmittel und Antibiotika. Nachdem er das offene Fleisch desinfiziert und die Hand einbandagiert hat, reicht er Yousif eine Medikamentenschachtel – auf ihrer Front steht kein Name, auch alle anderen Seiten sind unbedruckt. Drei Tabletten pro Tag, aber nicht mehr.

Yousif beschließt, etwas essen zu gehen. Zum stechenden Schmerz, der sich in Schüben durch den Oberkörper wühlt, hat sich Hunger gesellt. Beides kann man nur schwer verorten, denkt Yousif. Beides tut weh, weil etwas fehlt. Geradeso, als wäre man bestohlen worden.
Den Weg zum Scharfen Hannes kennt er mittleerweile gut, auch wenn hier jede Ecke gleich aussieht. Weiße Wellblechcontainer, hohe Maschendrahtzäune, geneigte Überwachungskameras. Eigentlich sieht so kein Aufnahmezentrum, sondern ein Gefängnis aus, denkt Yousif. Immerhin kann man es verlassen, wenn auch nur bis zur nächsten Straßenecke. Er hält sorgfältig Ausschau nach Blutklecksen – die letzten hat er auf der betonierten Fläche vorm Stiegenhaus entdeckt, dann verlief sich die Spur im Winternebel.

Ein Finger lässt sich verkraften. Der Scharfe Hannes wendet seine brutzelnden Bratwürste und dazwischen eingeschlichteten Lammköfte mit der Grillzange. Er schwadroniert gerne, egal ob ihn die Leute aus dem angrenzenden Lager verstehen, oder nicht. Das mag Yousif an ihm. Auch, dass er für sie Versand- Pakete annimmt und es in seinem ASYL-Würstelstand Frankfurter ohne Schweinefleisch gibt.
Glaub mir, richtig grauslich wird es erst, wenn du dein Herz verlierst, oder eine Unterhaltsklage! Sein graugelbes speckiges Haar ist hinter die Ohren gestrichen, als wären nicht mindestens drei Jahrzehnte ins Land gezogen, seitdem er der Damenwelt den Hof machte und die Schürze noch nicht so am Bauch spannte. Aber eine Schweinerei ist das natürlich schon – eine echte Schweinerei…
Er stopft den Putenfrankfurter in die Hotdog-Wecke, worauf ein Gemenge aus Ketchup und Senf aus der Öffnung quillt. Bis zu 12 Stunden kann man sowas noch annähen, habe ich mal irgendwo gelesen, aber nur, wenn es vakuumverpackt ist.
Was dazu?
Yousif betrachtet die Reihe an trüben Einmachgläsern, in denen Essiggurken und Paprikaschoten tümpeln, betrachtet die Dichtungsringe unter ihren Deckeln. Das lange Fleischermesser, das auf einem feuchten Schneidebrett zwischen Pfefferonikernen liegt. Er schüttelt den Kopf.
Vor zwei, drei Jahren hättest du noch bessere Karten gehabt, heute weht hier ein anderer Wind. 3 Euro, weil du es bist.
Yousif kramt mit der linken Hand die Münzen aus seiner Hosentasche.
Die meisten Leute, die was zu sagen haben, sind korrupt, die scheren sich nichts mehr um Werte. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Der Scharfe Hannes wickelt eine dünne Serviette um sein Werk und reicht es Yousif durchs Fenster. Dass alle unter einer Decke stecken. Man weiß einfach nicht, wem man noch trauen kann.

Biiiep.
Aufgabe 14: Haben Sie jemals geplant, eine terroristische Handlung zu setzen? (Bitte beachten Sie, dass für diese Befragung Software zur Erkennung des Wahrheitsgehalts zum Einsatz kommt.)

Biiiep.
Aufgabe 2.222.222
Auf welches Organ würden Sie für eine Aufenthaltsgenehmigung am ehesten verzichten?
Haut
Niere
Herz

Der rote Balken blinkt und dröhnt wie eine Alarmsirene.
Ihre Überlebenschance beträgt 8,6 Prozent.

Yousif schreckt auf und würgt den Wecker auf seinem Handy ab. Ein gellender Schmerz umfängt seinen rechten Unterarm, sein T-Shirt und das Bettzeug sind vom Schweiß durchtränkt. Er hat geträumt, dass er beim Hotdog-Essen in einen Knochen beißt. Später wuchs ihm ein zierlicher Babyfinger aus dem blutigen Stumpf.
Auf dem Welcome Tablet leuchtet das Briefsymbol, eine neue Nachricht ist eingegangen. Sie kommt von der Lager- Verwaltung. Yousif soll binnen zwölf Stunden das Disziplinar- Magistrat aufsuchen. Aufgrund der Nichtbefolgung der ersten Anweisung werde ein Pönale von 50 Euro verhängt. Der neue Termin zur Abnahme der Fingerabdrücke werde mit xx.yy. angesetzt. Im Falle einer sofortigen Einverständniserklärung in Bezug auf das Rückführungsangebot vom xx.yy. könne er das Schreiben als gegenstandslos betrachten.

Das Disziplinarmagistrat ist heute wegen einer internen Schulung geschlossen. Der Dolmetscher, den Yousif für einen kurzen Moment aus einer Gruppe von Männern mit Formularen in den Händen loslösen konnte, ist sich ganz sicher, dass genau das auf dem Zettel steht. Yousif überlegt, ob er mit Hilfe des Dolmetschers eine Verlustanzeige erstatten könnte. Oder eine Anzeige wegen Körperverletzung – das wäre doch eigentlich angebracht – nur bei wem? – , aber da hallen schon Rufe nach dem armen Kerl durch den Gang und er eilt davon.

Geht heute aufs Haus, sagt der Scharfe Hannes und reicht Yousif seinen täglichen Hotdog über die Theke. Yousif schaut über die Straße, während er behutsam in die Wecke und den knackenden Frankfurter beißt. Die regennasse Kreuzung und dahinter die große Reklametafel mit dem seltsamen Mann, der seinem großen Bruder ähnelt, das ist das Einzige, was er von seiner neuen Heimat bisher gesehen hat, überlegt Yousif. BESSER FÜR UNSER LAND steht auf dem Plakat in blauen Lettern geschrieben.
Trübsal blasen, zahlt sich nicht aus, sagt der Scharfe Hannes, egal wie grauslich ein Tag daherkommt. Man darf sich nur nicht zu viel erhoffen. Übrigens, da ist Post für dich, Yousif. Er holt ein zigarrenförmiges Päckchen aus einer Lade und legt es auf die Anrichte. Yousif beugt sich ein wenig vor, es entpuppt sich als eingerolltes Luftpolsterkuvert das jemand dutzende Male mit Paketband umwickelt hat, sodass es aussieht wie eine kleine Mumie. Magst du nicht reinschauen?
Aber zuerst krieg ich eine Unterschrift, und der Scharfe Hannes schiebt Yousif ein Formular über die Theke und reicht ihm einen Bic-Kuli und sein Finger deutet auf ein Kreuz, es ist ein schmutziger Finger mit Kruste unter dem Fingernagel. Und Yousif greift zum Kuli und schwankt ein wenig. Dann setzt er seinen Namen aufs Kreuz und gibt dem Scharfen Hannes seinen Kuli zurück, ohne ihn anzusehen.
Besten Dank!
Yousif nimmt das Päckchen und geht.
Magst du nicht reinschauen, hört er den Scharfen Hannes noch fragen. Er geht einfach drauf los, ohne zu wissen, in welche Richtung. Ein graupendurchsetzter Wind schneidet ihm ins Gesicht, aber er fühlt sich ganz leicht und wohlig, weil er sein Herz schlagen hört und Nasim – sie ist nur noch sieben Stunden entfernt, höchstens acht, und er spürt, dass ihm nichts fehlt, jetzt wo es nichts mehr zu hoffen gibt.
Das Schlimmste ist, dass alle unter einer Decke stecken, hört er den scharfen Hannes in seinem Rücken murmeln. Der Bus kommt um 4 Uhr 15, ruft er noch hinterher. Sei bitte pünktlich und lass nichts zurück.

 

Martin Foszczynski
Geb. 1980 in Mödling, wohnt in Niederösterreich. Studierte Publizistik und Kunstgeschichte. Seither Fremdenführer, Reiseautor und Magazin-Redakteur. Schreibt vorwiegend Kurzgeschichten die u. a. im Standard ALBUM und in der Rampe erschienen. Er war Finalist beim FM4-Wortlaut-Literaturwettbewerb und ist Absolvent der Leondinger Literaturakademie.