95 / Kafkaesk / Prosa / Max Aichmair: Kalter Tropfen, kalter Stein

Hier ist eine schöne Gegend, sagt man, die sich in einer schönen Landschaft befindet, das sagt man auch. Von der schönen Landschaft sieht man nicht mehr viel, doch einen Betrieb sieht man stehen, was noch viel schöner anzusehen ist als jede Landschaft. Ein Betrieb belebt die Gegend, die dadurch an Schönheit und Leben gewinnt. Eine Landschaft ohne Betrieb ist nicht so schön wie eine Landschaft mit Betrieb. Keine Landschaft ist so schön wie ein Betrieb. Schön ist es, wenn man als Mensch in einem Betrieb arbeiten kann. Für jeden Menschen gibt es eine Aufgabe im Leben, die Arbeit heißt.

An einem Tag, der in Form und Farbe jedem ihm vorausgegangenen gleicht, arbeitet Martha.
Martha hat keine Zeit mehr, sondern weniger, weil das Jetzt sich bereits mit seinem Eintreten etwas von jener Zeit genommen hat, von der Martha gestern noch glaubte, dass sie ihr heute bleiben wird, vielleicht sogar übrig. Zeit bleibt aber nie übrig, Martha. Zeit läuft nur aus. Wenn Martha etwas macht, dann ist es arbeiten. Martha macht und macht und macht. Martha arbeitet immer. Auch jetzt arbeitet sie, denn es muss erledigt werden, was schon gestern hätte fertig sein können, um dadurch einen Erfolg für den Betrieb zu erreichen, der auch ein persönlicher ist, denn alles Berufliche ist auch Eigenes. Der Betrieb wird durch die Zuarbeit vieler anderer Frauen wie Martha betrieben. Martha ist eine von vielen. Sie ist ein austauschbares Zahnrad, sagt ihr Vorgesetzter, und schlägt ihr die Schneidezähne aus. Die Betriebsangestellten arbeiten sich ab, um dann mit dem, was dann noch da ist, ein Leben haben zu können. Martha arbeitet, weil auch sie gerne einmal ein Leben haben möchte.
Martha weiß nicht, dass die Arbeit das Leben ist.
Es tropft
              und tropft
                              und tropft.
Martha arbeitet, und es tropft
                                              und tropft
                                                              und tropft.
Hätte man Zeit, könnte man sich ärgern, doch man hat keine Zeit, muss also alles Ärgerliche vermeiden, um daran nicht noch mehr von der Zeit zu verlieren, die man sowieso nicht hat. Man hat gar nichts, und schon gar nicht hat man Zeit. Die Zeit gibt keinen Kredit, sagt der Vorgesetzte, wenn er zur Prozessoptimierung seinen Hammer auf ihre Stirn schmettert. Diese Hirnschale dieser Frau ist schon ganz verbogen. Die Arbeit hinterlässt ihre Spuren. Martha hinterlässt keine Spuren. Martha rechnet nach. Vielleicht kann sie mit geschärfter Konzentration, neu erblüht auf ruhigem Umfeld, wieder aufholen, sogar schneller sein? Wem fehlt denn schon je eine Minute in seinem Leben, das ein Leben lang nur vor einem wegläuft. Der Vorgesetzte erinnert daran, dass sie sich bereits gestern, beim Blick aus dem Fenster auf die sich vor ihr ineinander windenden Schleifen der Autobahn Minuten genommen hat, mehrere davon sogar, wodurch sie weit zurückfiel in der Erfüllung des Pensums, und springt mit seinen schönen Lederschuhen auf Marthas Händen herum, bis aus allen Fingern die Knochen herausstehen. Die Hände sehen jetzt nicht mehr schön aus, nur noch handähnlich. Martha denkt, dass heute alles ganz anders ist. Heute gewinnt sie.
Und es tropft
                     und tropft
                                      und tropft.
Martha, in Körper und Geist gänzlich erfüllt von Eifer, schabt den Brustkorb von der Tischkante. Ihre Absätze pressen beim Aufstehen Wasser aus dem Teppichboden. Es muss also ganz nahe sein, das Problem. Die Zeit zieht heran, was Martha erfolglos von sich weg drängt. Martha will heute erfolgreich sein. Leider wird Martha auch heute keinen Erfolg haben. Erfolg haben immer nur die Anderen. Vielleicht bei der Kopiermaschine, dort, wo auch die Toilettenräume sind. Martha hofft auf die Zeit als Verbündete, doch sie läuft ihr zwischen den Fingern hindurch. Die Wasserhähne sind zugedreht, seit Stunden war niemand mehr hier. Nur noch Martha und ihr Vorgesetzter sind im Büro. Aufmerksam gemacht auf das beständige Tropfen verwies der Vorgesetzte darauf, dass sie jetzt Initiative zeigen und beweisen müsse, mit den Anforderungen, die das Leben an einen stellt, in der Arbeit (die das ganze Leben ist) und außerhalb (wo der kleine Rest eines Lebenstraums verendet) ganz eigenständig umgehen zu können. Schließlich möchte sie doch etwas leisten, schiebt er mit der Faust nach, dass auch die restlichen Zähne aus dem Kiefer fallen. Ohne Fleiß kein Preis. Der Vorgesetzte sagt: Berufliche Erfüllung ist preislos. Martha geht wie immer leer aus und zahlt noch etwas drauf, denn das Leben ist nicht kostenlos. Martha kostet die Arbeit ein ganzes Leben. Die Küche! Immerhin ist die Geschirrspülmaschine bereits seit Bezug des Büros nicht richtig funktionsfähig, was an den Leitungen liegt, die noch vor Bezug des Büros nicht richtig eingebaut worden sind. Hätte sie nur schon früher mitgedacht, dann stünde sie jetzt nicht bis zu den Knöcheln im Wasser. Aber die Gedanken waren schon wieder woanders. Zuerst waren ihre Gedanken bei der Arbeit und dann beim Vorgesetzten, der jene Arbeit gibt, von der Martha gierig nimmt. Der Vorgesetzte denkt nicht an Martha oder die anderen Frauen, weil er so beschäftigt ist mit seinen Tätigkeiten als Vorgesetzter, die sich um das Wohl des Vorgesetzten drehen, was dem Vorgesetzten naturgemäß das Wichtigste ist, denn ein jeder muss schauen, wo er bleibt. Die meisten Menschen bleiben auf der Strecke zurück. Der Vorgesetzte fährt auf der Überholspur mit offenem Dach.

Die Druckermaschine im Gang zeigt eine Fehlermeldung, bevor der Bildschirm schwarz wird. Martha wird sich nach einer wasserfesten Druckermaschine umsehen, wodurch sie sich hervorheben kann und so eine begünstigte Stellung erreichen wird. Martha hebt sich selbst nach oben und tritt dabei auf ihre eigenen Schultern. Sie versucht sich durch die Äste der großen Birken zu schlagen, um zur Küchenzeile zu kommen. Nur noch die Arme liegen jetzt über der Oberfläche. Gegen den Fleiß von Martha stemmen sich Wellen. Das Wasser wirft sich mit seiner Masse durch die Räume, als ob es nicht wüsste, dass es einen strebsamen Frauenkörper in sich trägt. Die betrieblichen Vorschriften gänzlich unbeachtend, drückt sich der Fluss an allen Wänden vorbei und reißt eine gerade erst angebrachte Auszeichnung der Wirtschaftskammer von der Wand. Auch Martha will er jetzt verschlucken. Zwischen Kabeln und Mappen windet sich diese Frau hin zur Luft, die immer näher an die Decke rückt. Über Martha, von wo aus sonst der Vorgesetzte auf die Frauenmasse eindrischt, verspricht sich hell ein Ausweg auf grüne Heiden. Martha möchte gerne diesen Ausweg begehen und hakt das, was von den Fingern noch übrig ist, es ist nicht sehr viel, in den lehmigen Vorsprung. Doch der Boden nimmt die Frau, aus deren Mund es schäumend gurgelt, nicht an. Vor Marthas Augen zerfällt die Erde und ihr dabei in das Gesicht. Jäh treibt eine Ansammlung an Birkenstämmen, achtlos von der Natur in das ihr entspringende Gewässer geworfen, ums Eck, und stößt den Kopf vom Hals. So wie die Zeit in ihrem Fluss vergeht, ist für Martha Betriebsschluss.

 

Max Aichmair
Geb. 1994 in Wien, studierte zuerst Mode an der Universität für Angewandte Kunst und dann Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Veröffentlichungen in verschiedenen Literaturzeitschriften.