95 / Kafkaesk / Prosa / Michael Zagorec: Der Haushalt

Gregor marschierte durch den patzigen Schnee. Über ihm erstreckte sich eine graue Wolkendecke. Die zarten Windstöße kühlten seine Haut und die Nässe erzeugte ein leichtes Kribbeln in seiner Nase. Er rümpfte sie ein paar Mal, während sich die Abgase der vorbeifahrenden Autos mit der Luft mischten. An das Stadtleben hatte er sich bereits gewöhnt, aber nicht an den Geruch. Besonders im Winter schien er sich mit dem Atmen nicht zu vertragen. Anders als dem Land bleibt der Schnee in der Stadt nicht als weiße Decke liegen, sondern er mutiert zu einer grauen Masse. Und dann lebt man noch direkt neben der Hauptstraße. Aber er fand sich damit ab. Man muss sich mit den Dingen abfinden, um nicht zu resignieren.
Er ging zur Apotheke, um sich ein Vitamin-D-Präparat zu holen. Der Winter tat seinem Haushalt nicht gut. Seit drei Jahren holte er sich etwa zur selben Zeit sein Präparat. Immer dasselbe. Manchmal überlegte er, ob er sich eine andere Wohnung suchen sollte, aber dieser Gedanke verwandelte sich nie in einen endgültigen Entschluss. Ein Umzug wäre mit zu großem Aufwand verbunden und mit Lageveränderungen tat sich Gregor äußerst schwer. Alles musste seinen Platz haben, ein Gegenstand genauso wie ein Mensch. Außerdem wollte er den Balkon nicht aufgeben und die Wohnblöcke um den Innenhof, indem er wohnte, boten ihm Schutz. Die Apotheke war gleich um die Ecke. Die Verkäuferin verhielt sich freundlich, so wie er es gewohnt war. Dieser Besuch löste in ihm eine leichte Zufriedenheit aus, auch wenn sie nur für einen kurzen Moment anhielt, aber es war immerhin etwas. Als er wieder zur Wohnung zurückging,
vergrub er seine Hände in die Jackentaschen, atmete kleine Wölkchen in die kalte Luft und beugte sich etwas nach vorne, um seinen Schritt zu beschleunigen.
„Verdammter Haushalt“, plapperte er leise vor sich hin. Natürlich wusste er, dass sein Zustand nicht alleinig durch einen Vitamin-D-Mangel zu erklären war. Trotzdem hielt er daran fest, zumindest etwas zu unternehmen, schließlich hatte es ihm sein Hausarzt empfohlen. Aber manchmal ist dem Menschen seine Überzeugung mehr wert als die Einsicht.
Wie immer ging er durch das erste Treppenhaus, das zum Innenhof führte und warf einen Blick auf seinen Balkon, der üblicherweise mit Kletterpflanzen überwachsen war. Die Jahreszeit hatte die Blätter verschwinden lassen und die nackten Ranken klebten wie dünne Äderchen an dem Geländer und der Hausmauer.
Vor seiner Wohnungstür wollte er den Schlüssel ins Schloss stecken, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht. Mehrere Male wiederholte er diese Prozedur ohne Erfolg. Langsam wurde er ungeduldig. Kurz bevor er sich von der Tür abwandte, um bei einem Nachbarn anzuläuten und herauszufinden, was vor sich ging, hörte er ein Geräusch aus seiner Wohnung.
Als die Tür aufging, stand ihm eine junge Frau gegenüber. Ihre hellbraunen Haare waren hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre braunen Augen funkelten ihn fragend an.
„Was wollen Sie?“, erkundigte sie sich.
Gregor wusste nicht wie ihm geschah, kniff die Augen zusammen und er trat erschrocken einen Schritt zurück. Aus dem Inneren flog ihm ein unbekannter Geruch entgegen, der nicht seiner Wohnung angehörte.
„Was machen Sie hier?“, entgegnete er ihr.
Die junge Frau wirkte verwirrt und lugte misstrauisch neben der Tür hervor.
„Ich wohne hier… was… was machen Sie hier?“, stotterte sie.
Gregor bemerkte, dass sie verängstigt war.
Dann sagte er mit ruhiger Stimme: „Ich habe mir mein Vitamin-D-Präparat geholt. Für meinen Haushalt, verstehen Sie? Ich war nur etwa fünf Minuten weg und jetzt stehen sie in meiner Wohnung.“
Während dieser Erklärung bemühte sich Gregor, ruhig zu bleiben, auch wenn er durch dieses absurde Ereignis unruhiger wurde. Langsam nickte er ihr zu, um herauszufinden, ob ihm die Frau folgen konnte. Sie wiederrum schüttelte den Kopf und ihr Gesicht nahm besorgte Züge an.
„Bitte gehen Sie jetzt“, flüsterte sie.
„Aber bitte!“, stieß er hervor und erkannte nicht, dass sich die Lautstärke seiner Stimme erhöht hatte. „Sie können nicht einfach in meine Wohnung einbrechen und mich dann wegschicken. Glauben Sie, ich falle darauf rein?“
„Bitte gehen Sie jetzt und lassen Sie mich in Ruhe!“, forderte sie ihn auf und bemühte sich, die Tür zuzustoßen.
Gregor legte aber rechtzeitig seinen Fuß in den Spalt und drückte die Tür auf. Es fiel ihm leicht, weil er um einiges stärker war als die Frau. Ohne zu überlegen, stampfte er aufgewühlt durch den Vorraum und stand schließlich im Wohnzimmer. Er ließ besiegt die Schultern hängen und schaute sich verzweifelt um. Ihm wurde klar, dass er sich in einer fremden Wohnung befand. Es roch anders, seine Möbel waren verschwunden und die Wände wiesen eine andere Farbe auf.
„Das… das kann doch nicht sein…“, stotterte er leise vor sich hin.
„Ich rufe die Polizei! Verschwinden Sie!“, schrie ihm die Frau entgegen. Tränen der Angst liefen ihr über die Wangen und Gregor kam sich seltsam vor. Nach einigen Sekunden der Regungslosigkeit verließ er schließlich die Wohnung. Hinter ihm hörte er das rasche Einfallen des Schlosses. Fassungslos ging er durch den Innenhof, danach durch den Abschnitt des Stiegenhauses und befand sich wieder neben der Straße.
„Das kann doch nicht sein…“, sagte er und vergrub seine Hände in die Jackentaschen.
Er ging zur naheliegenden Flusspromenade. Dort versuchte er sich ein wenig zu beruhigen und ging das obskure Ereignis nochmal im Gedanken durch. Über ihm ertönte das unheilvolle Rattern eines vorbeifahrenden Zuges, als er unter einer Eisenbahnbrücke durchschlenderte. Vom Himmel fielen kleine Schneeflocken herab und lösten sich auf, als sie die Oberfläche des Flusses berührten. Gregor zog sich seine Kapuze über und langsam brach die Dämmerung über ihn hinein. Schließlich kam ihm eine Idee. Er zückte sein Handy, rief seinen Vermieter an und lauschte dem Klingeln auf der anderen Leitung. Sein Vermieter meldete sich und Gregor schilderte ihm aufgeregt die ganze Situation.
„Wer sind Sie nochmal?“, fragte ihn die Stimme.
„Gregor. Ich bin einer Ihrer Mieter!“, versuchte er sich zu erklären.
Er wiederholte die Geschichte mehrere Male, stellte ebenso fest, dass ihn langsam die Wut überkam, doch sein Vermieter bestritt, ihn zu kennen und unterbrach das Gespräch. Ein unsichtbarer Schatten legte sich über ihn. Er verschlang ihn langsam und ernährte sich von seiner Hoffnungslosigkeit. Also spazierte er weiter, weil ihm nichts Anderes übrigblieb. Er dachte nicht mehr daran, noch etwas zu unternehmen, um dem Rätsel auf die Schliche zu kommen. Er hatte aufgegeben. Vielleicht war es auch nur ein Streich, ein blöder, unsinniger und bösartiger Streich, den sich jemand erlaubte. Aber zum Lachen war ihm nicht zumute.
Aus seiner Jackentasche holte er den kleinen Plastikbehälter, den er sich in der Apotheke gekauft hatte. Er fischte ein Vitamin-D-Präparat heraus und schluckte es.
„Für den Haushalt“, flüsterte er.
Vor ihm erschlossen sich die Lichter der Altstadt. Aus unmittelbarer Nähe vernahm er Gespräche von Passanten.
Ein Pärchen spazierte mit einem Hund an ihm vorbei. Der Alltag der Menschen umzingelte ihn und er konnte ihn schonungslos wahrnehmen. Sein eigener jedoch entglitt ihm langsam. Er war fast nicht mehr vorhanden. Gregor entschied sich in eine Bar zu gehen, dort vielleicht zu warten, bis ihm etwas einfiele oder die Auflösung dieses finsteren Vorfalls zustande käme. Als wäre er seiner Sinne beraubt worden, glitt er fast lautlos durch die Gassen der Stadt, die ihre Leuchten einschalteten und ein gedämpftes gelbliches Licht hinabscheinen ließen.
Gregor schob die Glastür auf und begab sich in den warmen Raum des Lokals. Einige Tische waren besetzt aber der Andrang hielt sich in Grenzen. Plötzlich fachte ein klitzekleines Feuer der Hoffnung in ihm auf, als er an der Theke einen Freund sitzen sah. Gregor formte ein kleines Lächeln, als er auf ihn zuging. Er stupste ihn leicht an der Schulter an, dieser drehte sich um und schaute irritiert drein.
„Peter! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen!“, entfuhr es ihm.
„Kennen wir uns?“, erwiderte der Mann verblüfft.
Und ehe Gregor weitersprach oder sich bemühte, seinem Freund den Vorfall zu schildern, begriff er, dass jegliche Erklärungsversuche wertlos waren. Betrübt ließ er den Kopf hängen und der Mann, von dem Gregor glaubte, er sei sein Freund, wandte sich wieder ab.
Von der Niederlage überwältigt, verließ er das Lokal. Ein letzter Gedanke kam ihm noch. Er holte seine Brieftasche heraus, durchsuchte aber vergebens die Fächer. Es geschah, was er befürchtet hatte. Er konnte keinen Ausweis finden. Trübselig schwankte er auf dem Gehweg entlang.
Der Weg vor ihm war verlassen und mit einer leichten Schneeschicht bedeckt. Seine Schritte hinterließen kleine Fußspuren. Er war nur mehr eine leere Hülle, die keine Identität besaß. Ihm war, als würde er nicht mehr sein.

 

Michael Zagorec
Geb. 1993 in Zell am See, Österreich, geboren. Das typisch Traditionelle und Angepasste mochte er nie besonders und gründete infolgedessen in seiner Jugend eine Punkband. Eine erhoffte Revolution blieb aus. Heute arbeitet er als Lehrer in Salzburg, macht weiterhin Musik und schreibt.