95 / Kafkaesk / Prosa / Sandra Humer: Carolina Reaper

Die unsichtbare Frau faltete ihre dünnhäutigen Hände und ging in sich. Bedächtig zählte sie die unbändigen Male, die sie in ihrem Leben von anderen beiseitegelegt worden war, und alsbald stellte sich eine gewisse Resignation ein, welche jedoch von einem Quantum Killerinstinkt begleitet wurde. Diese empfundene Indifferenz galt einzig und allein dem Lebenssinn, die Lust auf fremden Schmerz entwickelte sich jedoch überproportional schnell zu einer lasterhaften Getriebenheit, die ihr so noch nicht untergekommen war.

Sie wäre so leicht zu durchschauen gewesen! Man müsste die Menschen vor ihr warnen, über ihr Vorhaben in Kenntnis setzen, retten, was zu retten ist, aber niemand glaubte mehr an fremde Worte, nur mehr an die eigenen. Wenn das Gegenüber mit Meinungen um sich schlägt, weil es die Gewohnheit dazu bringt, nur von sich selbst zu reden, dann hört man auf, den anderen wahrzunehmen. Das Ich stellte sich objektiv scharf und nahm mittig Platz auf der Landkarte des Egotrips.

Entschlossen startete sie ihr undurchsichtiges Manöver. Ihre angeborene Skoliose zwang ihren Kopf in eine leichte Rechtsneigung, die aber dank ihrer Unsichtbarkeit in keinster Weise angsteinflößend wirkte. Emsig und zielgerichtet machte sie sich ans Wetzen, denn die mikroskopisch kleinen Beschädigungen in den Klingen, die vor allem durch Schnitte in weichem Schneidegut entstanden waren, mussten umgehend ausgemerzt werden. Die kopflastige Kanaille sorgte mit ihrem einstudierten Kriegstanz für eine messerscharfe Grundstimmung, anschließend war es Zeit für Carolina Reaper. Zuerst malzig-süß mit fülligen Röstnoten, dann scharf wie ein Rottweiler – eine wortwörtliche Geschmacksexplosion, die mit 2,4 Millionen Scoville Löcher in die Speiseröhre reißt. Mit Glacéhandschuhen strich sie zart über das Capsicum-Monster, bevor sie sich, mit ihm im Gepäck, in Bewegung setzte.

Das rechte Bein der Durchsichtigen ließ dabei den Kopf hängen und wurde aus unerfindlichen Gründen von ihrem Körper nachgeschleift, als wäre sie gerade aus dem Grab der Toten auferstanden. Der braune Koffer in ihrer linken Hand ritzte Ausrufezeichen in den Asphalt, so, als wollte er die Menschheit vor ihrem bevorstehenden Untergang warnen. Doch niemand schien Notiz von dem Grenzgang des guten Geschmacks zu nehmen, ihre gläserne Existenz kam ihr in dieser dringlichen Angelegenheit sehr gelegen. Zielstrebig schwebte sie durch die ländliche Steppe und landete sanft vor den Toren der Entscheidungsträger. Endlich würde sie ihnen in ihre Gesichter blicken können, ein einziges und letztes Mal in ihre ignoranten, selbstgefälligen Fratzen gaffen, bevor Caroline Reaper sie guillotinieren sollte.

Als sie unvorbereitet eine scharfe Kurve nach links nehmen musste, um durch den Seiteneingang in die höheren Etagen zu gelangen – dort, wo die schwarzen Panther in ihren Käfigen schon seit Menschengedenken am Zahn der Zeit nagten –, stieß sie mit jemandem zusammen. Der braune Koffer entleerte sich unverzüglich, so, als wollte er etwas unbedingt loswerden, und die frischgeschliffenen Messer sausten zuerst wie Samuraischwerter hoch in die Luft – die, nebenbei bemerkt, eine etwas stechende Kuhdung-Note aufwies –, um dann mit einer unbändigen Wucht den Boden der Tatsachen zu durchbohren. „Sind Sie verletzt?“, sprach eine sanfte unbekannte Stimme, die sie kaum orten konnte. „Physisch unversehrt, danke.“ Ihr nervöses Augenzucken beruhigte sich zusehends und auch ihre Beine nahmen wieder Form an und gewannen an Symmetrie und Straffheit. „Ich hab Sie leider nicht gesehen, tut mir leid.“ – „Ich suche die Betriebskantine, mein erster Tag heute. Können Sie mir sagen, wo ich dieses Herzstück der Anstalt hier finden kann?“ – „Nehmen Sie den gläsernen Aufzug in der Empfangshalle, der führt Sie direkt in des Teufels Küche! Viel Erfolg wünsch ich Ihnen und vergessen Sie Ihren Koffer nicht, die Messer habe ich Ihnen bereits hineingelegt. Sind unversehrt und bereit für den Einsatz! Bonne chance!“ – Mit einem leisen Lächeln packte die durch und durch transparente Frau ihren Koffer an den Haltegriffen und schritt unbeirrt und zielstrebig wie eine Eisprinzessin Richtung Hexenkessel.

Von niemandem eines Blickes gewürdigt, breitete sie ihr Messerset nach ihrer Ankunft – dort, wo die schwarzen Panther in ihren Käfigen schon seit Menschengedenken am Zahn der Zeit nagten –, feinsäuberlich auf dem Nirosta- Arbeitstisch aus – von der Machete bis zum Skalpell war alles vorhanden – und machte Carolina Reaper mithilfe einer jahrhundertealten Schnitzkunst für ihren großen Auftritt zurecht.
Der kleine illustre Kreis der Mächtigen und Reichen des Landes küsste und umarmte sich pünktlich zur Mittagsstunde hungrig und begierig, bis wie von Geisterhand die Tischglocke den ersten Gang signalisierte. „Mit dem richtigen Schliff und einer imposanten Optik lässt es sich schon gut leben, du siehst übrigens scharf aus, wenn ich das so sagen darf!“, polterte der Sonnenkönig, der Oberste seiner Zunft, klatschte in die Hände und griff seiner Nebenfrau auf den üppigen Vorbau. Diese rückte ihren Stuhl zurecht, tat seinen Anschlag auf ihr Menschenrecht mit einem süßen Lächeln ab und nahm zu seiner Linken Platz. Schließlich hatte sie es einzig und allein seinem väterlichen Wohlwollen zu verdanken, an dieser Elefantenrunde teilnehmen zu dürfen. Denn obwohl ihre meisterliche Abschlussarbeit an einer der mittlerweile zahlreichen Startup-Akademien im Umland eher als Griff ins Klo zu bezeichnen war, schien er an ihrer lieblichen Gestalt Gefallen gefunden zu haben. Daneben nahm ein guter Freund des Hauses seinen Sitz im Olymp ein. Er schien aus dem Land des Lächelns nicht mehr zurückzufinden und war Meister des Durchwinkens, ein angenehmer Zeitgenosse. „Meine Verehrung! Was macht die Familie? Repräsentiert sie in der Ihnen gebührenden Form? Beim Schulversuch können wir Ihren Kindern gern unter die Arme greifen, sollte sich dieser nicht nach Wunsch gestalten, mein Freund, geben Sie Bescheid, amikale Gespräche haben noch nie ihr Ziel verfehlt!“

Leere Worte wurden mit Hochprozentigem gefüllt und über die linke Schulter geworfen, ein alter Brauch, der vor Demaskierung, Spott und Ressentiments schützen soll. Der Küchenmeister gesellte sich händereibend zu den ehrenwerten Amtsträgern und frohlockte über die Einzigartigkeit seiner lukullischen Kompositionen. Er habe es eigentlich nicht nötig, für sie tagtäglich ein Menü zu zaubern, von denen andere nur träumen konnten, es wäre heute sein letzter Coup, er kündige mit sofortiger Wirkung. Dieser rebellische Akt des blanchierten Gastronoms wurde unter tosendem Applaus begraben und der Sommelier köpfte die erste Flasche Champagner mit einem speziellen Säbel, den er stets um die ausufernde Hüfte trug. „Ich bitt‘ Ihnen, tu‘ er das gefälligst weg, diese altertümliche Waffe, er tät‘ uns am End‘ noch massakrieren damit!“, jauchzte die Gattin des pensionierten Lackaffen und rollte mit den frisch toupierten Augen.

Im drakonischen Gleichschritt trugen teilzeitbeschäftigte Alleinerzieherinnen das Oeuvre des heutigen Tages auf dem Präsentierteller. „Bouillon vom Schaf“ wurde emsig herbeigeschafft und den hungrigen Mäulern vor den Latz geknallt. „Très chic!“, züngelte der dritte Klinkenputzer von rechts, als er den Tatsachen ins Auge blickte. Hurtig griff die versammelte Mannschaft zum goldenen Löffel, wünschte sich im Kreise der Privilegierten eine gesegnete Mahlzeit und wartete auf ein Zeichen von oben. Nachdem der übergeordnete Amtsinhaber bereits bedächtig seine braune Brühe schlürfte, tat man es ihm gleich. Mit jedem Schluck hinab in die trockenen Kehlen kumulierten das Räuspern, Pfeifen und Röcheln ganz langsam, anfangs schier unbemerkt, zu einer fortwährend in der Lautstärke ansteigenden Melodie der Marter. Während dieses ekelerregenden Spektakels drängten wildfremde Menschen – nichtsahnend – von ihren Häusern auf die umliegenden Straßen, um ihre müden Körper zu diesem herrlichen Rhythmus hin- und herzuwiegen, man fasste einander an den Händen und spürte, wie der angestaute Hass und die empfundene Hilflosigkeit der Lebensfreude wichen. So schwebten sie ob ihrer neuerworbenen Leichtigkeit in höhere Sphären des Glücks und empfanden nichts als Liebe und Zufriedenheit, als ob sie von unsichtbarer Hand, ganz behutsam, von einer zuvor empfundenen Last befreit würden.

Dieses hinterwäldlerische Sodom und Gomorrha in dem hochkarätigen Saale war hingegen kaum zu ertragen, alle reckten sie ihre langen Hälse und streckten ihre gespaltenen Zungen weit hinaus, um dem innerlich entfachten Schwelbrand Einhalt zu gebieten. Das Wasser, das sie Zeit ihres Lebens zu predigen pflegten, schien ihnen nun die einzige Rettung zu sein, denn der handverlesene Wein goss nur Öl ins Feuer. So kehrten ihre Körper gezwungenermaßen ihr Innerstes nach außen und versuchten sich aus dem Würgegriff der Killerschote zu befreien – es war bei Gott kein schöner Anblick. Diejenigen, die diese undefinierbaren Überreste der einstigen Elite des Landes unter den Tisch kehren mussten, bemerkten scharfzüngig, dass „die Luft da drinnen zum Schneiden gewesen war!“ Aber irgendwie schien dieses Gemetzel niemanden zu interessieren, bald wurde es als Gerüchteküche abgetan, man hätte Wichtigeres zu tun, als sich mit sich selbst zu beschäftigen, so der Tenor des Hauses. Man müsse in die Zukunft blicken!

Die transparente Frau gewann an Kontur. Ihre fristlose Kündigung wartete bereits auf dem Schreibtisch des dafür zuständigen Kommerzialrats, der bedauernswerterweise heute Mittag beim Versuch, die Suppe gemeinschaftlich auszulöffeln, aus dem Leben gerissen wurde, oder das Leben aus ihm.

 

Sandra Humer
Geb. 1976 in Wien, Studium der Germanistik und Anglistik in Wien, danach 2 Jahre Radioerfahrung bei 88,6 und Radio Max (Redaktion und Moderation). Sprechtraining bei ORF-Legende Michael Schrenk. Seit 2006 in NÖ wohnhaft, Lehrerin für Englisch und Deutsch, Unterrichtspraktikum in England, danach Anstellung an AHS in Wien und Niederösterreich. Mutter von 3 Kindern, glücklich verheiratet.
Kontakt für Lesungen: sandra.humer@aon.at