95 / Kafkaesk / Prosa / Sophie Reyer: Schildkrötentage

„Ein Käfig ging einen Vogel suchen.“
(Franz Kafka)

Das erste Mal fällt es mir auf, als ich dusche: Eine seltsame Verkrustung am Rücken. Hart und braun. Sie erinnert an Borke. Ich versuche, die Schicht herunterzuziehen, von meinen Schulterblättern abzuschälen. Aber es geht nicht. Die Haut ist hart und rau. Es fühlt sich an, als wäre sie festgewachsen. Seltsam.

„Das ist eine eigentümliche Anomalie“, sagt die Hausärztin, als ich am nächsten Tag in ihrer Praxis sitze.
„Erinnert ein wenig an humane Papillomviren.“
Ich nicke verwirrt.
„Verstehe. Und was heißt das?“
„Nun, ein Gendefekt in der Haut vermutlich.“
„Aha. Und was passiert mit Leuten, die an so einem Gendefekt leiden?“
Sie schluckt.
„Nun ja. Also sie....“
Erwartungsvoll sehe ich die Ärztin an. Fixiere ihren Lidschlag.
„Sie verwandeln sich in organische Einheiten, nach und nach. Aber bei Ihnen scheint es etwas anderes zu sein.“

Organische Einheiten, denke ich zu Hause. Das klingt im Grunde ganz gut. Dennoch empfinde ich eine gewisse Fremdheit meiner Haut gegenüber. Ich zupfe, zerre. Dann greife ich nach einem Messer und versuche, die seltsame Schicht von meinem Rücken zu kratzen. Ich muss mich dabei auf eine eigentümliche Art und Weise verdrehen, den Arm nach hinten legen und in einer raschen Bewegung mit dem Messer in die Höhe stechen und schaben. Ich beginne zu schwitzen, atme rasch, hechle. Am Ende dann ein lautes Geräusch. Ich drehe mich um. Ein Plättchen ist in die Badewanne gefallen. Ich bücke mich, hebe es auf. Es sieht aus wie eine Schuppe, jedoch weniger glänzend. Seltsam. Kein Gefühl der Erleichterung, das sich einstellt.

Meine Großmutter hatte eine Schildkröte. Sie hieß Pipimaus. Ich erinnere mich: Sie war so groß wie ich. Ich konnte nur kriechen. Sie konnte nur kriechen. Ich hielt sie in die Höhe, selbst auf dem Rücken liegend. Sie streckte den Kopf nach mir aus. Dann zog sie alle Glieder ein. Ihr Blick war tief und stumm. Kaum war ich vier geworden, lief sie fort. Danach bin ich nie wieder jemandem begegnet.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, merkte ich, dass ich Mühe habe, mich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Ich versuche, aufzustehen. Rolle, wackle. Strauchle. Hantle
mich schließlich mit den Fingern nach vorne bis zu meinem Sessel, an dem ich mich in die Höhe ziehe. Meine Wirbelsäule fühlt sich steif an, als wäre sie taub. Kaum habe ich den Spiegel im Badezimmer aufgeklappt und nach einem zweiten gegriffen, um in ihm meinen Rücken betrachten zu können, merke ich, dass meine gestrige Aktion sinnlos gewesen ist. Anstelle des einen Plättchens sind zwanzig nachgewachsen. Ein Panzer, denke ich. Ein Panzer also.

„Ich will eine Schildkröte haben, Mama“, beharrte ich noch Jahre später.
„Da hast du eine, mit der geh ins Bad.“
Mein Vater hielt mir eine grellgrüne Plastikminiatur vor die Nase, die nach Gummi stank.
„Aber eine echte.“
„Die scheißt mir alles an!“, sagte meine Mutter.
„So spricht man nicht“, sagte mein Vater.
Ich begann zu brüllen.
„Schildkröten werden ganz entsetzlich gequält, über die Grenze geschmuggelt, damit sie hier gekauft werden“, erklärte meine Mutter ein wenig sanfter und schob mir eine Tasse Kakao unter die Nase.
„Ich will eine Schildkröte haben“, schrie ich.
Schließlich wurde ich heiser, ging mit verheulten Augen ins Bad uns spielte mit meiner Gummischildkröte, die mir überaus lächerlich vorkam. Sie war giftgrün, knallig, fluoreszierend. Ihr Aussehen erinnerte auf unangenehme Art und Weise an einen aufgeblähten Luftballon. Sie konnte Wasser schlucken und wieder ausspeien.
„Und, geht es dir besser?“, fragte mein Vater.
Ich spritzte ihm ins Auge. Er stieß einen gellenden Schrei aus, der einen erstaunten Unterton hatte. Meine Mutter kam wieder herein. Sie war wütend. Sie schrie.
„Weißt du, was mit Schildkröten gemacht wird? Sie werden über die Grenze geschmuggelt.“
„Das hast du schon gesagt.“
„Dabei werden ihnen die Beine abgeschnitten, amputiert und später wieder angenäht. Willst du das? Willst du schuld daran sein, dass eine Schildkröte wegen dir verstümmelt
wird?“
Ich betrachtete meine Füße. Das Wasser schwappte aus der Wanne. Mir war ganz komisch. Ich spürte auf einmal, dass ich eine Zunge im Mund hatte. Ein bedrängendes Gefühl. Der Atem wollte nicht mehr so ganz aus mir herauskommen, und die Worte auch nicht.

Erst Jahre später fand ich heraus: Meine Mutter hatte mich belogen.

Da mir niemand sagen kann, was mit mir los ist, begebe ich mich selbst auf Recherche. Das Internet. Bilder anklicken. Auf YouTube entdecke ich eine Dokumentation über Männer und Frauen, die zu Bäumen werden. „Treeman“ nennt sich das, was mich aus einem borkenartigen, warzenübersäten Körper mit traurigen Augen aus meinem Laptop herausansieht. Das sei eine Hautkrankheit. Ich spüre meine Zunge nicht mehr, als ich die Dokumentation über „Treeman“ ansehe.
Der Baummensch aus Indonesien sieht verstört aus. Sein Rückgrat ist geknickt, weil seine Rindenhände und Rindenbein so schwer sind. Sie versuchen offenbar, ihn mitVitamin A zu heilen. Lächerlich, denke ich. Der Schmerz in seinen Augen klappt nach innen. Ich habe diese Augen schon an Tieren gesehen, wenn sie eingesperrt in Käfigen saßen. Sie hatten ihren Blick in einen inneren Raum zurückgezogen, der sie beschützte. Mit einem Mal kann ich nicht mehr atmen. Ein Moment der Verstörung.
Schließlich hört die Schlucksperre auf. Ich google nach einigen der Bilder, drucke sie aus und stopfe sie in die Tasche.

Ich war ein komisches Kind. Ich bohrte mit meinem Kopf Höhlen in die Bettdecke, um mich zu verstecken. Mir war immer kalt und meine Handteller wurden leicht feucht. Oft träumte ich von kuscheligen, winzigen Zimmern, in die ich mittels einer Rutsche gelangte. Auch sie waren etwas Ähnliches wie Höhlen. So wie eine Schildkröte aus Hölzern Zelte aufschichtet, schichtete ich hinterm Haus meiner Eltern Brennholz auf, bis sich kleine Häuschen ergaben. In denen ließ ich mich und meine Reptilien wohnen. Das waren Triceratopse mit harten Schädeln, Godzillas aus Plastik mit zwei Köpfen, haarige Monster aller Art und komische Drachen, deren Köpfe innen hohl waren und die man leicht eindrücken konnte. Ich strickte ihnen Gewänder, ließ sie mit mir mitessen. Abends schliefen die Dinosaurier in meinem Bett. Der Geruch nach Plastik erwärmte mein Herz. Es war mein Geruch nach Heimat, nach Erde, nach Glücklichsein geworden. Manchmal wünschte ich mir den Hals eines Brontosaurus, auf dem ich hinabrutschen konnte, wieder und wieder. Oder ich stellte mir vor, an Hörner geklammert auf einem Triceratops zu reiten. Ich sammelte die Monster, Dinosaurier und Drachen in einer Schublade, die mir bald heilig wurde. Nach der Schule baute ich Türme oder Straßen aus ihnen, ich ließ sie die Haare der Ponys und Barbies fressen, mit denen meine Schwester spielte. Es war eine gute Zeit, denke ich heute. Auch ohne Schildkröte. Das lag an den Höhlen.

Mit den Bildern des Baummenschen gehe ich zu meiner Ärztin. Ich versuche, sie vorsichtig darauf hinzuweisen, dass mit mir Ähnliches passiert. Sie tastet meinen Rücken ab.
„Wie wäre es für den Anfang mal mit einem Antibiotikum?“, schlägt sie vor.
„Was soll das denn?”, frage ich mich und merke wieder, dass ich eine Zunge im Mund habe.
Kurze Stille. Ein Moment der Peinlichkeit.
„Ich weiß nicht, vielleicht ist das ein wenig fehl am Platz?“, frage ich unsicher.
„Wissen Sie, im Grunde sollten Sie sich einfach so lieben, wie Sie sind“, fährt sie fort.
Ihre Hände sehen zierlich aus und sind mit roten Sommersprossen übersät. Sie legen sich um meinen Hals. Die Ärztin zieht meinen Kopf ein wenig an ihre Lippen heran, atmet in meinen Nacken hinein.
„Ich hab mal Schildkröten beim Sex beobachtet“, fährt sie fort. „Die recken den Kopf so raus und dann wieder rein.“
Sie beginnt, mir den Rücken abzulecken, irritiert vollführe ich eine rasche Bewegung, knirsch, zack. Ein Schrei. Verdammt. Dass mein Rücken dermaßen hart ist, habe ich natürlich nicht bedacht. Habe ich ihr das Kiefer gebrochen?
Ich drehe mich langsam um und sehe sie an. Der Ärztin schützt ihre linke Backe mit der Schale ihrer Hand. Meine Finger zittern, stammeln, suchen nach dem weiten Pullover, in den ich mich gekleidet habe, weil mein Panzer gut in ihm Platz hat.
„Ich muss los dann “, sage ich.

Seit frühester Kindheit also: Diese uneingeschränkte Vorliebe für das Monströse. Ich lief mit einem Dinosaurier im Arm umher, nannte ihn Marian, fütterte ihn bei jeder Gelegenheit. Ich erinnere mich: Sein harter nackter Schädel aus Gummi. Manchmal zog ich ihn an seinem langen Schwanz hinter mir drein. Marians speckige Babyschenkel waren mir das Liebste auf der Welt. Ich krümmte mich, spielte Ei für den Dinosaurier. Sammelte die winzigen glitschigen Wesen mit Reptilienhaut, die mir meine Tanten und Onkeln geschenkt hatten, in Kisten ein und baute hinterm Haus kleine Höhlen aus Holzscheiten für sie. Manchmal zischte eine Sternschnuppe über den Himmel.
„Ich will eine Schildkröte“, dachte ich mir dann, Augen fest zu, Lider gegeneinander gepresst, heimlich, still. Der Wunsch schoss nach innen. Schoss ins Herz zurück, oszillierte zwischen Bauch und Hirn, immer wieder. Die Wünsche, die man einer Sternschnuppe schickt, darf man keinem erzählen, hatte der Vater gesagt. Meine Wünsche blieben also sorgfältig aufbewahrt in meinem Kopf. Ich betrachtete den Sternenhimmel. Er war endlos, das Licht erreichte uns zu spät, wusste ich, da waren viele Sterne bereits tot. Die Kuppel des Himmels schützte meinen Kopf, ein dunkler Himmel, dunkel und ruhig, ein Gefühl von Güte, wenn es so etwas geben sollte.

Vielleicht, denke ich, als ich meine Kaffeemaschine auf den Herd stelle, ist meine Verwandlung die Erfüllung dieses alten Wunsches? Ich bin nicht abergläubisch. Und außerdem wollte ich ja nicht eine Schildkröte werden, sondern eine haben. Ich blicke aus dem Fenster. Einzelne Blätter rieseln von den Ästen der Linde, die mir wie Arme vorkommen. Auf einmal sehe ich in jedem Baum einen verhinderten Menschen. Ich drücke meine Finger gegen die Lider, bis es hell wird. Dann streife ich mit der Kaffeetasse zu meinem Computer und öffne meinen Mailaccount. In einer Nachricht teilt mir meine Ärztin mit, dass der Gentest nichts ergeben habe.

Die Vorliebe für Höhlen: Etwas, das den patschigen Kindern eigen sei. Ich bin ein Kind, mit nilpferdhaften Bewegungen gewesen. Ein Kind, dem es an Calium Carbonicum mangelte. Meine Haut schweißig, von dichten Sommersprossen übersät und hell wie die einer glitschigen Auster. Das ist sie heute noch, wenn sie nicht austrocknet und abbröckelt oder ihr zufällig ein Panzer wächst. Ich war ein Kind, das berührte, eigentümlich sanftmütg und ungeschickt, erzählte man mir später. Manchmal plapperte ich mit meinen Dinousauriern, wenn ich alleine war. Mit dem Kopf grub ich Löcher in meine Bettdecke, formte mich zum Embryo, verschwand darin. Ich liebte es. Schade nur, dass dann die Eltern kamen, um das Licht auszumachen.
„Ich mag noch ein wenig Höhle bauen.“
„Du legst dich jetzt unter die Decke, das ist Höhle genug.“
„Ich will noch mit den Dinos kämpfen.“
„Und ich verbiete es dir.“
Irgendwann, dachte ich, werde ich groß sein. Dann lasse ich mir nichts mehr verbieten. Aber dass sich die Dinge verwandeln, wenn man zu lange wegsieht, hatte ich vergessen. Vielleicht bin ich deshalb dabei, ein Reptil zu werden?

„Es kommt nur aufs Gehen an“, dröhnt es in meinem Kopf, während ich mich nach Hause bewege.
Jetzt fällt mir auf, dass ich mit der Zeit immer weniger gehen möchte. Am liebsten würde ich kriechen. Ich beherrsche mich und fixiere auf dem Weg nach Hause beschämt meine Hände. Dabei bemerke ich, dass meine Fingernägel begonnen haben, sich zu Krallen auszuwachsen.
„Aus einem Frosch wird kein Elefant mehr“, hat der Therapeut gesagt. Das sagt er bestimmt allen seinen Klienten, denke ich, während ich nach meinem Wohnungsschlüssel krame. Und sie glauben ihm, schließlich hat er so schöne breite Männerhände, und er riecht nach Vanille, und hört zu. Zumindest macht er den Eindruck, schließlich sagt er ja immer brav „mhm“ nach jedem Satz.
„Aus einem Frosch wird kein Elefant!“
Ich sperre die Wohnungstüre auf. Vielen Dank, denke ich. Ich bin nicht zutraulich. Was bin ich? Was passiert mit mir? Seelische Wunde, hat der Therapeut gesagt. Ich überlege.
Was ist, wenn man eine Wunde umdreht? Kommt dann ein schlechtes Wunder heraus? Ist die Wunde vielleicht das Gegenteil von Wunder? Mein Kopf ist schon ganz wirr, denke ich. Ich laufe schnell die Treppen hinauf, also, so schnell ich eben kann, mit diesem schweren Rucksack aus Horn im Rücken, setze mich dann vor meine Haustüre und atme schwer.

Die Strohhalme in der Landschaft hinterm Haus waren Höhlen. Die Buchdeckel waren Dächer. Höhlenformen von außen. Als Kind hatte ich große Angst und lief nachts schnell auf die Toilette, lief vor den Geräuschen des Holzbodens davon. Manchmal musste meine Mutter mich lange im Arm halten, bevor ich einschlafen konnte. Tatsächlich hätte ich gern einen Panzer gehabt.
Als Kind hatte ich große Angst und ertränkte Bienen in einem Marmeladeglas. Ich verkroch mich in Polstern und fürchtete mich. Nicht vor den Bienen oder vor irgendwelchen Monstern, und auch nicht vor den Marmeladegläsern. Vor mir selbst fürchtete ich mich. In meinem Kopf war es sehr dunkel.

Plötzlich schrecke ich hoch. Jemand hat die Hand auf meinen Rücken gelegt. Ich drehe mich zur Seite und sehe in ein faltiges Gesicht, das komischerweise sehr jung aussieht.
„Es gibt kein Gegenteil von Wunder“, sagt mein Gegenüber.
Habe ich laut gedacht?
„Ich bin Merlin.“
Ich nicke verständnislos.
Merlin lächelt. Streichelt mir die Schultern, den Hals, den Nacken. So, wie man ein Kind streichelt. Er sagt nicht: was ist da Hartes in deinem Rücken, was das ist mit dir, dieser Buckel, warum dieser Panzer, die seltsame Körperhaltung?
Er sieht mich einfach nur an, und es ist, als würde er durch mich hindurch sehen. Zuerst denke ich, dass er vielleicht dumm ist. Oder blind. Aber das stimmt nicht. Denn offenbar kann er meine Gedanken lesen.
„Du brauchst ein paar Kräuter“, sagt er, „Schildkröten lieben, was grün ist.“
Tatsächlich habe ich gerade darüber nachgedacht, ob ein Krauseminztee nicht im Moment das Richtige wäre. Ich folge Merlin in eine kleine Wohnung, ohne zu wissen, was ich tue.

In der Pubertät begann ich, mich zu verkriechen. Ich liebte Hüte und Mützen. Vielleicht, weil sie den Höhlen ähnlich waren. Ich hasste die Hitze, denn gegen die Hitze konnte man keine weiten Pullover tragen und auch keine Wollmützen. Meine Kopfbedeckung zog ich mir immer tief in die Stirn. Ich trug Rollkragenpullover und Pulswärmer. Am liebsten hatte ich T- Shirts, die so weit waren, dass man in ihnen verschwinden konnte wie in Zelten. Ich stahl die Pullover meines Vaters. Ich kaute am Kragen und zog dabei den Kopf ein.
„Das, was Nika da anhat, nennt man Turtleneck“, sagte die Englischprofessorin eines Tages.
Ich lächelte. Das Wort gefiel mir. Ich hatte also einen Schildkrötenhals, dachte ich.
Ich war danach immer gut in Englisch.

Je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, dass das mit der Verwandlung in eine Schildkröte vielleicht doch eine bewusste Entscheidung gewesen sein könnte. Merlin bietet mir einen Platz auf einem zerfledderten Sofa an.
Ich mustere ihn neugierig, während ich mich setze. Seine Augen sind unendlich riesig, zwei Knopfaugen. Unschuldig wie die eines Tieres. Dabei muss er alt sein. Das Haar glänzt weiß und steht ihm in alle Richtungen vom Kopf ab.
Die Hände sind klein, braun und von leberfleckigen Mustern übersät. Vielmehr Tatzen als Hände, denke ich.
„Ich werde eine Schildkröte“, sage ich.
„Ich weiß.“
Er stellt eine rote Tasse auf den ovalen Tisch, aus der es dampft.
„Warum?“, frage ich.
Merlin zuckt mit den Schultern und lächelt mich an, sodass sich riesige Falten um seine hellen Augen bilden.
„So ist das eben. So wird man zum Stein, zur Pflanze, zum Tier, zum Menschen. Wird gefressen vom Boden, wird zur Blume, wird gegessen vom Tier, geht ins Tier ein, erfriert, sedimentiert, verkalkt, wird alt, wird Stein, Pflanze, Tier, Mensch, und zurück, die Wege sind variabel. Auf und ab, man oszilliert. Man möchte ein Feuerwerk sein, möchte zerspringen, die Zeit sprengen, aber man bleibt immer nur eingebunden in diese Drehbewegung, diesen Kreislauf, es nervt, tut weh, geht weiter. Fühlt sich gar nicht so schlecht an. Ist unsicher. Tut weh. Trink ein bisschen Tee.“
Ich nicke und nehme die bauchige Tasse in meine Hände, die er mir vor die Nase hält.

Als ich in die Pubertät kam, trennte sich meine Mutter von meinem Vater. Vielleicht ein weiterer Grund, warum ich daraufhin immer mit den Rollkragenpullovern herumlief, die eigentlich seine waren und nach ihm rochen. Es war, als wäre ich er. Wenn ich er wäre, dann müsste ich ihn auch nicht vermissen Freilich sagte ich das keinem. Schildkröten waren weiterhin meine Lieblingstiere. Eine Schildkröte hat immer ihr Haus bei sich. Ich hatte kein Haus. Meine Mutter lebte zwischen Schachteln und Stofffetzen. Manchmal kam es mir so vor, als würde ich sogar nicht einmal eine Haut haben. Da halfen freilich die Pullover.
Weil ich Höhlen liebte, fuhr ich damit fort, mir welche zu bauen. Zwischen Büchern und anderem Kram. Ich eröffnete ein kleines Antiquariat. Ich kaufte alle möglichen Puppen, alte Schreibmaschinen, Degen, einen Einhorn-Kopf, Hüte aus Maulwursfell, Pelzmützen, Pelzmäntel, Bettgestelle, Schaukelpferde, Knöpfe, Sessel. Sogar ein Lift und eine alte Badewanne mit vier tatzenartigen Pfoten waren darunter. Geht dir jemand auf den Arsch, einfach Glieder einziehen. Nie wieder Sonne, nie wieder Licht, nie wieder Leben. Das war die Devise von Schildkröten. Und meine war es auch geworden.

„Vielleicht“, murmle ich, während ich an meiner Tasse nippe, „werde ich tatsächlich eine Schildkröte, weil ich es mir im Grunde immer gewünscht habe?“
Merlin lächelt.
„Vielleicht.“
„Aber warum passiert das nur mir?“, frage ich.
„Jeder, glaube ich“, sagt Merlin, „muss irgendwann ein Tier werden, bevor er ein Mensch wird. Zuerst ist er ein Stein, dann eine Pflanze. Und dann eben ein Tier.“
„Interessante Theorie“, nicke ich verständnislos.
„Du wirst eine Schildkröte“, fährt er fort, „damit du danach ein ganzer Mensch sein kannst.“
Ich sehe ihn an und und schweige. Ganz glaube ich ihm nicht. Ich denke, er sagt es, um mich zu trösten. Denn der Panzer ist schwer, das Rückgrat geknickt. Man schleppt sich durch die Gegend. Man versucht, zu kaschieren, dass man nach und nach in sich zusammenfällt. Dass man irgendwann nur noch kriechen wird. In Zukunft, denke ich, werde ich mit allem, was ich mir wünsche, genauer aufpassen.
„Komm mal her“, sagt Merlin und drückt mich.
In meinem Bauch breitet sich ein wolkiges Gefühl aus. So haben mich meine Eltern festgehalten, als ich noch klein war.

Irgendwann wuchsen mir Haare zwischen den Beinen und unter den Achseln, ich badete nicht mehr nackt mit meiner Mutter, keiner hielt mich fest. Ich wusste mir zu helfen, ich trug weite Pullover, die sich kuschelig anfühlten, zweite Haut. Ich duschte warm, auch das war wie eine Berührung. Meeresschildkröte vielleicht, ja, dieses Tier wär ich gerne gewesen.

„Ich habe eine Dokumentation gesehen über eine Meeresschildkröte“, meint Merlin, als würde er meine Gedanken lesen, „die in einem Netz ihre rechte Flosse verloren hatte. Man hat ihr eine Hightech-Flosse gebastelt.“
Nicht schlecht, denke ich. Und: Die Tierschützer spinnen. „Die Welt braucht mehr Spinner“, sagt Merlin laut.
Schon wieder hat er meine Gedanken gelesen, merke ich und erinnere mich, dass Meeresschildkröten ihre Jungen im Sand vergraben. Die schlüpfen dann aus, Wettlauf mit der Zeit, sie müssen das Meer erreichen, bevor ein wilder Vogel sie erspäht. Die Jungen lernen ihre Mütter nie kennen. Sie kuscheln also auch nicht. Das heißt, sie vermissen nichts. Mir fehlen die Berührungen, es fehlt mir, dass nachts kein Mund neben mir atmet. Das merke ich, jetzt, wo Merlin da sitzt und meine Hand hält. Es ist keine Sehnsucht nachLust, keine Sehnsucht nach Liebe, es ist eine rein organische Sehnsucht, Leben neben Leben, Zellen an Zellen, Poren, die sich ineinander schmiegen. Genau so sehr, wie ich mich nach diesem Atemaustausch Haut an Haut sehen, habe ich Angst davor. Menschen tragen keine Panzer, man schlägt sie einmal unsanft auf den Hinterkopf, und sie fallen tot um. Keine Chance, dann kommen sie nicht wieder.
Ich merke, dass ich begonnen habe zu weinen.

Die Jungs in meiner Klasse spielten immer mit Muskelmännern aus Plastik. Manche hatten Drachenköpfe, manche hühnenhaft blonde Mähnen. An ihre Muskelkörper erinnere ich mich. Auch das waren Panzer. Ich mochte diese Männer, weil sie stählern wirkten, unbesiegbar, und hart. Und: wie Schildkröten. Wär selbst gern einer von der Sorte gewesen. Stattdessen musste ich mit meiner Schwester spielen, mit komischen Puppen, die nicht einmal alleine stehen konnten, sondern immer wieder nach hinten kippten, weil ihre Oberkörper so schwer waren. Dafür zwang ich sie, mit mir zu fechten. Ich schlug auf die Schwester ein, mit dem Holzschwert. Immer gewann ich. Stellte die Szenen aus Fernsehserien mit ihr und ihrer Freundin im Garten nach. Zwischen Weinblättern und Wildrosen spielend. Und im Fernsehen war d´Artagnan ein Hund. Klar, dass Menschen Tiere sind, fand ich damals. Aber das mit dem Großwerden, dass danach nichts mehr ist wie früher, daran hab ich nicht gedacht. Dass man die Ziele aus den Augen verliert, die tiefen Wünsche wie weggewischt sind, später. Oder verschüttet. Oder sich verändert haben. Da wird aus einer Schildkröte ein teurer Schuh, aus dem Schuh wird ein Zeitungsabo, aus dem Zeitungsabo eine Badewanne und dann ein Balkon, eine helle, schöne Wohnung, ein charmanter Mann, eine erfolgreiche attraktive Frau et cetera. Und am Ende bleibt nichts übrig von einem selbst.

Als ich am nächsten Tag von Merlins Sofa aufstehen möchte, kippe ich nach hinten. Ich liege am Rücken, wende mich, drehe mich hin und her. Strample mit den Beinen. Merlin ist klein, aber stark. Rollt ein wenig Holz unter meinen Rücken, sodass ich mich auf die Seite drehen kann.
„Ich weiß, wo wir hin müssen“, sagt Merlin und lächelt.
„Wohin?“, frage ich.
„Nach Griechenland.“
„Du hast nicht vor, auch eine Schildkröte zu werden, oder?“, Merlin grinst.
„Zwei Schildkröten unterschiedlicher Rassen beißen sich die Köpfe ab. Tatsächlich, das tun sie!“, versuche ich zu erklären.
Merlin verdreht die Augen.
„Wenn es zwei Männchen gleichen Alters sind. Aber beruhige dich, geschlechtsreif werden Schildkröten ohnehin erst nach vier Jahren. Außerdem, was sind das für Aussichten: eine Überwinterung im Kühlregal?“
Ich muss lachen.
„Ja, dazu müsstest du mich wohl erst zerstückeln.“
„Es wird Zeit“, sagt Merlin, „dass du mal ans Licht gehst.
Einfach in der Wärme sitzt und den Himmel ansiehst.“
Ich nicke.
„Und wenn es regnet?“, frage ich.
Er grinst und küsst mich auf die Stirne.
„Kopf einziehen, mein Kind, Kopf einziehen.“

Der Surflehrer und seine Haut, die sich anspannte, wenn er übers Wasser fuhr. Das Braun, Kontrast zu den hellen, von der Sonne ausgebleichten Haaren. Ich schwamm, beobachtete ihn von der Weite. Zählte seine Sommersprossen mit den Augen, im Kopf. Heimlich. Wenn er sich umdrehte, mich anguckte, tauchte ich ab. Das war wie mit den Pullovern oder den Höhlen, man konnte im Wasser ganz verschwinden, wahrscheinlich sah es deshalb so aus, als würde ich mich in meinem Element bewegen. Wie alt ich sei, wollte er irgendwann beim Surfunterricht wissen, ich wurde rot, sagte: zwölf. Der Sommer war heiß. Ich hasste die Hitze und dass ich so viel nackten Körper herzeigen musste. Ich schämte mich für alles an mir, die Nase zu groß, eine Brust hing, die andere nicht, der Blümchenbikini sah kindlich aus und passte mir schon nicht mehr. Man konnte ihn nicht zurechtzerren, sich nicht darin verstecken. Fisch mir den Königssohn, hatte ich einmal in einem Kinderlieder gehört, und ich erinnerte mich daran. Leider war das mit den Königssöhnen Vergangenheit, die gab es schon lange nicht mehr, wusste ich inzwischen Bescheid, und es gab niemanden, den man danach fragen konnte, wohin sie denn fortgegangen waren, denn auch mein Vater war ja fortgegangen. Dafür gab es Wasser und Partys, Alkohol und laute Musik. Und Disteln, die die Fusssohlen stachen. Ich hatte Angst vor den Sommern, weil man in ihnen nackt sein musste. Keine zweite Schicht schützte die Haut vor Sonnenbrand. Keine Rollkragenpullover oder Kapuzen halfen zu verbergen, was es hieß, man selbst zu sein.
Mit einem Mal habe ich keine Angst mehr vor der Sonne, dem Sommer. Der Gedanke daran macht mich nicht mehr traurig. Vielleicht werden wir lange reisen, Merlin und ich, denke ich. Denn ich kann nicht mehr gehen, nur kriechen.
Und Merlin hat kein Auto.
„Wir müssen uns keinen Stress machen auf unserer Reise“, sagt Merlin.
„Warum?“
„Schildkröten werden alt. Und die Erde ist noch viel älter. Außerdem begegnen einem auf Reisen immer besondere Dinge. Nachher ist nichts mehr wie vorher.“
Da hat er Recht, finde ich.
„Warum leben Schildkröten eigentlich so lange?“, frage ich Merlin, als ich zum Flur hinauskrieche.
„Weil sie sich Zeit nehmen“, antwortet er und öffnet die Türe.
Das Treppenhaus schlängelt sich schneckenförmig nach unten. Es riecht ein wenig nach Schimmel, von den Wänden bröckelt Verputz. Altbau. Hier habe ich gewohnt, denke ich, und es kommt mir seltsam vor, dass ich den Schmutz auf den Stufen nie gesehen habe. Merlin springt über mich, legt ein Brett auf den Boden, steigt wieder in die andere Richtung und schiebt mich ein Stück weit nach vorne.
„Du bist intelligent“, meine ich.
Merlin lächelt schief.
Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu weit ins Treppenhaushineinrutsche. Stemme mich mit den Krallen gegen den Beton.
„Sehr gut“, meint Merlin, springt wieder über mich und will das Holzbrett unter meine Beinchen legen. In dem Moment brechen meine Nägel, ich falle. Rutsche auf Merlins kleinen, kompakten Körper. Wir sausen das Treppenhaus hinab, bei der nächsten Biegung hämmert Merlins Kopf leicht gegen die Wand. Ich möchte mich bei ihm entschuldigen, er aber grinst nur, steht auf und springt über meinen Körper, um erneut das Holzbrett zu holen.
„Diesmal machen wir es anders“, meint er und deutet mir, dass ich auf dem Brett liegen soll. Ich tue, was er sagt.
„Wie anders?“
„Ich schiebe dich. Die ganze Zeit. Ich halte dich fest. Du musst nur nach vorne rutschen. Aber nicht zu schnell. Ja?“
Was bleibt mir anderes übrig. Ich schließe die Augen, höre Poltern, Krachen, versuche, auf dem Brett Haltung zu bewahren. Atmen, atmen nicht vergessen. Ich habe Angst, Merlin zu verletzen.
„Das ist wie rodeln“, meint der aber nur mit einem verschmitzten Lächeln und legt eine Hand auf meinen Kopf.
Aneinander geklammert krachen wir ins Parterre. Ein Moment der Stille. Dann beginnen wir beide, schallend zu lachen.
Merlins Lachen hört sich an wie ein tiefes, gemütliches Blubbern.
„So was macht man auch nicht alle Tage“, meint er schließlich und steht auf. Und: „Jetzt aber raus da, meine Kröte,
denn das Meer wartet.“
Ich wundere mich über mich selbst, dass ich vor lauter Anstrengung nicht zu schwitzen begonnen habe. Da fällt mir auf: meine Haut ist rillig und hart geworden. Grinsend recke ich den Kopf aus dem Panzer und krieche hinter Merlin her. Uns weht ein leichter Wind entgegen. Riecht es nach Meer oder ist das bloß meine Phantasie? Es ist, als würde ich Salz auf der Haut fühlen. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Schildkröten hören schlecht. Ich habe begonnen, besonders scharf zu sehen. Der Asphalt flimmert vor meinem Blick. Als wäre er eine Wasserfläche, denke ich.
Und dass einem, wenn man immer nur in seinem Zimmer hockt, gar nicht auffällt, wie viel Welt es da rundherum gibt. Ich hebe ein Stück weit den Kopf und blicke in die Sonne.
Ja, denke ich, draußen ist es hell.

 

Sophie Reyer
Geb. 1984 in Wien, studierte Germanistik in Wien. Master of Arts in Komposition für Musiktheater, Diplom in „Szenisch Schreiben” bei uniT 2010 und Doktor der Philosophie in Sprachkunst. Studium „Drehbuch und Filmregie” an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2019. Literaturförderungspreis der Stadt Graz sowie Manuskripte-Förderungspreis. Ist Lehrbeauftragte an der Pädagogischen HS NÖ. Zuletzt erschienen: „Clara und ihre Morde“ Emons Verlag 2021; „Gartentage” Ed. Keiper; „BioMachtData” DeGryter; „Ein Schrei.Meiner” Czernin 2022.