95 / Kafkaesk / Prosa / Stefan Winterstein: Im Bann

Stell dir vor, du heißt Kafka, und stell dir vor, deine Eltern würden sich den Spaß nicht nehmen haben lassen, dich Franz zu nennen, Franz Kafka, wie Franz Kafka eben, den jeder kennt, und du wärst auch noch ausgerechnet Versicherungsjurist oder, sagen wir, Versicherungskaufmann, soll sein, und stell dir vor, du hättest vielleicht sogar schwarze Haare und dunkelblaugraue Augen, schlanke Statur, Lungenprobleme, aber das wäre vielleicht zu viel und muss gar nicht sein. Stell dir nur einfach vor, du hießest Kafka, Franz Kafka, wärst Versicherungskaufmann, wie seltsam. Aber das eigentlich Seltsame kommt erst: Nämlich, gar niemand würde das offenbar seltsam finden und niemand würde dich je darauf ansprechen, auf deinen Nachnamen, deinen Vornamen, deine Berufswahl, auf diesen merkwürdigen Zufall, wie es dazu gekommen ist und wie es dir damit geht, deine Kollegen nicht, deine Freunde nicht, deine Kunden nicht, auch in der Schule und in der Familie würde es nie Thema gewesen sein, es wäre immer so gewesen, als hießest du Karl oder Ernst oder Fritz und mit Nachnamen Pospischil oder Marschalek oder Woberschal, ja, eigentlich wäre es so, als hätte es Franz Kafka nie gegeben. Es gäbe keine Verwunderung und kein Grinsen und keine überraschten Blicke, wenn du dich vorstellst, in der Jugend keine Spötteleien, als Erwachsener kein Wiebitte?, keine Zweifel, keine Witzchen, auch keine Schmähanrufe am Telefon, könnte ja sein, Scherzanrufe von Halbwüchsigen, die nach Felice Bauer verlangen oder nach dem Weg zum Schloss fragen, und nie große Augen, wenn du deine Unterschrift aufs Papier setzt. Du hättest dir sogar eigens eine möglichst unleserliche Unterschrift angewöhnt, die eher aussähe wie Frank Kaffer oder Fritz Kauba oder Hans Kasper, und hättest dir darüber hinaus zur Angewohnheit gemacht, wo immer möglich, deinen Vornamen abzukürzen, um die peinliche Angelegenheit zu verbergen, auf deiner Visitenkarte oder im Telefonbuch oder in Verträgen allerdings wäre dein voller Name unvermeidlich. Die Kunden aber wären davon anscheinend unbeirrt, würden niemals auch nur mit den Schultern zucken, geschweige denn düstere Fragen stellen, etwa den Namen des Versicherungsangestellten als böses Omen interpretierend, das Rechtlosigkeit und undurchsichtige Bedrohung verkündet. Dir jedoch fiele es schwer, diese vollkommene Gleichgültigkeit
deiner Umgebung als Rücksicht oder Nachsichtigkeit oder Aufgeklärtheit zu deuten und dahinter nicht vielmehr etwa eine Absprache zu vermuten, und du würdest darum dein Leben so führen, als müsstest du auf der Hut sein, aber wovor eigentlich? Im Kundengespräch über Rechtschutzversicherungen zum Beispiel würdest du jedes Mal unruhig werden, wenn du das Wort Prozess aussprechen müsstest, du würdest dieses Wort konsequentvermeiden, wie etwas Verräterisches, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, um nicht damit versehentlich etwas heraufzubeschwören, Unheil, mit dem du tagtäglich rechnen müsstest, aber was wäre das? Die Wörter Schloss oder Verwandlung oder Strafkolonie könntest du natürlich ganz leicht unterlassen, selbst Amerika, aber gerade bei dem Wort Prozess müsstest du dich vorsehen, wie etwa auch bei dem Wort Urteil. Auch sonst würdest du in deinem Leben einige Maßnahmen treffen, mehr unbewusst als bewusst, Vermeidungen verschiedener Art, würdest zum Beispiel nie nach Prag reisen, was schade wäre, keine schwarzen Hüte tragen, was leicht wäre, und niemals Kafka lesen, oder wenn, nur im Geheimen. Stell dir nun aber vor, eines Tages würde dir ein Fehler passieren, ein unverzeihlicher Fehltritt, ein Selbstverrat. Du wärst müde an jenem Tag, es gab zwar keine Schmähanrufe in der Nacht, aber Sorgen, Probleme mit Frauen, Ärger mit deinem Vater, und du hättest die halbe Nacht schreibend verbracht, immer öfter würdest du die Nächte zwischen deinen Diensten in der Versicherungsanstalt mit dem Schreiben verbringen, in einem unerklärlichen Schreibsog, du wärst müde an diesem Tag und unkonzentriert und es fiele dir schwer, im Gespräch mit einem Kunden, der eine Rechtschutzversicherung abgeschlossen hat, einen klaren Gedanken zu fassen, der Kunde würde dich in ein Gespräch über einen hypothetischen Gerichtsfall hineinziehen, er würde dich mit den Details einer rechtlichen Auseinandersetzung behelligen, in die er verwickelt ist, ein Fall, der noch gar nicht bei Gericht, einstweilen nur ein Anwaltsstreit ist, aber er phantasiert unaufhörlich von einer bevorstehenden Gerichtsanhängigkeit, davon, geklagt, ja angeklagt zu werden, er spricht von einer Anklage, wo es lediglich überzogene, unhaltbare Klagsdrohungen gibt, immer wieder sagt er gerichtsanhängig, gerichtsanhängig, gerichtsanhängig, und strapaziert damit deine Geduld, du versuchst ihn zu beruhigen, doch er lässt sich nicht beruhigen, er steigert sich immer mehr in den Gedanken der Gerichtsanhängigkeit hinein, bis du ihn unvermittelt anherrschst: Aber es gibt ja gar keinen Prozess! Du erschrickst, schon während du es laut und deutlich ausgesprochen hast, bist du erschrocken, wiederholst dann aber, gerade um deinen Schrecken zu dämpfen, ja der Verrücktheit des anderen etwas entgegenzusetzen: Es gibt keinen Prozess!, dann, immer lauter, immer eindringlicher werdend: Es gibt keinen Prozess!, Es gibt keinen Prozess!, schließlich schreiend: Es gibt keinen Prozess! Das zuletzt schon verkrampft, hysterisch schrill ausgestoßene Wort Prozess würde in deinen Ohren noch beängstigend nachhallen, während dein Gegenüber dich entgeistert anschauen würde, schweigen würde, auch du würdest nun schweigen, der lebenslange Bann wäre plötzlich gebrochen, es wäre jetzt ganz still im Büro, alle würden dich, Franz Kafka, anstarren, du würdest den Kunden entsetzt anschauen und würdest vermeinen, so etwas wie Erleichterung in seinem verschlagenen Gesicht zu erkennen, Entspannung in seinem Blick, eine Art Zufriedenheit damit, sein Ziel erreicht zu haben, als hätte sein ganzer Auftritt nur dazu gedient, dich aus der Reserve zu locken, dich dazu zu bringen, dich vor versammeltem Büro zu verraten. Dann würde plötzlich die Tür zum Vorraum aufgestoßen werden, die, wie du jetzt bemerkst, während des Gesprächs einen Spalt geöffnet war, ein Fremder würde eintreten, schlank und doch fest gebaut, würde beherrschten Schrittes auf dich zukommen, die Lippen zusammengepresst, du würdest die Augen schließen, vor Müdigkeit, vor Ausweglosigkeit, die Augen verschließen vor dem, was kommt, du würdest still die Schritte des Fremden zählen, er würde an deinen Tisch treten, sich neben dich stellen, ganz nahe neben dir stehen, sich vor den Augen des Kunden und des versammelten Büros zu dir hinunterbeugen und dir zuflüstern, aber du wüsstest nicht, ob du richtig gehört hast, nämlich dass du verhaftet seist.

 

Stefan Winterstein
Geboren 1981 in Wien, lebt als Autor, Lektor und Literaturwissenschaftler in Wien. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften.