LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Anne Maike Filsinger: Der Mann, der hieß wie mein Vater

Das erste Mal lernte ich Herrn Mann kennen, als er zu uns auf die Intensivstation gebracht wurde. Es war Teil des normalen postoperativen Prozederes. Wer den Bauch bei einer so großen Operation, wie Herr Mann sie gehabt hatte, aufgeschlitzt bekam, der durfte danach ein paar Tage auf der Intensivstation verbringen. Zur Sicherheit.
Herr Mann war wach und überraschend gut gelaunt.
Mir fielen bei unserer ersten Begegnung genau zwei Dinge auf: Zum einen sein Name; es war der Gleiche, wie der meines Vaters. Zum anderen die Tatsache, dass er am ganzen Körper gelb war. Herr Mann litt an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Er war kräftig gebaut und hatte einen graubraunen Vollbart - etwas, dass ihn neben seinem Alter noch mehr mit meinem Vater verband.
Wenn wir zu Herrn Mann ins Zimmer kamen, war er stets freundlich zugewandt. Und jeden Tag wurde er ein bisschen weniger gelb. Vielleicht hatten wir ihm mit dieser Operation tatsächlich das Leben gerettet. Vielleicht hatten wir ihn geheilt. Manchmal wirkt Medizin.
Herr Mann war gerade mal Anfang sechzig, er stand kurz vor der Rente und seine Krankheit hatte ihn überfahren wie ein LKW einen Fahrradfahrer. Erst die gelbe Haut, dann das Fieber und ein paar Untersuchungen später war er an einem Krebs erkrankt, der ihn sein Leben kosten könnte. Herr Mann gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die, wenn man sie mit ihrem Schicksal konfrontierte, den Kopf einzogen und aufgaben. Er erzählte von seinen beiden Schäferhunden, die bei der Schwester untergekommen waren. Er wollte wieder zu ihnen zurück.
Ich hoffte inständig, dass sein Wunsch in Erfüllung ging. Noch an diesem Tag spazierte er mit dem Physiotherapeuten über den Stationsgang. Am fünften postoperativen Tag verlegten wir Herrn Mann auf die chirurgische Normalstation. Ein Ort frei von dem unaufhörlichen Klicken und Piepen der Geräte. Fern von dem Geschrei verwirrter Geister, die nicht mehr wussten, wo sie waren. Herr Mann hatte die kritische Phase überlebt.
Er war zufrieden und wir waren es ebenso.
Zwei Tage später war er wieder da.
Wer einmal auf einer Intensivstation gearbeitet hat, weiß, dass jemand, der die Intensivstation nach so kurzer Zeit erneut besuchte, diese meist nicht mehr verlassen würde.
Herr Mann hatte Fieber bekommen und die durchgeführten Untersuchungen deutenden klar auf eine große Infektion in der Bauchhöhle hin.
Er wurde noch am selben Tag operiert. Diesmal war er nicht mehr gelb, sondern leichenblass. Schweiß stand auf seiner Stirn und die Augen waren eng zusammengekniffen.
Er wirkte angestrengt, atmete flach und schnell. Als ich diesmal sein Zimmer betrat, die Wunden kontrollierte, die Werte überprüfte, beachtete er mich nicht. Er schien gar nicht anwesend zu sein.
An diesem Tag rief ich zum ersten Mal seine Schwester an. Es gibt Situationen da braucht man seine Familie. Jemand der neben dem Bett sitzt und eine Hand drückt, der einem von Zuhause erzählt. Auf der Intensivstation gibt es Patienten, die erhalten in den Wochen, in denen sie ums Überleben kämpfen, kein einziges Mal Besuch.
Und es gibt Patienten, bei denen jeden Tag jemand da ist, um ihnen einen Grund zum Kämpfen zu geben.
Herr Mann, obwohl alleinstehend, hatte sechs Geschwister, die alle zu Besuch kamen. Jeden einzelnen Tag.
Dann ging es ihm plötzlich besser. Das Fieber sank und sein Blick wurde klarer. Er begann zu essen und ich zu hoffen.
Mittlerweile war er fast drei Wochen lang bei mir auf der Intensivstation.
Ein Wimpernschlag im Vergleich zu dreiundsechzig Jahren Leben und doch spielte hier zum ersten Mal das Überleben die zentrale Rolle. Drei Wochen für zehn, zwanzig Jahre?
Es sah so aus, als hätte er es endlich geschafft. Mein Arztbrief war so gut wie fertig geschrieben. Wir wollten ihn gerade auf die Normalstation verlegen, da blutete er. Es quoll aus dem Schlauch in seinem Bauch in einen Beutel hinein. Urplötzlich, aber es hörte nicht mehr auf.
Binnen Minuten waren wir in den OP und rissen die alten Fäden auf, bis wir in die tiefe blutige Bauchhöhle fielen.
Zum ersten Mal in meinem Leben orderte ich Blutkonserven, die mit Blaulicht durch das Land gefahren wurden.
Denn das, was durch seine Adern floss, war nicht mehr als ein verwässerter Cocktail aus Medikamenten.
Nach zwanzig Minuten Operation reanimierten wir. Blutgetränkte Handschuhe drückten sich auf eine mit grünen Tüchern bezogene Brust. Konserve um Konserve wurde in den Körper gepresst. Die Blutung stand, doch er hatte zu viel Blut verloren. Ich dachte an die dünnen blonden Haare und den sorgenvollen Tonfall seiner Schwester, als ich ihr erzählte, wir müssten ihn notfallmäßig operieren.
Als sie mich bat, alles zu tun, um ihn zu retten. Er hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet und jetzt sollte es ohne einen Dank, ohne Pause plötzlich vorbei sein?
Wir drückten, die Geräte piepsten und Herr Mann bekam einen Herzschlag. Mit einem Schlauch im Hals und Tonnen an Blutkonserven in den Adern ging es zurück auf die Intensivstation.
Zurück zu mir, nur dass ich keine Hoffnung mehr für ihn übrighatte. Ich hätte mir nie so nahekommen dürfen.
Ab einem gewissen Punkt weiß man, dass eine Person nicht länger überleben wird. Man weiß, dass der Tod kommen wird. Nur kann man nicht genau sagen wann. Es ist ein Gefühl, das einen beschleicht und sich nicht mehr abschütteln lässt. Herr Mann würde sterben, ich wusste es.
Man rasierte ihm den Bart ab, damit der Tubus in seinem Hals besser fixiert werden konnte. Er sah nicht mehr aus, wie der Mensch, der mich an meinen Vater erinnert hatte.
Er roch nach der Creme, die die Pflege jeden Tag auftrug und in dem Zimmer gab es keine Stimme mehr, die von Schäferhunden erzählte. Da war nur noch ein Piepen, sonst nichts. Auch seine Haut war anders, weder bleich noch gelb. Sie spannte, aufgedunsen von der Flüssigkeit in seinem Körper. Blasen bildeten sich auf den Arm und Bein ähnlichen Konstrukten, die ihn vor Wochen noch über den Gang getragen hatten.
Er lebte und war tot zugleich. Kaputtgegangen an den Komplikationen durch eine Operation, die sein Leben hatte retten sollen.
Herr Mann lag noch zwei weitere Wochen auf der Intensivstation.
Die Schläuche wurden weniger, doch er wurde nicht wacher. Dann verschlechterten sich seine Werte und die Therapie wurde eingestellt. Er verstarb im Beisein seiner Familie an einem warmen Oktobertag. Noch am selben Tag habe ich meinen Vater angerufen.
Der Tod betrifft uns alle.

 

Anne Maike Filsinger
Geb.1996 in Südhessen, studierte Medizin in Würzburg. Sie arbeitet seit 2021 als Chirurgin auf einer Intensivstation. Am Schreiben hatte sie schon seit ihrer Kindheit Spaß, sich jedoch vorzugsweise mit Kurzgeschichten und Tagebucheinträgen beschäftigt. Während ihres Studiums und der frustrierenden Zeit der Promotion lebte dieses alte Hobby neu auf. Sie setzte sich an ihrem Schreibtisch und hat ihn seitdem nicht mehr verlassen.
E-Mail: AnneMaikeFilsinger@gmail.com