LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Carolin Köhler: Transitreisende

Bitte beantworten Sie alle Fragen ehrlich und gewissenhaft.

Hatten Sie schon mal eine*n imaginäre*n Freund*in?
Ja.

Welche Charakteristika hatte diese*r?
Gute Zuhörerin, sehr geduldig, verständnisvoll, flexibel, loyal…

Können Sie die oben genannten Charakteristika auch in realen Personen entdecken?
Eher schwierig. Nicht alle.

Hatten Sie das Gefühl, diese neue Person in Ihrem Leben war zu diesem Zeitpunkt eine Notwendigkeit?
Ich würde es eher als eine Art Bonus beschreiben.

Konnten Sie bereits eine ähnliche Verbindung zu realen Personen herstellen?
Ich denke schon.

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,,Ich will einen Schokobrunnen mit Erdbeeren’’, sagt sie.
Es rüttelt an der Tür. Verknüpfungen durch Synapsen werden aktiviert (angeblich). Es ist trostlos geworden nach Ladenschluss. S. knöpft Bluse und Jacke zu und rüttelt an der anderen Seite der Tür. Vergeblich probiert sie Schuhe an. Das ist nicht ihre Wohnung. Sie schaltet den Fernseher an und schwankt zwischen 100 und 120 % Lautstärke. Leider hat das Gebäude keinen Innenhof (dort, würde sie sich, falls vorhanden, verstecken). Vorhin hat sie vier Briefe geschrieben, aber keiner davon ist adressiert worden. Immer wenn sie zu viel Zeit hat, denkt sie an die Damenwahl damals in der Tanzschule. Sie verspürt ein Stechen im Oberarm. In dieser Wohnung gibt es einen 3D-Drucker.
S. überlegt, Stilettos zu drucken oder einen Schlüssel für eine andere Wohnung. Gestern hatten ihre Eltern Hochzeitstag. Gestern konnte man keinen Sonnenuntergang beobachten. ,,Ich hätte auch gerne noch einen Likör, Kaffeelikör vielleicht oder Haselnussschnaps’’.
Eine Platte wird aufgelegt, es ist Bossa Nova und laut.
Die Nachbar*innen können eine tanzende Silhouette im gemieteten Zimmer erkennen. S. muss ihren Lebenslauf überarbeiten. Vor einem Monat ist sie 27 geworden. Seitdem geht sie wöchentlich zur Reinigung und jeden zweiten Montag zum Aerobic (Lügen). Also eine Personenbeschreibung, S. kennt Randfakten: Bitte keine Haustiere. Bitte keine Pflanzen. Einkaufen: nur in kleinen, familiären Supermärkten. Musik: gerade am liebsten Jazz und Aufzugsmusik. Sucht: stetiger Wechsel (Partner*innen und Jobs). Kein Verständnis für:
Arbeitgeber*innen, die sich dafür interessieren, ob Arbeitnehmer*innen die Zehn-Finger- Schreiben-Technik beherrschen. Wichtig: mindestens vier Farben für ihre Nägel. Ein gelungener Tag ist für S. ein Tag, an dem man noch spätabends Eis essen gehen kann. Immer wenn sie Geschirr spült, denkt S. an einen Nachmittag, an dem sie ihren Tee für Aquarellfarben benutzt hat. Damals hat sie eine besondere Person auf eine Leinwand gemalt. Die Leinwand liegt heute vermutlich auf einem Dachboden (auf den, sie keinen Zugriff mehr hat). S. holt sich ein paar Illustrierte vom Tisch und blättert ohne Ziel. Sie beginnt damit, ein paar Weltstars herauszuschneiden und hinterlässt diese in einer systematischen Anordnung auf dem Nachttisch.

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Als S. und L. sich das erste Mal sehen, sind beide verschwitzt und ungekämmt. S. kommt gerade aus einem Blumenladen. Sie hat einen sehr schönen Strauß zusammengestellt mit allen wichtigen Farben: Rosa, Blau, Lila, Türkis, Apricot. Sie hat sich nicht zurückgenommen. L. führt gerade Hunde aus. Fünf sind es, zwei Große und drei Kleine. Alle bellen laut. Wenn man einen großen Blumenstrauß trägt, fühlt sich das manchmal wie eine Dankesrede auf einer Theaterbühne an, und wenn man fünf Hunde ausführt, fühlt sich das manchmal wie stottern und humpeln gleichzeitig an. Sie begegnen sich an einer Ampel, die nicht grün wird. S. denkt an die Damenwahl in der Tanzschule.

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,,Wenn eine Taube auf deinem Balkon in einem deiner Blumentöpfe ein Ei legt, dann musst du das Ei klauen und durch ein Plastikei ersetzen. Das richtige Ei musst du entsorgen, vielleicht den Ratten schenken.’’

So wurde es mir zumindest erklärt.

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Fluchtwege sind faszinierend, anziehend, wunderschön.
Grüne Augen = ganz toll (Notausgang). In meinem letzten Traum um 9 Uhr 15 stand ich auf einer Feuertreppe, aber bin nicht runtergerannt. Ich wunderte mich aber dachte im nächsten Moment an mein Elternhaus. Manchmal habe ich Passant*innen vom Seitenflügel aus zugewunken und mir danach auf die Zunge gebissen. Täglich konnte ich der Nachbarstochter zuhören, wie sie die Tonleiter rauf und runter sang. Für mich hörte sie sich immer an wie Claudine Longet. Mein Großvater konnte ihre Stimme nicht ausstehen, ich habe ihn nie gefragt, warum. Beim Tischdecken beobachtete ich das Grobstrickmuster der Tischdecke, die bereits fehlerhaft war und dachte an weiße Flecken. Eigentlich sind wir doch alle welche, dachte ich, nicht nur der Ozean. In unserem Briefkasten habe ich alle fünf Monate mal vierblättrige Kleeblätter gefunden.

(Auch wenn es spät kommt: Danke).

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Es klickt und eine Fotografie entsteht. Ein Zeugnis eines Sachverhalts. Nicht unbedingt von Wert, eventuell auch eine Banalität. Aber wir können es in eine Akte legen, in eine Büroklammer stecken (zu einem Dokument) oder auch direkt tackern. Es kann archiviert werden, es könnte auch geschreddert werden oder verstauben. Aber es kann auch für immer existieren. Und dann bleibt die Frage: ,,Was ist darauf zu sehen?’’. Neulich lief ich an einer besprühten Hauswand vorbei.
Darauf stand ,,Da ist Gift in dir’’. Unterhalb wurde hinzugefügt ,,aber Mau-Mau mit dir hat Spaß gemacht’’. Ich glaube, in solchen Momenten spüre ich die chemischen Reaktionen innerhalb meines Körpers.
Und die Fähigkeit, Dinge zu verknüpfen, scheint mir als das größtmögliche Beispiel menschlichen Leidens. Glücklicherweise kann ich auch zu anderen Gedanken springen, etwas Enthusiastisches, wie zum Beispiel:
eine volle Stempelkarte
ein funktionierender Drucker in stressigen Situationen
eine Eisskulptur (am besten ein Rennwagen)
ein Espresso Martini
ein Schaumbad (mit lila Farbstoff) ein Balkon im Süden
ein Tangotanzkleid (mit ganz vielen Fäden).

Deshalb habe ich dann auch einen Lottoschein geholt, das mache ich wirklich selten und immer wenn ich es dann wieder mache, weiß ich nicht mehr genau, wie es noch mal geht. Ich gebe meist nur Schnapszahlen an und falte nach dem Einwerfen manchmal noch meine Hände.

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A: Wie sehen diese Gefühle aus? Also, wenn sie eine Person wären, was hätten sie für Merkmale?
B: Sie hätten eine große Nase, einen richtigen Zinken.
Und ein Zahn würde nicht ganz in die Reihe passen. Die Augenbrauen wären nicht gezupft, aber man würde sowieso nur auf die Augen achten, besser gesagt: die Pupillen. Aussagekräftige Pupillen. Und die Person wäre mittelgroß, weil ich will es auch noch nicht übertreiben, aber es sind schon Gefühle da.

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Irgendwann in diesem Quartal hast du mich nach Identifizierungen gefragt. Ich konnte nur wenige benennen, aber musste an Transitreisende denken. Ich komme nicht von hier und ich will auch nicht hier hin. Du hast dann leise genickt und mir die Zeitzonen aufgezählt.
Wenn es ein Hier gibt, gibt es auch immer ein Dort und genau das ist es, was mich fertigmacht. Ich hätte gerne mehr Desorientierung. Ich sprühe nur so viel Parfüm, damit ich die Meeresluft nicht mehr riechen kann. Und oft lasse ich die Sehhilfe auch mal ganz weg. Es hilft dann schon nichts lesen zu können. An allen Tagen ruft mich jedoch dieselbe Nummer an. Und genau das ist die Sache mit dem Willen, er ist nicht immer eindeutig.
Sprechzeiten: 7 Tage die Woche à 24 Stunden. Ist das dieses Engagement, von dem immer alle sprechen? Deinstallation scheint komplexer als Installation. In meinem Handschuhfach liegt ein zerknitterter Zettel, den ich noch entziffern muss.

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Ich habe es entsorgt. Im Altkleidercontainer. Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin.

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S. hat seit Tagen ein Wort im Kopf. Sie visualisiert es, legt es auf ihre Zunge, schluckt es runter, kaut darauf rum und spuckt es aus. Danach geht es von vorne los. Trübsinn. Trübsinn. Trübsinn. Trübsinn. Trübsinn. Es ist ein langer Abend und S. kann ihre Gardinen nicht mehr ansehen. Sie flieht aus der Wohnung und geht in eine naheliegende Bar. Dort sichtet sie die Getränkekarte und bestellt etwas, das ,,Baby Face’’ heißt. Das war intuitiv, denkt sie. Ananas, Orange, Zitrone und zwei Kirschen on top. Immerhin ein räumlicher Wechsel, bemerkt sie. Der Gedankenraum jedoch ist identisch.
Die Bar ist ziemlich dunkel und man kann nur vermalte Silhouetten erkennen. S. bemerkt einen Mann, der weit entfernt scheint. Von Minute zu Minute kommt er etwas näher, Schritt für Schritt, er ist schon fast da…beinahe… noch ein Schritt… jetzt ist er da… und fragt: ,,Kennst du das, wenn sich beide Füße einig sind?’’

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S. und L. Am ausgemachten Treffpunkt zur ausgemachten Zeit.
L. schaut nach unten und isst ein paar Cracker. S. hat immer das Bedürfnis zu schreien, wenn die andere Person Cracker isst. Heute ist es aber gar nicht mal so laut. Vor ihrer Verabredung hatte L. eine Ölmalerei angefangen.
Zwei Schlangen in einer Seitenstraße in Turin, deren Köpfe sich umeinander schlingen. Es ist noch unklar, ob es romantisch oder gefährlich ist.
Zwei Dinge, die irgendwie zusammen gehören. S. sieht ihre Gedanken auf einem Warentransportband im Supermarkt. Gibt es noch Warentrenner? Und wer sitzt an der Kasse?

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-Was ist darauf zu sehen?
-Ein Limonenbaum.

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Monate später. Die Wohnung ist aufgeräumt, es wurde gut gekocht vor einer halben Stunde. Ein Radio läuft, beschäftigt sich mit einem Lebensmittelskandal. Die Balkontür ist offen, man hört eine Trompete. Es scheint ein Anfänger zu sein. Die Mitte des Zimmers schmückt ein ovaler Glastisch, darauf steht eine tiefblaue Vase mit einem Strauß Magnolien gefüllt. Sie waren ein Geschenk.
Am Boden schnurrt ein zufriedener Kater. S. findet einen Brief innerhalb ungeöffneter Post.
(Damals zeigte dein Fuß in meine Richtung, damals hast du laut Monate gezählt. Ich drehe mich zu dir und eine Vespa kreuzt unseren Weg.)

 

Carolin Köhler
Geb. 1998 in Langen in Hessen. Seit 2018 Studium der Fotografie an der Fachhochschule Dortmund. Schreibt Prosa und Lyrik. 2022 zwei Veröffentlichungen im Kiosk Magazin und den Literarischen Blättern Außerdem arbeit an eigenen Songs und Musikvideos.
E-Mail: ckkoehlers@gmail.com