LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Fabian Korner: Erzählung eines Sehepunkts

Vorwort

Die folgende Geschichte ist auch für Lesende geeignet, die voll umfänglich im Besitz ihrer Sehfähigkeit sind. Diese Leserschaft will ich daran erinnern, dass Metapher Bild meint, was im Medium Text bedeutet: Die Vorstellungskraft zu aktivieren. In diesem Text gibt es keine Bilder, nur Tastgestalten, fühlbares, Geruch und etwas Klang. Dort wo Bilder zum Einsatz kommen, ist die sehende Lesende aufgerufen, sich in ein andersartiges Erleben zu versenken.
Ganz allgemein, Was ist dieses Sehen überhaupt? Das ist die erste Einsicht, auf die Vorsicht folgen muss, denn um nicht das Nachsehen zu haben, muss mensch mehr als nur Augen besitzen.

Liebe Lesenden, die ihr von Geburt an, früh oder spät eure Sehfähigkeit verloren habt: Wir wissen alle, dass wir immer anders empfinden. Ich hoffe irgendwas von eurer Wahrnehmung ist in diesem Sinneschaos enthalten. Seit nachsichtig oder fühlt es mir nach, wenn es nicht ganz so ist. Jenseits der klassischen sinnlichen Ordnung verliere ich gerne den Überblick.

I. Antwort

Ich wusste nicht, wann ich das erste Mal aus der Reihe fiel.
War es beim Foto für den Grundschulabschluss? War es beim Mannschaftsbilden im Sportunterricht? Oder einfach beim in der Schlange stehen? Aus der Reihe fallen bedeutet gesehen zu werden, als Leerstelle. Und das ist noch am positivsten, hin und wieder wird man aus der Reihe gestoßen und holt sich blutige Gliedmaßen, auch wenn man nur wenige Zentimeter fällt. Immer häufiger wünschte ich mir eine Leerstelle zu sein. Ich begann zunächst still zu werden. Was man nicht hört, kann niemanden gehören. Ich wollte niemanden gehören. Meine Welt bestand aus Existierendem, das erklingt. Ich hoffte also auf dem Schulhof, in der Klasse, auch beim Treffen mit Freunden und am Mittagstisch nicht gehört zu werden. Alles Orte, die von Augentieren bewohnt werden. Die Stille, also ich, wurde aber nicht als Leere, sondern als Abwesenheit wahrgenommen. Ich war also fortan abwesend – für meine Lehrer nur geistig, für meine Mitschüler körperlich. Ich war ein stiller abwesender Gegenstand, der nun niemanden mehr entgegenstand und das hatte die Lust mich meine Existenz fühlen zu lassen, den Mitschülern genommen. Wie ich also versuchte weniger anwesend zu sein als eine Fliege, stöberte mich mein Physiklehrer auf. Der wohltuende Bass seiner Stimme spiegelte eine Ruhe wider, die mich im Unterricht verleitete nur dem Geräusch und nicht dem Inhalt zu lauschen. Genuss für mich, weniger für meine Noten. Dabei strengten sie sich doch alle so sehr an, in einer Welt voll Visualisierung mir, dem König – ab und zu auch Königin – des Unsichtbaren, all die unsichtbaren physikalischen Dinge, wieder über das Sichtbare vermitteln zu wollen. Pah.

II. Die Frage

„42“, Sprach er mich an. „Ich warte auf jemanden“, Sagte ich reflexhaft – das ist immer am besten, wenn man unerlaubt in einer Sonnenpause auf den Schulfluren herumlungert. „Warten impliziert Linearität von Zeit, ist das eine Kategorie für dich?“ Was labert der für seltsames Zeug, natürlich ist Zeit für mich relevant. Vor allem die Zeit bis zum klingeln der Pausenglocke. „Ich gehe gleich.“, erwiderte ich also nur und entfaltete meinen Blindenstock. „Kant hat die Zeit als grundlegende Voraussetzung unserer Wahrnehmung bestimmt“, redete er einfach weiter. „Danach den Raum. Allerdings würde ihm wohl schwindelig werden, wüsste er, dass bestimmte Phänomene gleichzeitig, aber räumlich different geschehen können.“ – „Ja gut, aber das passiert doch ständig“, wandte ich nun neugierig geworden ein. „Ja, ja“, sagte er bedächtig, „Was der Königsberger Fuchs aber nicht gerne gehört hätte, wäre die Tatsache, dass zwei gleichzeitig geschehende Ereignisse an unterschiedlichen Orten sich direkt beeinflussen können. Einstein nannte dies ‚spukhafte Fernwirkung‘.“ Ich meinte mich an ein lausiges Referat zum Widerspruch von Relativitätstheorie und Quantenphysik zu erinnern. „Diese nicht Lokalität oder auch unser einfaches nicht Wissen, ist vor allem im Fall des Unterlassens der Beobachtung relevant. Erst das Hinsehen – lass es mich genau so ausdrücken -, physikalisch also das Messen, kann Gewissheit verschaffen. Der Physiker fragt sich also, was da alles passiert, während er nicht hinschaut. Die Pragmatiker unter uns werden sicherlich nur das als Real empfinden, was sie selbst entdecken können – wie siehst du das?“ – „Vielleicht wäre mehr Liebe in der Welt, würden die Menschen es aushalten nicht immer hinzuschauen.“, orakelte ich und wollte mich nun langsam entfernen, zwei Minuten Stuß am Tag sollten genügen. Mein Physiklehrer berührte mich daraufhin sacht an der Hand und meinte „gläubig sind die, die nicht sehen, sondern fühlen. Meinen Einige. Ich würde dir gerne etwas zeigen.“ Sein Ton hatte etwas Forderndes, ich hakte mich unter, dem dürren Arm nun folgend.

III. Erstes Bild

Der Physiker führte mich auf eine Wiese, ich hörte einen Fluss plätschern. Hufgetrampel, das näherkam. „So“ sagte er. „“Vieles bleibt nicht mehr zu sagen, ich merke jetzt schon, wie du deine Umwelt bist.“ Ich nickte. „Gehört das Pferd zu jemensch?“, fragte ich. Keine Antwort. Der Physiker war nur noch ein leichter Windhauch, der aus den Nüstern des Pferdes kam, das seine Schnauze an meiner Schulter rieb. Vorsichtig hob ich die Hand, ertastete sein Ohr und kraulte es. Es galt aufzusitzen. Als der warme, kontrollierte Leib sich unter mir befand, verwandelte sich das Pferd in eine Ente. Aus dem Schnabel flog eine Scharr bunter Kolibris, denen ich hinterher flog. Ich genoss den Zustand des freien Fallens, ohne aus der Reihe zu tanzen. Ganz anders, hier konnte ich in der Luft prima Ballerina sein. Es galt die Luft zu spüren, um den Raum zu vermessen. Erst erschrak ich, keine Wände, keine Echos. Die Luft musste als Wand gefühlt werden, ein Sinn für Ohren und Haut. Das Umgebungsgefühl konnte beliebig scharf gestellt werden. Mit der Zeit lernte ich fünf Zentimeter neben mir den vertrauten Flügelschlag eines Lieblings zu wissen, genauso wie die hundert Meter entfernte kalte Luft–Wand, die mich nach unten ziehen wollte. Hier und da begegnete ich auch einem Adler und beglückwünschte ihm zu seinen scharfen Augen. Die meisten legten den Kopf schief und versicherten, dass der Wind an ihren Flügeln bloß das dritte Auge sei. So erfrischt ließ ich mich auf die Fensterbank eines Steinhäuschen nieder, dessen Rauchsäule das größte Parkverbotsschild in der näheren Umgebung war.

IV. Zweites Bild
Während ich mich in meine Menschengestalt zurück verwandelte, fragte ich mich, ob dies die Wirkung eines Halluzinogen, ein Traum oder eine bisher ungeahnte Cyberspace-Konstruktion sein könnte. Die Tatsache, dass meine Fingerspitzen sofort die Umgebung begriffen, lenkte mich von solch müßigen Gedanken ab. Nach dem Motto: Wenn ich niemanden sehe, sieht mich auch niemand, trat ich ohne zu Klopfen in das Häuschen ein. Ich wurde von einer blumigen Duftwolke begrüßt, die dank des direkten Kontaktes zu meinen Riechneuronen, sich telepathisch erkundigte, ob ich einen Wein wollte. Dankend lehnte ich ab und begnügte mich mit einem Glas Wasser. Die Duftwolke versprach mir eine Vorstellung ganz nach meinem Geschmack. Das gefiel mir und ich erschuf eine Krokodilledercouch. Das ist ja das tolle mit der Vorstellungskraft: Selbst für ein blutiges Steg – aus der Vorstellung erschaffen - sterben maximal ein paar beleidigte Geschmacksknospen. Ich ließ meine nackte Haut also mit dem Leder spielen – es glaubt doch hoffentlich hier niemand, dass ich mein Federkleid gegen irgendwas anderes außer meiner paradiesischen Nacktheit tauschte? Während meine Haut sich nun vergnügte galt es endlich einmal hinzuschauen. Und wahrlich, beobachten macht beklopf: Ich sah einen buckligen, der seinen Arm in die Vulva eines dicken, bärtigen, Goldschmied versenkte, während dieser am Daumen lutschte. Selbstverständlich vom Buckligen, seine eigenen Hände waren mit einer filigranen Goldschmiedearbeit beschäftigt.
Ich brauchte nur zu denken, wie es wäre nicht sehen zu können, um nun von nichts umgeben zu sein. Sehr wohltuend. Außer dem Funken eines Sterns, der nicht leuchtet, vielleicht schon, aber anders. Schließlich sah ich nichts mehr. Der Raum wurde vom Tablo zur seriellen Lautfolge. Stockhausen wäre neidisch gewesen. Der Goldschmied war nicht zu überhören, genau wie das Einhorn, das lustvoll sein Horn in eine Sexpuppe, in der Form eines nordchinesischen Drachen rammte. Woher ich das wusste? Dekodierung akustischer Weltanteile. Ohne Interpretation gedacht würde man sagen, dass das Einhorn bloß angestrengt schnaubt, wie bei einer Holzschneidetätigkeit.
Ich verließ den Raum, als Blindenlangstock erwählte ich mir den Gehstock des buckligen Wesens. Wann es den Verlust wohl merken würde?

V. Drittes Bild

Aus der Hütte getreten tanzte der Stern noch vor meinen Augen und ich schmiegte mich an seine Wärme. Ein anderes Lebewesen so nahe zu fühlen, entgleitet der Linearität des Denkens und Sprechens. Gleichzeitig mit dem Zeh, der Wade, der Leistengegend, den Brustwarzen und der Handinnenfläche zu erfassen, ist unbegreiflich, für Distanzsinne. Übrigens, Augenlieder sind ebenso zarte Fühlorgane, die sich dem Schauer meines Umfließens des Sterns anschlossen. Grenzen fielen und wir verschwendeten unser Licht an alle Augenlosen subatomaren Partygäste.
Ein wenig ernüchtert, diesmal sogar angekleidet, fand ich mich auf einem Dorfplatz wieder, gedrängt in einer wütenden Menschenmenge. Ein Körper war zu Boden gefallen. Ein bärtiger Mann hatte gesprochen, vom Menschen und seiner Entwicklung, seiner Überwindung. Der Gefallene war tot, der bärtige Bergpriester hatte ihm die letzte Ehre erwiesen. Ich trat zu ihm. „Vielleicht glaubst du ich bin eine Figur aus einem Buch.“, das fing ja gut an. „Das ist aber unerheblich. Geh mit mir in die Nacht und ich finde Worte für dich, die jenseits von Brailschrift ihren Sinn entfalten.“ – „Bist du der Physiker?“, versuchte ich ein bisschen Ordnung in der Einbildung zu schaffen. „Und wenn ich Einstein wäre, so wüssten nur wir beide davon.“ Ok, das Level bleibt unverändert, keine Einwände. Die Umgebung kartografierte mein neunter Sinn. Für alle Beobachter musste es so aussehen, als wäre mein Blindenstock nur Zierde. Wir liefen, ohne dass Zeit verging, nur Raum brachten wir zwischen uns und dem Dorf. An der Grenze zum Morgengrauen hielten wir an. „Wenn wir annähmen, die Erde stünde still, ein Stern müsste nun neu entstehen.“, begann er seine Rede für den, der glaubte nur die Leerstelle zu sein. „Ich glaube, mein Freund, du wärest die beste Hebamme für einen tanzenden Stern. Du bräuchtest sein Licht nicht zu fürchten und im Chaos seines Entstehens würdest du dich der Welt nur umso näher fühlen. Ja vielleicht ist es gerade so, im Schatten des Wissens, wo Sichtbarkeit nur ein verlorenes Wort, eine scheinheilige Metapher für Klarheit wäre, größte Erkenntnis läge. Es gibt keine Form der Erkenntnis, die ausschließlich in Licht erstrahlt, das ist bloß ein falsches Wort für Sicherheit. Dort wo Erkenntnis erfasst wird, wo sie mit Händen und all dem mehr begriffen wird, wo alle nicht sehen können und niemand mehr erblinden braucht, da ist ein Chaos für den Einäugigen. Dieser und Andere müssen ertragen, oder sie lernen direkt was es heißt ohne Augen zu erblinden. Diese Unruhe ist für dich dein Zuhause.“ Wir blieben vor einem kleinen Haus stehen, aus dem Licht und Geräusche drangen.
„Aber Ich sage dir: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Du bist aber schon der Stern und tanzt schon längst jenseits des Grundes, von dem alle zu schöpfen glauben.“ Er schweigt andächtig und blickt in den dunklen Himmel, bevor er erneut zu mir spricht: „Schwärze ist kein Abgrund, sondern Oberfläche von Fotos, die Handykameras im Vorbeigehen erzeugen. Fotos ohne Blitz, mit betrunkenem Auslöser. Bringe also diese Bilder und die Wärme und das Chaos zu den Menschen und lehre sie, zu erblinden, lehre sie, was du Gewohnheit und Wahrheit und Wellt nennst. Lehre sie wie viel Licht noch in der Welt ist.“

Dann brach der Rahmen, der dieses Bild zusammenhielt, und seine Scherben wird jeder neu sortieren müssen.

 

Fabian Korner
Geb.1996 im niedersächsischen Nordhorn, studierte zunächst Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte/Düsseldorf. Seit 2021 untersucht er den Zusammenhang zw. Kunst, Kunstvermittlung und Wissenstransfer. Als Erblindeter spürt er dem Tastsinn in der Gegenwartskunst nach, siehe: Columne „Unantastbar“/ Magazin Form, Magazin für Design. Setzt sich an der Goethe Uni für die Verbesserung der Studienbeding. chronisch Kranker und behinderter Studierenden ein. Als Kulturwissenschaftler und Inklusionsaktivist ist er seit 2022 in Frankfurt und Wiesbaden beteiligt an der Verbesserung der kulturellen Teilhabe Blinder und Sehbehinderter.
E-Mail: fabian.korner@hhu.de