LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Johanna Ess: Immer jeden Tag das Gleiche

Ich stehe auf dem Arlberg. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin, aber ich habe jemanden was von „Next Stop: St. Anton am Arlberg“ sagen hören. Ich glaube nicht, dass ich jemals dorthin wollte! Der Wind pfeift. Ich friere in meinem Parka. Ich breche fast unter dem schweren Gewicht meines Rucksacks zusammen. Ich stelle ihn auf der Piste ab, nehme das Wichtigste, meine Geldtasche mit dem Klimaticket, mein Handy, meine Kopfhörer, den Collegeblock mit den Notizen, in die Hand. Im Rucksack zurück lasse ich eine dicke, nagelneue Ausgabe von „Verbrechen und Strafe“. Es ist bewundernswert, wenn man das, was man sich vornimmt, tatsächlich in die Tat umsetzt, selbst wenn’s ein Mord ist! Taten, nicht Worte, sagten schon die Suffragetten. Nun, das stimmt nicht ganz, in „Orlando“ heißt es, Shakespeares Sonette hätten mehr für die Menschheit getan als jeder Wohltäter oder so ähnlich (in der Renaissance konnten sicher viele nicht lesen, Virginia Woolf, aber bitte!), doch Worte in deinem Kopf, die du nicht aussprichst, Sätze, Bücher, die niemand liest, bleiben Buchstaben. Erfahrungen werden zu Erlebnissen, wenn man sie mit jemandem teilt. Dinge werden erst durch Sprache real, durch Begriffe, durch Bezeichnungen. Menschen sind Gefangene des Systems, das sie sich selbst geschaffen haben!

Eine rotgesichtige Frau in kariertem Hemd und Skihosen, die mit Berliner Akzent spricht, trampelt mir mit ihrem Skischuh auf dem Fuß. Sie sieht durch mich hindurch wie durch ein unsichtbares Hindernis. Diese blöde Bitch: Ich bin kein Gegenstand, ich bin ein Mensch! Mir wäre danach, sie anzuschreien, doch ich verziehe keine Miene, zucke nicht einmal zusammen. Ich bin eine Hülle, eine lebende Tote. Als lebende Tote kann man auch geradeaus auf der Straße laufen, auf sein Ziel zusteuern, das andere für einen definiert haben, aber man geht vorbei an den vielen Häusern mit Türen, von denen nicht jede geschlossen ist. Auf der Straße findet das Leben nicht statt, sondern in den Häusern. Vielleicht geht es nicht um das Ziel, denn, egal, in welche Häuser man geht, egal, wo man abbiegt, welche Abkürzungen man nimmt, in wie viele Wände man einschießt: Das Leben steuert auf den Tod zu, was auch immer das bedeutet. Das Ziel ist der Weg, ist das Leben. Existieren ist nicht Leben und die Vergangenheit ist Gegenwart, solange die Gegenwart so bleibt, wie sie ist, die Zukunft lediglich der Traum eines Paradieses, eine Täuschung, eine Fata Morgana in der Wüste.

Ich stehe auf dem Arlberg im Gras, auf einem Schneefleckchen, und ich bin froh, dass ich es bis dorthin geschafft habe, auch wenn ich nicht weiß, wie. Ich folge den anderen in die Seilbahn in der Form eines schmelzenden Eiswürfels, die so kurz anhält, dass ich es fast nicht mehr hineingeschafft hätte. Die gläserne Tür blinkt grün und schließt sich wieder. Ich kann mich nicht mehr an die Fahrt erinnern. Ich glaube, ich habe Musik gehört. Nicht Adele: Sie ist nur noch ein Relikt aus meiner Jugendzeit, in der ich noch verkettet mit den Geschehnissen da draußen, dem Jetzt in der realen Welt war und sieht mittlerweile aus wie eine reiche Amerikanerin.
Nicht Etta James. Kein Jazz in einer Skiseilbahn! Nicht Dusty Springfield, die traurige Lady mit der traurigen Stimme: In prekären Situationen denke ich mir, dass sie möglicherweise Pech bringt, dabei ist das Leben eine prekäre Situation. Nicht Bonnie Raitt. Zu viel E-Gitarre so spät in der Nacht. Ich möchte nicht zu aufgedreht werden, um diese Uhrzeit! Ich glaube, ich habe Laura Nyro gehört. Im Winter höre ich oft Laura Nyro, sonst nicht. Ich kapiere ihre Texte nicht, deshalb müssen sie gut sein. Ich bin ein Embryo im Mutterleib. Ich sitze in eine Decke eingekuschelt vor einem Feuer, über dem ich meine Hände wärme. Ich liege im warmen Wasser einer Höhle, die in einen Fluss mündet. Ich lasse mich von dem Fluss mittragen. Ich träume.

Die Seilbahn hebt, als sie schon fast unten angekommen ist, auf einmal vom Boden ab. Ich wundere mich ein wenig darüber, doch außer mir scheint das niemand zu tun. Ich nehme die Kopfhörer aus den Ohren. „War das geil beim Skifahren, ich bin voll besoffen“, sagt die Berlinerin, die wohl leider in derselben Seilbahn gelandet ist wie ich. Pech gehabt. Ich steige aus. An meiner Schuhsohle klebt mit Dreck vermischter Schnee, der noch nicht verschmolzen ist, so schnell ging das alles. Ich habe das Gefühl, mich im antiken Rom zu befinden. Der Boden, auf  dem ich stehe, die Häuser, alles um mich ist von diesem sandfarbenen Ton wie in einer Wüste und sieht ruinenhaft aus. Der Himmel ist grau wie eine Decke aus Metall, die Wolken wuschelig grau wie Staubfussel, die Menschenmasse um mich wie eine Gittertür aus Metall. „Das ist nicht Rankweil“, murmle ich.

„Gestern wurde alles umgebaut“, erklärt mir eine ältere, grau gelockte Frau in gelber Toga fröhlich. „Gefällt es dir nicht?“ Doch, doch.“ Was sollte ich auch sonst darauf antworten, ich habe ja keinen Einfluss darauf, wenn etwas umgebaut wird.

Wie komme ich nach Hause, frage ich mich, komplett verwirrt. Ich atme tief durch. Alles wird gut, auch wenn Rankweil auf einmal aussieht wie das Forum Romanum, auch wenn es mich aufregt, dass mich jeder blöd anstarrt, weil ich keine Toga anhabe, sondern einen grauen Pullover und schwarze Jeans.

Ich steige in den falschen Bus, aber mir fällt es erst bei der Endstation auf. Niemand hat mich darauf hingewiesen. Wie auch? Ich gehe durch eine Welt von lauter Fremden. Es dämmert. Die Stadt ist unheimlich am Abend. Ich habe immer noch Laura Nyro eingeschaltet. Nur noch einzelne Wortfetzen dringen zu mir durch: „The devil is hungry…The devil is sweet…Rugs and drapes and rugs…And the night comes… Through Silver tears…“ Überall sieht man Dinge, die man nicht sehen möchte. Eine Frau bittet mich verzweifelt um etwas. Ich habe Kopfhörer im Ohr, ignoriere sie und gehe weiter. Wäre ich bloß unsichtbar, wäre die Realität so, dass ich zu mir zurückkehren könnte. Mich widert diese Frau an, mich widert meine Musik an, mich widern alle Bücher, Serien, sogar meine eigenen Geschichten an. Ich möchte nach Hause, zurück zu der Person, die ich niemals war, denn als alles noch normal war, war ich noch ein Kind. Es stinkt nach Abgasen, sie vermischen sich mit dem Nebel, der sich wie eine tiefgraue Decke aus Watte über die Stadt gelegt hat. Wann werde ich endlich nach Hause kommen? Es ist dunkel. Ich friere. Ich rufe meine Mutter an. „Ich bin in den falschen Bus gestiegen.“
„Ich weiß nicht, was du tun sollst. Das musst du selbst wissen“, sagt meine Mutter.
Ich lege auf und stelle mich zwischen zwei harmlose Schulmädchen in Regenjacken. Sie mustern mich kritisch, fast verächtlich, obwohl ich älter bin. Die eine chattet mit jemandem, die andere schaut Videos an. Sie sind vorhin beide zusammen aus dem Schulgebäude gegenüber der Straße gekommen, sie müssen sich kennen, wieso reden sie nicht miteinander. Niemand redet mehr miteinander, alle leben nebeneinander.

Der Himmel ist schwarzblau wie Tinte. Der Bus, in den ich gestiegen bin, ist aufgebaut wie ein Kino. Die Leute hinten sitzen am höchsten, die Leute vorne am niedrigsten, die Sitze sind aus mitternachtsblauem Samt, auf der Leinwand rauscht das Meer. Ich setze mich in die letzte Reihe. Der Kronleuchter auf der Decke spendet ein warmes, gelbes Licht. In der ersten Reihe sitzt Laura Nyro. Ihre dunklen Haare verdecken ihr Gesicht fast gänzlich, sie trägt Kopfhörer und kritzelt etwas in ihr Notizbuch. Auf der Kinoleinwand hört plötzlich das Meeresrauschen auf. Aus der Leinwand kommt schwarzer Rauch, wird zu einem riesigen seidenen Tuch, das über die Köpfe der Leute auf die Sitzreihen fällt, von dem wir alle umhüllt, eingewickelt, gefangen werden wie von einem Spinnennetz. Niemand gibt einen Laut von sich, niemand schaut auch nur von seinem Handy auf. Der junge Deutsche neben mir, der beim Hineingehen von jemandem Johann-Wolfgang genannt wurde, scrollt weiter auf Tinder Frauenprofile durch. Laura Nyro in der ersten Reihe, die schon nach wenigen Sekunden ihr Notizbuch weggelegt hat, schießt Selfies von sich, umhüllt von dem schwarzen, seidenen Tuch, wie ich auch aus dieser Entfernung sehen kann. Ich hoffe, dass ich nun endlich, endlich aus diesem Albtraum aufwachen werde! Ein Zischen hallt durch den ganzen Raum. Aus der Leinwand schlängelt sich etwas Blaues mit stechenden kühlen Augen, es schlängelt in meine Richtung und niemand außer mir scheint es wahrzunehmen. Ich schließe die Augen, wie sollte ich auch wegrennen, in diesem Bus mit geschlossenen Türen. Es hat tausend Arme, von denen mich zwei an den Schultern rütteln: „Wach auf! Wach auf! Du musst wieder zurück in die Realität! Wach verdammt noch mal auf!“ „Und was soll ich in der Realität?“, sage ich. „Ich muss weitermachen, ich muss mich an einer Illusion wegklammern, um weitermachen zu können, aber ich will das nicht mehr! Mach endlich etwas! Jahr für Jahr vergeht!“ „Ich habe dir mal geholfen, dass du die Matura geschafft hast“, verteidigt sich das komische Wesen. „Es geht im Leben doch nicht nur um die scheiß Matura“, sage ich, da ist das Wesen schon verschwunden, der schwarze Schleier über den Köpfen von mir und den anderen löst sich in schwarzen Rauch auf.

Auf der Leinwand erscheint Sheldon Coopers Meemaw, die an einem Tisch mit Fleabag, Mrs. Maisel, Otis Milburn und Dusty Springfield sitzt. Dusty Springfield schwebt wie ein Geist in elegantem, silbrigem Kleid aus der Leinwand. Niemand hebt den Kopf. Sie zieht ein Messer aus ihrer blonden Perücke und schlitzt einen Riss in die Leinwand. „Well, someone had to do it“, sagt sie leise mit einem Lächeln.
Meemaw beißt auf der Leinwand in einen Keks und fragt, ob ihr jemand ein Bier aus dem Kühlschrank holen könne. „Wake up“, singt Dusty Springfield und klatscht in die Hände. „Get off my ass, I‘m hungover!“, fährt Meemaw sie an. „Just go fuck someone and everything’s gonna be fine.“ Fleabag schaut provokant in die Runde. „Maybe you two should talk to someone“, meint Otis. Mrs. Maisel lacht hysterisch auf. Dann wird alles schwarz, Dusty Springfield zerfällt zu einem Haufen silbernen Staub, und ein Geräusch wie ein Heulen ertönt. Alle Leute heulen augenblicklich auf. Das Zelt, das ihnen Schutz bietet, ist zusammengebrochen.

An der nächsten Haltestelle steigt ein Mädchen aus meiner Schulzeit zu. Sie setzt sich schnell ans andere Ende des Buses. Ich hoffe, dass sie mich nicht sieht, sie hofft, dass ich sie nicht sehe. Der Bus fährt an meiner Haltestelle vorbei, egal, wie oft ich den Stoppknopf drücke, er hält nicht an, die Rahmen der Türen blinken nur rot, er hält erst bei der nächsten Haltestelle an. „Next stop: Rankweil Marktplatz“, tönt eine Computerstimme aus dem Nichts. Ich steige seufzend aus und alles beginnt von Neuem.

 

Johanna (Hanna) Ess
Geb.2002, am BG Schillerstraße 2021 maturiert. Seit Oktober 2022 Studium der Komparatistik an der Universität Innsbruck.
Den bisher unveröffentlichten Unterhaltungsroman „How to survive family“ habe ich 2021 fertiggestellt. Die Kurzgeschichte „Immer jeden Tag das Gleiche“ über einen Albtraum, wurde von mir im Jänner 2023 verfasst.
E-Mail: jojo.ess@gmx.at