LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Kayleigh Kranemann: Liegen lieben

Das Handy klingelt, doch niemand geht ran.

Die warme Frühlingssonne scheint voller Versprechen durch das Fenster auf den Dielenfußboden der Altbauwohnung.

Ihre Hand hängt so knapp über dem Boden, dass sie nur den kleinen Finger anzuspannen bräuchte, um das kalte Holz zu spüren. Ihr Arm ragt aus dem Bett hervor. Das Bett besteht aus einer, ein bisschen zu weichen Matratze, die auf dem Boden liegt. Unter der dicken Daunenbettdecke liegt sie und liegt. Sie macht nichts anderes. Sie liegt.

Das Handy klingelt immer noch, sie wünscht, es würde aufhören. Sie spannt den kleinen Finger an und spürt das kalte Holz des Fußbodens auf ihrer Haut. Ihr Körper ist grundsätzlich warm,
warm wie der Frühling dieses Jahr. Wie auch nicht, unter der Daunenbettdecke, bezogen mit der weißen Baumwollbettwäsche, durchzogen von Sicherheits- und Versagensgefühlen.

Sie öffnet die Augen und schaut sich so weit um, wie es ihr gelingt, ohne sich zu bewegen: ihr WG-Zimmer ist zu groß für den Preis, den sie bezahlt. Sie weiß, dass sie Glück hat und dass sie etwas daraus machen sollte. Doch wer weiß schon, wie lange sie da überhaupt wohnt und ob sich das dann lohnt. Sie sieht: Die weißen Wände, ein Poster von einem Film, den sie mal mochte, ein halbleeres Bücherregal, zwei Zimmerpflanzen, die auch schon bessere Tage gesehen haben, eine Tür, die sie von der Außenwelt und die Außenwelt von ihr trennt, eine halbleere Wasserflasche, das mittlerweile leise Handy und davor ihre Hand, dessen kleiner Finger jetzt wieder in der Luft hängt.

Sie atmet ein. Sie atmet aus. Sie bemerkt, dass sie stinkt. Sie probiert mehr zu bewegen, als den kleinen Finger, doch es klappt nicht.

Sie weiß, dass sie duschen müsste. Sie weiß, dass sie etwas essen müsste. Sie weiß, dass sie das Haus verlassen sollte, vorzugsweise, um der Uni einen Besuch abzustatten. Sie atmet.  Sie schaut zu dem Poster. Früher hat sie gerne Filme geschaut. Alte, Neue, Gute, Schlechte, Lustige, Gruselige, Populäre und Unbekannte. Sie mochte sie alle. Heute macht sie allein bei dem Gedanken, sich 120 Minuten auf einen Bildschirm zu konzentrieren, einen Mittagsschlaf.

Sie weiß nicht, wann die Liebe zum Liegen begonnen hat. Irgendwann zwischen ihrer Geburt und jetzt. Sie war schon immer eine nervöse Person, die die Stille bevorzugte. Mit den Jahren hat sie immer wieder probiert, jemand anderes zu sein. Die da oben gaben ihr vor, was zu tun ist, um Spaß zu haben. Aus Druck von oben probierte sie: Leichtathletik, Judo, Hip-Hop und Jazz Dance. Sie trat einem Buchclub bei, ging am Wochenende und in der Woche in Clubs, hatte bedeutungslosen und bedeutungsvollen Sex und ging mit Bekannten in überteuerte Cafés.
An manchen Tagen gefielen ihr die Aktivitäten, an anderen Tagen nicht. An manchen Tagen war sie der Mensch, der diese Dinge macht und liebt, an anderen Tagen nicht. Die Lieben ihres Alltags kamen und gingen, was blieb, ist das Liegen. Alles, was sie jetzt noch hat, ist die Freiheit zu liegen. Sie hat gelernt, liegen zu lieben.

Das Handy klingelt schon wieder. Sie atmet tief ein. Sie atmet tief aus. Sie streckt den Arm, spürt das kalte Dielenholz und erreicht das Handy. Sie geht dran.

„Hey mein Schatz, wie geht’s? Was machst du? Warum bist du nicht drangegangen? Ach bestimmt in der Uni, ne? Ich weiß noch meine Uni Zeit, die beste Zeit meines Lebens...“

Sie schießt die Augen. Die beste Zeit ihres Lebens. So oder so ähnlich fühlt sich ihr Leben momentan an. Sie sagt nichts.

„Ja. Schwesterlein, ich wollte dich eigentlich fragen, ob du heute auf die beiden Zwerge aufpassen könntest. Aber bist wahrscheinlich beschäftigt, ne? Sonst wärst du ja drangegangen. Hast ja besseres zu tun, ne? Ach, dir steht die Welt ja noch offen. Ich sag dir, bekomm keine Kinder. Dann hast du keine Freizeit mehr.“

Nichts liegt ihr ferner, als Kinder zu bekommen. Sie sagt nicht, dass sie seit Tagen nicht aus dem Bett aufgestanden ist. Sie erzählt nicht, dass sie nie Freizeit genießt, sondern liegt. Sie redet nicht davon, dass sie seit Wochen denselben Tag erlebt, erneut und erneut und sie einfach nur noch liegt.

Ihre Schwester hat keine Freizeit mehr. Seitdem ihre Schwester Kinder hat, ist sie nicht mehr frei in dem, was sie tut. Ihre Schwester, der Freigeist, der ‚free spirit‘, wie sie sich selbst nannte, die immer spontan war, gute Noten bekam, mit allen möglichen Menschen Sex hatte und mit Wein und Pasta mit Freund:innen philosophierte. Ihre Schwester ist nicht mehr frei. Jetzt hat sie Verantwortung.

Sie spürt, wie sie müde wird. Sie schließt die Augen. Ohne zu schauen, legt sie auf. Sie sperrt das Handy, und dreht sich zur anderen Seite. Sie ist frei.

Wie kann sie auch nicht frei sein, sie hat ja alles. Sie hat einen Studienplatz, in einem Fach, in dem sie mal gut war. Sie hat eine ‚free spirit‘ Schwester, die sie mag. Sie hat Geld auf dem Konto, mit dem sie Dinge für sich und für andere spendieren kann. Sie hat ein Fahrrad, mit dem sie überall hinfahren kann. Sie hat einen Pass, mit dem sie in 191 Länder spontan einreisen kann. Sie hat Sehkraft zum Umschauen und Hörkraft zum Zuhören und Geruchssinn zum Riechen und einen Körper zum Spüren.

Doch außer der Wärme unter der dicken Daunenbettdecke und der Kälte des Dielenfußbodens und der Leichtigkeit der Sonnenstrahlen und der Schwere der Welt spürt sie nichts.

Was ist die Freiheit, alles machen zu können, wenn sie nichts spürt? Ist sie dann frei?

Sie scheint gefangen in einem großen WG-Zimmer, auf einer weichen Matratze, unter einer dicken Daunenbettdecke mit weißer Baumwollbettwäsche, in ihrem kleinen Körper, in ihrem noch kleineren Kopf.

Die Welt steht ihr nicht offen, solange ihr Kopf sie nicht gehen lässt. Sie ist nicht frei. Sie liegt.

 

Kayleigh Kranemann
Geb. 2001 und wuchs in einer kleinen Stadt tief im Ruhrgebiet auf, zwischen Wänden voller Bücher und mit einem Kopf voller Ideen. Nach ihrem Abitur 2019 verbrachte sie ein Jahr in Neuseeland, wo sie als Au Pair die Pandemie überstand. Momentan studiert sie Anglistik und Theaterwissenschaften in Bochum und verbringt ihre Freizeit, zwischen mittlerweile volleren Bücherregalen, leidenschaftlich mit Nachdenken, Lesen und Schreiben.