LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Laura Hybner: Ein anderes Leben

Alles, was blieb, von dem Leben, das ihn an diesem Morgen, noch dazu an einem Montag, verlassen hatte, waren die ausgedrückten Zigarettenstummel, an denen ihr dunkelroter Lippenstift haftete, in dem Aschenbecher in der Küche. Er starrte darauf, bis die Konturen des Aschenbechers mit jenen des Tisches verschwommen waren und er sich kurz einbildete, dass ihre Hand noch neben dem Aschenbecher lag. Um ihr schmales Handgelenk lag eine schlichte Armbanduhr. Sie hatte sie vor langer Zeit gekauft, an der Côte d’Azur, im Sommer nach ihrem Kennenlernen, als er gerade einen Lehrauftrag an der dortigen Universität angenommen hatte, aber das war lange gewesen, bevor sie in diese Wohnung eingezogen waren, bevor er hier alt geworden war, so lange, dass es sich beinahe schon nach einem anderen Leben anfühlte. Er blinzelte ein paar Mal kräftig und das Trugbild der Hand wurde unschärfer, verblasste schließlich.

Er blickte ruckartig auf, doch der Platz ihm gegenüber war leer. Der Aschenbecher war ungewöhnlich voll. Sie hatte ihn nicht ausgeleert, eine ganze Weile lang. Eigentlich hätten sie wie jeden Morgen gemeinsam eine Tasse Kaffee getrunken, bevor sie mit dem Rad zur Arbeit gefahren wäre, ihre schwere lederne Tasche im Fahrradkorb, und er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hätte und an seinen Büchern geschrieben hätte. Aber an diesem Tag nicht. An diesem Morgen war etwas anders, das spürte er, seit er aufgewacht war, in einem leeren, kalten Schlafzimmer.

Er betrachtete ein paar Sekunden lang das Fenster und die Regentropfen, die in einzelnen Bächen daran herunter rannen. Ein scheußliches Wetter, er hasste Regen. Die Orchidee, die sie letzte Woche auf das Fensterbrett gestellt hatte, ließ ebenfalls ihren Kopf hängen. Er wusste natürlich, dass sie das in Wirklichkeit nicht tat, denn eine Blume konnte gar nicht traurig sein, aber bei dem Gedanken fühlte er sich nicht mehr so einsam. Als wäre da noch jemand in der Küche, der die aufkeimende Nervosität mit ihm teilte – nicht nur eine Stimme in seinem Unterbewusstsein, die an ihm nagte, die ihm die Angst des Verlassenwerdens nur zu deutlich vorhielt. Schließlich verließ er die Küche, ging ins Schlafzimmer, schüttelte das Bett auf, vielleicht in der Hoffnung, dass sie ihren Wecker nicht gehört hatte und noch immer eingerollt in ihre Decke im Bett lag. Er zog die Vorhänge zu, denn das grässliche, triefende Wetter schien nur höhnend auf ihn herabzublicken, bevor er alle Schranktüren einmal öffnete, in der absurden Meinung sie würde sich hinter einem der vielen Kleidungsstücke verstecken, doch er sah nur nie Getragenes und Abgetragenes, Schönes, Teures, Vergessenes, Lieblingsstücke. Der Mantel aus Kaschmir, eine Dienstreise nach Marokko.

Dann ging er weiter ins Bad, atmete die noch feuchte Luft seiner morgendlichen Dusche ein, die von dem Geruch ihres Parfums überlagert wurde. Ihre Schminksachen standen genauso ordentlich im Regal wie an jedem anderen Tag auch. Überhaupt war nichts anders als an jedem anderen Montag auch. Es war ein gewöhnlicher Tag in seinem gewöhnlichen Leben in der Stadt, weit weg von seinen vergangenen Lehraufträgen, wie er damals beschlossen hatte, der perfekte Ort, um sich niederzulassen. Zur Ruhe zu kommen.

Nur war an jenem Morgen nichts wie immer. Sie fehlte.

Er suchte sie in jedem Winkel der Wohnung, in der Abstellkammer, im Flur, sogar in seinem Arbeitszimmer, obwohl sie dieses nur äußerst ungern betreten hatte. Dann hatte sie seine Schreibmaschine abgestaubt, die Bücher im Regal zurechtgerückt, sogar alphabetisch sortiert. Sie hatte die verwelkten Blumen weggeworfen und an deren Stelle neue gestellt und immerzu den Kopf geschüttelt, sich gefragt, was so schwer daran war, diesen kostbaren Pflanzen einmal in der Woche Wasser zu geben. Aber er tat es nicht und sie fragte sich, wie er je Kinder würde großziehen können. Ich bin doch viel zu alt für Kinder, hatte er gedacht.

Er konnte sie nicht finden, ihr Verschwinden beunruhigte ihn, obwohl er sich inzwischen fast sicher war, dass ihr nur wieder einmal langweilig geworden war, sie ihm nur einen Streich spielen wollte. Er fand dieses Spiel lächerlich, aber er wusste, sie könnte daran durchaus Gefallen gefunden haben. Schon einmal war sie gegangen – in Bristol war es ihr zu düster gewesen – die Universität aber zahlte für drei Monate überaus gut. Aber jetzt, in seinem Alter, wo sein Herz zu stolpern begann und sich seine Knochen nicht mehr nur morgens nach dem Aufstehen steif anfühlten, konnte sie doch nicht einfach verschwinden.

Schließlich verschloss er die Wohnungstür und stieg die Treppen hinab. Er sah im Briefkasten nach, schüttelte dann den Kopf über diesen Einfall und öffnete die schwere hölzerne Eingangstür, hielt den Knauf für ein paar Sekunden in der Hand. Er ging die Straße hinunter, vorbei an der Kneipe, in der sie oft abends mit ihren Freunden ein Glas Rotwein getrunken hatten, vorbei an dem Blumengeschäft, in dem er ihr jedes Jahr zu ihrem Geburtstag einen Strauß Rosen kaufte, vorbei an dem kleinen Laden, in dem sie jeden Tag nach der Arbeit einkaufen ging. Es fühlte sich an, als wäre dieses Leben seit heute Morgen schon eine Ewigkeit her.

Langsam ließ er die Routine hinter sich, durchquerte in exakt bemessenen Schritten die Altstadt, in der sich hier um die Mittagszeit alles tummelte und bog dann in den Stadtpark ein. Hier war es bedeutend leiser, eine Mutter mit Kinderwagen überholte ihn im Laufschritt, die Penner lagen auf den gleichen Bänken wie das letzte Mal und die Male davor, als er hier gewesen war. Nur ab und zu tippte er sich verhalten an den Hut, um eine vorbeihuschende Person zu grüßen. An eben diesem Montag konnte er sie aber auch nicht im Park finden. Er ging bis ans andere Ende der Stadt, an großen, neuen Wohnbauten mit Spielplätzen und teuren Autos davor, an der Fabrik mit den hohen Schornsteinen vorbei, vorbei bis zum Bahnhof, der draußen vor dem Stadttor lag. Er schritt sogar den Bahnsteig ab, obwohl er schon von weitem gesehen hatte, dass sie dort nicht war. Er fragte den Mann am Ticketschalter nach ihr, doch dieser schüttelte nur den Kopf.

Erst als er sie in der ganzen Stadt gesucht und nicht gefunden hatte, machte er sich auf den Weg nach Hause, setzte sich in das Schaufenster der Kneipe gegenüber von dem Haus hinter dessen Fenster im 3. Stock sich seine Wohnung verbarg, die er nach seinem letzten Lehrauftrag in Griechenland bezogen hatte. Sehnsüchtig blickte er hinauf und wünschte sich, dass dort das Licht anging, doch hinter den Vorhängen blieb alles dunkel. Das Bier lief seinen ausgetrockneten Rachen hinunter, es schmeckte gut, er hatte schon lange keinen Alkohol mehr getrunken. Er bestellte sich ein zweites und als er dieses ausgetrunken hatte auch noch ein drittes. Währenddessen wollte er nichts mehr, als dass sie zur Tür hereinkam, ihre Locken zerzaust vom Wind. Sie würde ihren blauen Mantel tragen und ihre Lippen würden genauso dunkelrot sein wie immer, sie würde wieder da sein. Als hätte es diesen Tag, diesen Montag, dieses andere Leben nie gegeben.

Noch graute es ihm vor dem Gedanken wieder allein zu sein, dass dieses Kapitel seines Lebens nun ein Ende finden würde. Das Kapitel, das in Nazaré in Portugal begonnen hatte, über das Cap der guten Hoffnung, bis sie schließlich hier gestrandet waren. Er war zu alt geworden, um alle paar Jahre umzuziehen. Hatte sich einen Ort gesucht, um alt zu werden.

Nach seinem dritten Bier stellte er nüchtern fest, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde. Er zahlte und überquerte die Straße, brauchte lange, bis er die Treppe hoch gegangen war. Er war alt geworden. Er knipste das Licht in der Küche an, starrte den Aschenbecher an, leerte ihn dann aus und ging schlafen. Alles, was blieb.

 

Laura Hybner
21 Jahre, aufgewachsen in Tirol, Poetry Slam Poetin, schreibt für die Bühne und Kurzgeschichten. Seit 2016 steht sie im In- und Ausland auf verschiedensten Bühnen. Studiert an der Hochschule Landshut Neue Medien und interkulturelle Kommunikation. Mitglied des Vereins Wortwerkler/OÖ, organisiert SprechAkt Poetry Slam und leitet den Online-Schreibclub Textschmarrn. Gedichtveröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften und in der in der Anthologie „20 000 Zeilen unter dem Meer“/Lektora Verlag. Sie möchte das Besondere im Allgmeinen finden und Möglichkeiten der Sprache zeigen. Arbeitet an ihrem ersten Roman.
laura.hybner@mailbox.org