LitArena XI / Etcetera 92 / Prosa / Sara Janisch: „Das Gästehaus”

Ausschnitt aus dem Manuskript

Prolog
Starr, eiskalt und leer sitze ich da. Ich höre Scherben in Zeitlupe auf den Boden fallen. Laut und deutlich gleiten sie immer weiter nach unten, bis ein heller Aufprall ihre Reise beendet. Ich sehe an mir hoch und merke, es ist mein Herz das gerade in diesem Moment zerbrochen ist. Wenn es eine Sache gibt, die unerträglicher nicht sein könnte, dann ist es zuzusehen, wie das eigene Herz in Milliarden Stücke zerbricht. Ohne etwas tun zu können. Machtlos. Ein Herz, so stark, dass es Leben erzeugt und doch so zerbrechlich wie Glas. Wie mutig man sein muss, es jemandem anzuvertrauen. Wie mutig man sein muss, es aus der eigenen Obhut zu entfernen. Wie mutig man sein muss. Wie töricht man sein muss. Mut und Torheit ist eine Kombination, die nicht aufzuhalten ist. Und weshalb? Der Liebe wegen. Liebe bringt dich dazu, dein Herz in fremde Hände zu legen.
Und bei einer falschen Bewegung wird es fallen gelassen. Die Hände, die dein Herz wärmend hielten, greifen nach etwas anderem und lassen es los. Dein Herz- zerbrochen. Deine Gedanken- nicht sammelbar. Deine Welt- verloren. Und mit dem Herz wirst auch du gleich mitgerissen. Und fällst immer tiefer, ohne stehen zu bleiben. Ohne irgendwo einen Halt zu finden.mOhne dich irgendwo festhalten zu wollen. Welch Phänomen, wortlos dazusitzen und gleichzeitig nicht zu wissen, wo unten und oben ist. Ohne Boden unter den Füßen. Ohne Orientierung.

Und nach einiger Zeit, wenn du realisierst, was passiert ist. Dir bewusst wird, was du gerade erlebst. Dann wachst du aus der Schockstarre auf. Und wie beim Aufwachen nach einem Albtraum, weiten sich deine Augen. Mit hunderten Fragen in deinem Kopf. Gedanken und Gefühle, die so laut schreien, dass du dir deine Ohren zuhältst, weil es für deinen Kopf zu viel ist. Du sie nicht hören möchtest. Genauso erwachst du. Der einzige Unterschied: diesmal erwachst du nicht aus einem Albtraum. Der Albtraum hat dich gerade erst geweckt.

Der Schmerz
Du drehst dich zu schnell um. Dein Ellbogen trifft die Ecke des Tisches. Ein Impuls, schnell wie ein Blitz, breitet sich in deinem Arm aus. Wie kleine Nadeln, die in deine Haut, dein Fleisch, deine Knochen einstechen.
Du läufst barfuß durch die Wohnung. Biegst einmal zu voreilig auf dem sonst so eingeprägtem Weg ab. Dein Zeh bleibt an der Türe hängen und ein Stich fährt durch deinen ganzen Körper. Du fluchst. Schmerzen, die dir einen Moment lang den Tag vermiesen. So nervenaufreibend und trotzdem so unbedeutend. Der Schmerz, welcher derzeit in mein Gästehaus eintritt, ist von anderer Natur. Nicht von kurzer Dauer. Nicht unbedeutend. Sondern schwer, lang und traurig. Wenn der Schmerz durch die Tür in mein Gästehaus kommt, dann senke ich langsam meinen Kopf und deute so eine Verbeugung an. So anmutig und erhaben tritt er auf. Er trägt einen schwarzen Zylinder, dessen Rand er jedes Mal bei der Begrüßung mit seiner linken Hand berührt, während er ebenfalls den Kopf senkt. Der Schmerz ist stumm. Er spricht nicht. Er hört nur zu. Er gesellt sich an jeden Tisch im Gästehaus. Saugt alles auf. Merkt sich jedes einzelne Wort. Im Hintergrund agiert er wie ein Spion. Gut getarnt in seinem schicken Gewand. Mit mysteriöser Miene und etwas bosartigen Augen, wirkt er trotzdem ruhig. Ich sehe ihm zu. Gehe ihm nach. Wenn er im Raum ist, suchen meine Augen oft nach ihm. Da. Dort steht er. Alleine am Tisch.
Soll ich es wagen und zu ihm gehen? Ich habe ein mulmiges Gefühl im Bauch, wenn ich daran denke, dem Schmerz gegenüber zu stehen. Und dennoch tragen mich meine Füße fast selbstständig zu ihm. Als würde ich mich selbst bestrafen wollen. Und während ich ihn auf Distanz schon den ganzen Tag beobachtet habe. Ihn wahrgenommen habe. Ihn ertragen habe. Wirkt es so, als würde ich mit jedem Schritt, mit dem ich mich nähere, in die Höhle des Löwen vortreten. Beute, die ihm gelegen kommt. So verletzlich. So wehrlos. Und ich hatte recht. Denn genau in diesem Moment, beim Tisch angekommen, sticht er zu. Wie ein Messer, dass ich zwischen meiner Brust spüre. Stechender Schmerz. Ich greife hin. Keine Wunde. Sehe den Schmerz an. Kein Messer in der Hand. Und plötzlich spüre ich einen weiteren Schmerz. In meinem Bauch. Diesmal wie ein kräftiger Schlag, der mich mitten im Magen getroffen hat. Ich beuge mich nach vorne. Mein Körper zieht sich zusammen, während ich zu Boden falle. Weit und breit keine Faust. Ich spüre Tritte in meine Nieren. Einen in meinem Gesicht. Doch der Schmerz steht ruhig neben mir. Bewegt sich nicht. Und dann kommt der Moment, der dieses Leiden von den zuvor beschriebenen unbedeutenden Schmerzen unterscheidet. Während ich hilflos am Boden liege, spüre ich, wie eine Hand durch meine Brust greift. Mein Herz packt und es rausreißt. Mein Körper bleib zurück. Ich werde liegen gelassen. Allein. Und plötzlich sind die unbeschreiblichen Schmerzen der Schläge nicht mehr im Vordergrund. Es ist die Dunkelheit, die sich im Loch in meiner Brust sammelt. Eine Kälte, die der Inbegriff von Herzschmerz ist. Und genau dieses Leiden, dieses Bedrücken beginnt mit jeder kleinen Ader durch meinen Körper zu rasen. Es verteilt sich. Frisst mich auf.
Der Schmerz, der neben mir stand, schaut auf mich herab. Er lässt mich liegen. Steigt über mich hinweg und geht. Ich höre nur noch die Tür aufgehen und wieder schließen. Ich setze mich kraftlos auf. Der Schmerz ist weg. Aber das Leiden bleibt. Denn er hat mein Herz mitgenommen. Vielleicht kann ich bei seinem nächsten Besuch danach fragen.

Alles tut weh
Eigentlich nichts so ganz
Denn Schmerz ist anders mit einem zerbrochenen Herz
Er ist Leere
Er ist Kälte
Er ist Wehmut
Und ich seh den Schmerz, wie er in seiner dunklen Ecke ruht
- ständiger Begleiter

Die Verdrängung
Das Wetter ist trüb, nebelig. Keine Sonne aber auch kein Regen. Nur ein weißer Schleier, der über die begrenzte Aussicht des Fensters auf dem gesamten Horizont zu sehen ist. Aber was dahinter ist und was verdeckt wird, ist nicht sichtbar. Ich frag mich, was das Wetter mir sagen will.
Und dann tritt die Verdrängung durch die Tür und durchbricht mein Tagträumen. Und plötzlich weiß ich es. Als hätte ich schon gespürt, wer eintreten wird. Als hätte ich mit ihr gerechnet. Schelmisch lächelt sie mich an. Und ich kann nicht anders als zu schmunzeln. So verführerisch.
So mitreißend. Dann hebt sie zweimal ihre Augenbraue und gibt mir, mit einem leichten Nicken Richtung Billiard Tisch, die Anweisung ihr zu folgen. Durch das getrübte Licht des weißen Schleiers von draußen, wird erst als ich der Verdrängung näher komme, das Piercing in ihrer Nase sichtbar. Die Art wie sie es trägt, während sie schmunzelt, unterstreicht ihre Coolness. Sie wirkt lässig, unbeschwert. Meine Gedanken schweifen ab. Mit ernster Miene, überlege ich, ob ich der Idee, mit der Verdrängung ein Billiardspiel zu spielen, zustimmen soll, oder nicht. "Wieso denn so ernst heute?", fragt sie mich. "Komm wir spielen eine Runde, dann weißt du gleich gar nicht mehr, was dich so ein Trübsal blasen lässt." In dem Moment, in dem ich mit meiner Antwort ansetzen wollte, sagen wollte, dass ich nicht spielen möchte, weil ich traurig bin, mich so viele Dinge beschäftigen. Genau in dem Moment hält sie ihre Ohren zu. Ich setze erneut an, doch sie tut es wieder. Sie will meine Antwort nicht hören.
Nach einigen wiederholten Ansätzen gebe ich auf. Und so beginne ich die erste Kugel zu stoßen. Die Verdrängung weiß genau, was sie zu sagen hat. Wie sie es zu sagen hat, um meine ernste Miene, meine Gedankengänge aufzulösen. Und jedes Mal, wenn ich etwas sagen möchte, um meine Gedanken zu erklären, da hält sie sich die Ohren zu. Und irgendwann tu ich es ihr gleich. Ich höre nur passiv wie die Türe hinter mir geöffnet wird. Die Sehnsucht tritt ein und die Einsamkeit. Während sie nach mir rufen, halte ich meine Ohren zu. Und die Verdrängung schielt, über den Billiardtisch gebeugt und fertig zum Stoß, zwischen ihren gestreckten Armen zu mir hoch. Stolz und mit einer gewissen Genugtuung. Ich habe es ihr gleichgetan. Während ich mit der Verdrängung jeden weiteren Gast, der eintritt, verdränge und nicht auf ihn achte, vergeht einige Zeit. Doch irgendwann ist auch unser Spiel vorbei. Die Verdrängung muss gehen und verabschiedet sich mit einem frechen nicken. Sie bedankt sich für das Spiel und dreht sich, ohne zu zögern, um. Fast als würde sie dann doch, von den im gesamten Haus wartenden Gästen, eingeschüchtert sein. Denn während sie mich abgelenkt hat. Mich meine Umgebung nicht wahrnehmen ließ, haben sich einige Gäste angesammelt. Und das Warten hat sie nicht sonderlich erfreut. Ich stehe ihnen gegenüber, versteinert und geschockt wie viele es sind. Mit überfordertem Blick und dem Gefühl eines Schlages in meinen Bauch, drehe ich mich weg von der Gästeschar. Ich atme ein, schließe die Augen, öffne sie wieder. Dann drehe ich mich erneut um.
Nicht bereit für das Durcheinanderschreien der vielen Gäste. Nicht bereit für ihre Anliegen. Ich gehe auf sie zu, mit dem Wissen, dass ich meine Aufmerksamkeit nun wieder ihnen schenken muss. Und mit langsamen aber doch überzeugten Schritten, bewege ich mich vorwärts. Mein Kopf neigt sich nach links, wo die Aussicht durch das Fenster nun nicht mehr mit einem weißen Schleier verhängt ist. Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, wütend auf die Verdrängung und ihre betrügerische Art meine Aufmerksamkeit zu stehlen. Und gleichzeitig kommt mir ein Schmunzeln über die Lippen. Das Spiel hab ich dennoch genossen.

Die Vögel vor meinem Fenster singen,
als würden sie ihn wecken wollen.
Ich stehe wach am Fenster
soll ich ihnen verraten, dass er weg ist?
Will ihnen nicht sagen, wie sehr ich ihn vermiss.
Viel lieber höre ich ihnen weiter zu.
Bleibt doch noch und singt für mich,
damit mein Herz ein wenig weniger sticht.
- wenn ich es nicht ausspreche, ist es vielleicht nicht wahr

 

Sara Janisch
Geb. in Wien, 24 J., verfasst soeben die Masterarbeit in Soziologie. Schreibt Essays und Gedichte. Im Gästehaus beschreibe ich Begegungen. Es ist meine Art und Weise, nach einem Beziehungsende, meinen Kopf ein wenig zu ordnen. Im Anhang befinden sich der Prolog, der Schmerz und die Verdrängung. Ich würde mich freuen, wenn ihr meinen Gedanken eure Zeit schenkt.
sarajanisch@gmail.com