Theaterwerkstatt im Landestheater Niederösterreich, Premiere 20.01.18:Die Flucht ohne Ende, Joseph Roth / Erstaufführung. Rez.: Erst Punz

Ernst Punz
Traurige Seele, großer Jubel

Die Flucht ohne Ende
Joseph Roth, Erstaufführung
Theaterwerkstatt im Landestheater Niederösterreich
Premiere 20.01.2018

Mit Tobias Artner, Josephine Bloéb, Stanislaus Dick und Michael Scherff
Text und Inszenierung Felix Hafner
Bühne und Kostüme Camilla Hägebarth
Musik und Sounddesign Bernhard Eder
Licht Karl Apfelbeck, Natalie Reisner
Dramaturgie Julia Engelmayer
Regieassistenz Victoria Halper
Soufflage Rosalie Melichar
Inspizienz Herbert Rehart

BÄNG! In den endlosen eiskalten sibirischen Wäldern knallt es. BÄNG! Trommelfellverletzend laut. BÄNG! Es hört nicht auf zu knallen. BÄNG! Was könnte das sein? BÄNG! Die berstenden Rinden von Bäumen, die der klirrenden Kälte nicht mehr standhalten? BÄNG! Die Schüsse von Soldaten im Ersten Weltkrieg? BÄNG! Beide Male falsch geraten. BÄNG! BÄNG! Es sind zuschlagende Deckel von unterschiedlich großen Kisten, die das wandelbare Bühnenbild bilden. BÄNG! BÄNG! BÄNG!

Die, die die Kistendeckeln auf- und zuschlagen sind vier Schauspieler. Einer von ihnen stellt Franz Tunda dar, den wider Willen dahintreibenden Weltreisenden. Die anderen drei sind viele: Erzähler, der Bärenjäger und Pelzhändler Baranowicz in der russischen Taiga, eine Prostituierte in einem Bordell, die Revolutionärin Natascha Alexandrowna bei den Rotgardisten, die stumm gewordene Alija in Baku am Kaspischen Meer, eine französische Delegation mit Mann, Ehefrau und Sekretär, Irene Hartmann in Wien, Klara und Georg in einer deutschen Stadt am Rhein und einige mehr.

Franz Tunda hat durch den Ersten Weltkrieg und den Zerfall der alten habsburgischen Monarchie seine Welt verloren und treibt zehn Jahre – von 1916 bis 1926 – durch diese hindurch. In der Theaterwerkstatt besteht die verlorene Welt des Franz Tunda aus Kisten. Die Beziehungen, durch die er zum Leben zurückkommen möchte, sind Kisten. Und die Türen, durch die er hindurchgeht sind auch Kisten. Zuweilen sitzt er auf den Kisten und hält Ausschau nach den Menschen und der Welt, die er verloren hat. Oben in seinem Kopf sieht er sie noch. Ein menschgewordener Overheadprojektor.

Die Reise geht langsam an, die Schauspieler haben anfangs mehr zu sprechen, als zu spielen. Langsam nimmt die Geschichte Fahrt auf – wie eine alte große schwere transsibirische Lokomotive, die von der Taiga über Moskau ans kaspische Meer und weiter von Wien über Deutschland nach Paris dampft, pfaucht und raucht. Mit dem französischen Flair kommt ein wenig Leichtigkeit des Seins ins Spiel. Verlangsamt und unterbrochen im traurig-trägen Wien, das im Schnapsrausch zu einer verfallenden Ruine herabgesungen wird: „Wean, Du bist a oide Frau“. Sehr zum Gaudium der Zuschauer. Es scheint, als ob Joseph Roth, Autor des Stücks, auch den Zuschauern in die Seele geblickt hat, als er schrieb: „In den Seelen mancher Menschen richtet die Trauer einen größeren Jubel an als die Freude.“

Aber auch in Paris kann man traurig sein. Der dort verstorbene Roth schrieb: „Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstand, die Füße sind wund, das Herz müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer. Der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig. Der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und das ist eben das trostlose.“

Besonders beeindruckend waren die Darstellungen von Josephine Bloéb, die eine russische Revolutionärin, eine junge stumme Frau, eine Wiener Heurigensängerin, eine biedere deutsche Ehefrau und eine Pariser Femme fatale gleichermaßen glaubhaft machte. Der Text des Stückes wurde von Regisseur Felix Hafner selbst dramatisiert, unterstützt von der Dramaturgin Julia Engelmayer und den Schauspielern, die sich gestaltend mit einbringen konnten. Die Streichungen und Hinzufügungen haben aus dem Roman ein für das Publikum gut aufnehmbares Stück gemacht, das der von Joseph Roth vorgegebenen Stimmung treu bleibt. Bühne und Kostüme wurden von Camilia Hägebarth in sparsamer und dennoch leicht verständlicher Weise gestaltet. Der Umbau der Schauplätze auf offener Bühne wurde von den Schauspielern selbst geleistet und war eine logistische Meisterleistung. Das Sounddesign von Bernhard Eder und das Licht von Karl Apfelbeck und Natalie Reisner erzeugte ebenfalls jene Stimmung, die von Joseph Roth vorgezeichnet wurde. Eine überaus gelungene Inszenierung, die vom Publikum mit langem Applaus und begeisterten Rufen bedacht wurde.

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